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Samstag, 20. Mai, 12:18
1 Tag und 22 Minuten nach Stunde null

Rot und Blau betreten den Waschraum gemeinsam, erleichtern sich in zwei benachbarten Abteilen, drücken die Spülung, kommen aus den Abteilen und waschen sich die Hände. Über den Waschbecken sind Spiegel angebracht.

Blau schaut in den Spiegel und sagt: »Können wir die Sturmhauben jetzt abnehmen?«

»Ja«, sagt Rot. »Inzwischen schon, glaube ich.«

Sie wechseln einen Blick. Dann hebt Rot den Rand der Mikrofaserhaube und zieht sie sich vom Kopf. Einen Augenblick lang erkennt er sein eigenes Gesicht nicht. So wie bei Spiderman, als der seine Maske abnimmt und darunter das Jungengesicht von Peter Parker zum Vorschein kommt.

Sein Gefährte tut dasselbe, fährt sich mit der Hand durch das lange blonde Haar, das sich platt an seinen Schädel gelegt hat.

Rot grinst. »Mach dir keine Sorgen, Blau. Du kannst dir ja nachher noch die Haare föhnen.«

»Pfff«, macht Blau. »Hör auf, mich so zu nennen, Ron. Ich will keinen Spitznamen, den sich ein Mafiaboss ausgedacht hat.«

»Aber du musst zugeben, dass sich ›Rot‹ und ›Blau‹ cool anhören«, meint Ron. »Außerdem sind es die Farben von unserem Fußballklub Bologna Calcio.«

»Bologna ist mir egal. Ich gucke nur Basketball, meine Mannschaft ist Virtus.«

Blau oder Enrico bewegt seine Hand vor dem Sensor des Waschbeckens hin und her und seift sich das Gesicht ein, um den Schweiß abzuwaschen. Er sieht nicht besonders gut aus. Abgesehen von der geschwollenen Unterlippe und den blauen Flecken am Kiefer, eine Erinnerung an seine Festnahme durch die Erste und die Zweite Wache, ist er wachsbleich mit fast grauen Lippen. Er sieht wie ein Zombie aus. Aber auch Rot ist nicht gut in Form. Die letzten zwei Tage waren die anstrengendsten seines bisherigen Lebens.

»Gehen wir?«, fragt er.

»Warte, ich trockne mich noch ab. Jetzt können wir los.«

Draußen vor der Tür wartet die Erste Wache mit umgehängtem Maschinengewehr auf sie. Er schaut sie an, ohne darauf hinzuweisen, dass sie ihre Sturmhauben abgenommen haben. Auch er scheint zu denken, dass es jetzt nicht mehr wichtig ist.

»Wohin geht’s denn?«, fragt Ron und versucht, heiter zu klingen. Er ist todmüde und hat das Bedürfnis, seine Anspannung loszuwerden.

Die Erste Wache geht los. Der Befehl hatte gelautet, dem Soldaten zu folgen, also laufen sie hinter ihm her. Nachdem sie durch ein Labyrinth von Gängen gewandert sind, stehen sie vor einer Tür, die sich von selbst öffnet. Die Erste Wache bedeutet ihnen, den Raum zu betreten, eine ähnliche Zelle wie die, in der Ron in der Nacht von der Kommandantin verhört wurde. Nur dass dieses Mal nicht er auf einen Stuhl gefesselt ist und eine schwarze Kapuze tragen muss, sondern Major Coleman.

Anwesend ist auch die Kommandantin, sie hat bereits auf die beiden Jungen gewartet. Ohne ein Wort zu sagen, geht sie zu Coleman und zieht ihm die Kapuze vom Kopf.

Der Major windet sich, kämpft gegen die Kette an, mit der er an dem Stuhl fixiert wurde. Er blinzelt, um seine Augen an das grelle Licht zu gewöhnen, das ihn blendet. Er sieht Rot und Blau und erkennt sie wieder.

»Ihr! Das kann nicht sein …«

»Warum denn nicht?« Die Kommandantin lächelt den Major freundlich an. »Es kann sogar sehr gut sein. Wenn ich mich nicht irre, habt ihr euch das letzte Mal vor weniger als vierundzwanzig Stunden gesehen, im Heizungskeller des Gymnasiums D’Arturo-Horn. Sofort danach haben sich diese beiden jungen Männer eigens auf den Weg gemacht, um dich ein weiteres Mal zu treffen. Stell dir vor, sie haben sogar einen Krankenwagen gestohlen. Von Bologna bis Prag sind es zehn Autostunden. Wenn man ab und zu Pause macht, dauert es sogar noch ein bisschen länger … Sie sind gegen Mitternacht hier angekommen. Als ich sie empfangen habe, stand Micaela unter Arrest und war des Hochverrats beschuldigt. Und du warst irgendwo hier, zusammen mit meiner Adjutantin. Um uns zu sabotieren.«

»Aber das kann doch nicht sein«, wiederholt der Major. »Wie haben sie die Basis gefunden? Die Sicherheitssysteme überwunden? Wie konnten sie durch halb Europa fahren, ohne von der Polizei angehalten zu werden … Ich wette, diese Jungs haben nicht einmal einen Führerschein. Wie war das möglich?«

Ron beugt sich vor, weil ein Teil von ihm darauf brennt, die ganze Geschichte zu erzählen und seinen Geniestreich zu erklären. Wie es ihm gelungen ist, eine Partie zu gewinnen, die von Anfang an verloren schien.

Ich bin erst sechzehn!, würde er gern herausschreien. Ich gehe noch aufs Gymnasium und vor zwei Tagen hatte ich von Bomben und Zeitreisen überhaupt keine Ahnung. Trotzdem habe ich es geschafft, dich zu überlisten.

Am liebsten würde er gleich loslegen, doch die Kommandantin hebt eine Hand und bedeutet ihm zu schweigen.

»Nein, Major«, sagt sie zu Coleman. »Wir schulden dir keinerlei Erklärung. Was passiert ist, wie es passiert ist und warum, das geht dich gar nichts an. Dafür will ich von dir wissen, warum du dich dazu entschieden hast, die Time Shifters zu verraten. Warum du bereit warst, deine Hände mit dem Blut unschuldiger Menschen zu beschmutzen.«

Der Major hat überraschend schnell sein Selbstbewusstsein wiedererlangt. »Ich brauche dir gar nichts zu sagen. Ich bin dir nicht unterstellt.«

Die Frau nickt. »Das weiß ich. Du bist nur dem Projekt Zukunft gegenüber loyal, nicht wahr?«

Der Mann verzieht das Gesicht. »Woher weißt du von dem Projekt?«

Die Kommandantin beginnt, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen im Raum auf und ab zu gehen. »Etliches haben diese beiden jungen Männer herausgefunden, mit etwas Hilfe von Jerry und von MARIE. Sie haben letzte Nacht daran gearbeitet, in der Zeit, in der du dich auf deinen vierten Einsatz vorbereitet hast. Ein paar weitere Details haben wir von ihr erfahren.«

Die Generalin legt eine Hand auf die Wand, die sich daraufhin in einen riesigen Bildschirm verwandelt. Auf diesem erscheint das Bild von Majorin Liz Weber.

Sie wurde in demselben Zimmer gefilmt, in dem sie sich jetzt befinden, festgebunden an einem Stuhl, mit einem blauen Auge und einer hässlichen Platzwunde an dem einen Wangenknochen.

»Das Projekt Zukunft«, gesteht die gefilmte Liz heiser und unter Tränen, »wurde letztes Jahr von General Robertson ins Leben gerufen, von der Basis in der Zeitzone GMT+8 aus, in den USA. Die Idee des Generals war … die Möglichkeiten des Computers MARIE nicht nur dafür zu nutzen, um die Vergangenheit zu analysieren, sondern um auch die Zukunft zu erkunden. Heutzutage reisen die Zeitagenten nur deshalb in die Vergangenheit, um große Tragödien zu verhindern … Dabei könnten wir sehr viel mehr bewirken. Durch unsere Missionen könnten wir Ereignisse beeinflussen … das Schicksal der Menschheit verändern.« Die gefilmte Liz hebt den Kopf. »Begreifen Sie, was das bedeutet? Es wäre möglich, die Wahl eines Diktators zu verhindern. Gerechtere Gesetze zu erlassen …«

Wieder berührt die Kommandantin die Wand, und das Video von Liz verschwindet.

Aufmerksam betrachtet Ron den Major. Es ist klar, dass er schwer getroffen ist, auch wenn er sich bemüht, sein Pokergesicht beizubehalten.

»In diesem Augenblick befindet sich General Robertson in Arrest«, erklärt die Kommandantin. »Die Zeitzonenbasis GMT+8 wurde für nicht operativ erklärt und alle ihr zur Verfügung stehenden Maschinen wurden vorläufig beschlagnahmt. Es ist mir eine Freude, dir mitzuteilen, dass das Projekt Zukunft offiziell für gescheitert erklärt worden ist.«

»Das könnt ihr nicht tun«, sagt der Major. »Das Projekt Zukunft ist eine Hoffnung für die gesamte Menschheit.«

»Darüber wird ein Militärgericht entscheiden. Was mich betrifft, so halte ich das Projekt Zukunft für eine Horrorvision. Zum ersten Mal in der Geschichte ermöglicht eine revolutionäre Technologie den Menschen, die eigenen Fehler auszubessern, bevor es zu spät dafür ist. Ihr dagegen wollt Erkenntnisse aus der Zukunft nutzen, um uns zu manipulieren, uns zu Sklaven zu machen. Aber das werden wir euch nicht gestatten.«

»Ein bisschen zu viel Theorie, Kommandantin«, sagt der Major grinsend.

»Im Gegenteil, sehr viel Praxis. Wie diese beiden Jungen gezeigt haben.« Sie macht eine Geste zu Ron und Enrico hin.

Wieder würde Ron so gern sprechen, alles erzählen, aber dazu wird er später noch Gelegenheit haben.

»Zurück zu uns«, fährt die Kommandantin fort. »Wie schon gesagt, haben diese beiden Jungen einiges entdeckt. Wir wissen von dem italienischen Kriminellen Giovanni Grande. Von der Nachricht, die er in dem Augenblick absenden wollte, in dem die Bombe explodiert ist. Hast du deswegen versucht, unsere Missionen zu sabotieren? Um Grande am Abschicken der Nachricht zu hindern?«

Der Major schweigt. Offensichtlich überlegt er, ob er reden soll oder nicht. Dann gibt er sich einen Ruck. Tatsächlich wissen sie mittlerweile schon sehr viel. Es macht keinen Unterschied mehr.

»Giovanni Grande ist ein Verbrecher«, sagt er. »Er hat Morde in Auftrag gegeben und illegalen Giftmüll und Drogen durch halb Europa befördert. Ein durch und durch schlechter Mensch.«

»Außerdem ist er sehr gut darin, seine Verbrechen zu verheimlichen«, ergänzt die Kommandantin. »Bis vor Kurzem wirkte er sauber. Die italienische Polizei konnte ihn schließlich wegen eines Verbrechens verhaften, das er vor sehr langer Zeit begangen hat. Dass das überhaupt möglich war, kann nur eines bedeuten: Grande muss der falschen Person auf die Füße getreten sein. Wollte ihn jemand loswerden?«

»Sie haben ihn reingelegt«, bestätigt Coleman. »Der Tipp an die Polizei kam von einem gewissen Diego aus der González-Familie. Venezolanische Drogendealer. Sehr mächtig. Grande hatte es nicht kommen sehen. Nach seiner Verhaftung hat er seine Leute darauf angesetzt herauszufinden, wem er die Auszeit auf Staatskosten zu verdanken hat … Vor ein paar Tagen haben sie den Schuldigen entdeckt und ihren Boss benachrichtigt. Grande war wegen eines Gesundheitsproblems in ein Krankenhaus eingeliefert worden und seine Leute haben es geschafft, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen.«

Weder die Kommandantin noch Enrico oder Ron sagen etwas darauf. Auch diesen Teil der Geschichte kennen sie bereits.

»Und dann?«, fragt die Generalin.

»Gestern Mittag, nach einer Fahrt im Krankenwagen, plante Grande, in einem unbeobachteten Moment das Handy zu nehmen und mit seinen Leuten zu kommunizieren. Wie er sich das Handy beschafft hat, wissen wir nicht, vermutlich hat er es einem Pfleger im Krankenwagen gestohlen. Tatsache jedenfalls ist, dass Grande den Befehl gegeben hätte, Diego zu töten. Daraufhin hätten die Gonzáles einen Vergeltungsschlag durchgeführt, was wiederum einen entsprechenden Angriff von Grandes Bande ausgelöst hätte, und immer so weiter. Eine Spirale der Gewalt. MARIE zufolge hätte dieser Mafiakrieg an die dreihundert Menschenleben gefordert und einige Monate später wäre die italienische Regierung infolge des aggressiven Bürgerprotests zusammengebrochen, was das Land in ein allgemeines Chaos gestürzt hätte.«

»Mit welcher Wahrscheinlichkeit?«, unterbricht ihn die Kommandantin.

»MARIE liefert niemals Gewissheit, nur Prognosen. Mir wurde gesagt, mit einer Wahrscheinlichkeit von zweiundsiebzig Prozent, aber im Grunde spielt das keine Rolle.« Der Major schaut die Kommandantin verächtlich an. »Ich befolge nur Befehle.«

»Den Satz habe ich schon mal gehört. Er ist die Ausrede all derer, die sich die Hände mit dem Blut Unschuldiger beflecken und dann behaupten, dazu gezwungen worden zu sein.«

Der Major spannt die Brustmuskeln an und Ron erkennt, was für ein furchterregender Mann er ist, sogar in gefesseltem Zustand.

»Meine Vorgesetzten vom Projekt Zukunft haben beschlossen, dass wir in Aktion treten müssen«, sagt Coleman. »MARIE zufolge bestand die beste Lösung darin, Grande zu töten, bevor er die fatale Nachricht abschicken kann. Die Tötung von Grande musste jedoch wie ein Unfall aussehen, damit seine Leute den Venezolanern nicht die Schuld an seinem Tod geben. Sonst hätten sie selbstständig beschließen können, aus Rache Diego zu ermorden.«

So war das also, überlegt Ron. Während Jerry MARIE nutzte, um Micaela zu helfen, nutzte Coleman denselben Computer, um Micaela zu bekämpfen. Und der Computer hat nicht gemeldet, was geschah, weil er nur eine Maschine ist. Er hat kein Herz. Aber auch Coleman hat keines, denkt Ron.

»In unserer Schule waren viele Menschen«, zischt er. »Unschuldige. Gab es denn keine andere Möglichkeit, das Problem zu lösen? Irgendeine andere?«

»Ich bin kein Analyst«, antwortet der Major. »Diese Frage könnten die Techniker beantworten oder meine Vorgesetzten. Ich erhalte Befehle, das ist alles. Den Sinn deiner Frage aber habe ich natürlich verstanden. Dieser Schwachkopf hier«, er zeigt auf Enrico, »hat eure Schule mit Sprengstoff vollgestopft. In der ursprünglichen Zeitlinie, also in der, in die weder ich noch Leutnant Falco eingreifen, wäre die Schule ohnehin in die Luft geflogen.«

Enrico stöhnt laut auf. »Das ist nicht wahr. Ich habe nie …«

»Du hast nie, weil Leutnant Falco dich daran gehindert hat. Deshalb musste ich dich ja wieder auf den richtigen Weg schicken. Ich habe nichts anderes getan, mein Junge, als dafür zu sorgen, dass die Dinge so liefen, wie sie sollten. Du bist derjenige, der für all das verantwortlich ist. Wie es der Zufall so wollte, ist deine Wahnsinnstat für einen guten Zweck genutzt worden. Du hast viele Unschuldige getötet. Ich habe die Welt vor einer Katastrophe bewahrt.«

Ron wartet darauf, dass Enrico etwas sagt, dass er protestiert.

Doch er steht nur still da, den erloschenen Blick auf den Fußboden gerichtet.

Ron legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm.«

Der Major verzieht das Gesicht. »Es ist sinnlos, ihn zu trösten. Ich sage nur die Wahrheit und das weiß er auch. Er ist für das verantwortlich, was in Bologna passiert ist. Die Bombe ist inzwischen explodiert, das Gymnasium ist eingestürzt. Ihr könnt mich gerne vor Gericht stellen, Kommandantin, mich eventuell exekutieren, das Projekt Zukunft zerstören … Ihr könnt machen, was ihr wollt. All das ändert nichts daran, dass mittlerweile mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen sind. Die Zeitlinie hat sich verfestigt. An den Ereignissen kann nichts mehr geändert werden. Die Bombe ist detoniert und Grande ist tot. Das bedeutet, dass ich meine Mission erfüllt habe. Ja, genau so ist es. Ich habe gewonnen.«

Ron kann sich nicht mehr beherrschen. Es reicht, jetzt reicht es wirklich.

»Und genau da irrst du dich, du Stück Scheiße«, faucht er den Major an.