Micaela kann sich nicht bewegen.
Sie würde es gerne tun, sie versucht es, doch ihr Körper reagiert nicht. Sie ist gelähmt. Sie kann nur die Augenlider öffnen und schließen und atmen, und ihr Herz schlägt weiter.
Nach dem letzten Einsatz musste sie sediert werden. Danach haben sie ihr das Blut abgewaschen und ihr eine neue Infusion gelegt, die ihren Körper nun mit Flüssigkeit versorgt.
Trinken? Nicht einmal im Traum. Sprechen? Schön wär’s!
Die Ärztin sagt, dass die Lähmung nur vorübergehend ist, dass die letzte Mission sie auf eine harte Probe gestellt hat, aber dass sie sich im Laufe der kommenden Stunden erholen wird. Bis die Wunden verheilt sind, die Major Coleman ihr zugefügt hat, wird dagegen wesentlich mehr Zeit vergehen. Sie sollte dem Himmel danken, dass er sie absichtlich nur verletzt hat, um sie kampf- und arbeitsunfähig zu machen, anstatt sie zu töten. Alles in allem muss sie Geduld haben. Es wird noch dauern, bis sie wieder in der Budova č. 42 als Agentin einsetzbar ist.
Jetzt liegt sie in einem Einzelzimmer des Prager Militärkrankenhauses. Ein paar Wochen hier drin, und wenn alles gut geht, kann sie dann zu Diana zurückkehren.
»Du solltest froh sein«, hat die Ärztin gesagt. »Du bist am Leben, du wirst dich erholen. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.«
Ja, vielleicht. Sicherlich hat die Ärztin recht, doch Micaela erträgt es nicht, im Bett zu liegen und sich derart machtlos zu fühlen. Vor allem aber erträgt sie es nicht, zum Schweigen verdammt zu sein, wo sie doch so viele Fragen hat.
Bei ihr im Krankenhauszimmer sind die Kommandantin, Ron und Enrico. Als sie die beiden Jungen gesehen hat, glaubte Micaela, Halluzinationen zu haben, so ähnlich wie neulich, als ihr die Welt wie ein großes Aquarium vorgekommen war und sie selbst sich wie ein Fisch, der darin umherschwimmt.
Ron. Enrico. Was machen sie hier und warum sind sie mit der Kommandantin zusammen?
Das ist nur die erste von vielen Fragen, die sie gern stellen würde, doch sie kann nicht fragen, sie kann nur zuhören.
Die Kommandantin hat sich auf einen Stuhl neben dem Bett gesetzt, Enrico sitzt am Fenster und schaut hinaus und Ron erzählt. Er lässt sich Zeit, beginnt mit dem Moment, als die Bombe explodiert ist und Enrico und er einen Krankenwagen geentert und zwei Leute entführt haben, von denen Micaela noch nie zuvor gehört hat.
Eine gewisse Caterina und ein gewisser Grande.
Als Ron erzählt, wie sie den Krankenwagen auf dem Parkplatz der Raststätte haben stehen lassen und dank einer unglaublichen Verkettung von Zufällen einen Dacia Duster stehlen konnten, würde Micaela, so wie zuvor Grande, gerne fragen: Wie habt ihr das gemacht? Und auch: Was geschieht hier eigentlich?
Micaela würde ihren Frust am liebsten laut herausschreien, kann es aber nicht. Plötzlich geht die Tür ihres Zimmers auf und Jerry tritt ein.
Was macht er außerhalb von Nummer 42? Ist schon wieder ein Notfall aufgetreten? Ein neues Problem?
Die Kommandantin macht jedenfalls ein besorgtes Gesicht. Sie springt auf.
»Was ist los?«
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, um Sie zu informieren«, sagt Jerry. »Ich konnte nicht anrufen, weil es eine Information der Geheimhaltungsklasse Top Secret ist.«
»Sprich!«
»Der Nebel ist verschwunden.«
»Was bedeutet das?«, fragt Ron in seinem Schulenglisch.
Micaela möchte vor Erleichterung seufzen, kann es aber nicht.
Jerry scheint große Freude daran zu haben, die Frage zu beantworten. »Es bedeutet, dass sich die Vergangenheit verfestigt hat. Die Wahrscheinlichkeiten sind wieder zu Gewissheiten geworden und wir können endlich präzise herausfinden, was gestern passiert ist.«
»Komm zum Punkt, Jerry«, ermahnt ihn die Kommandantin.
»Ja, sicher, tut mir leid. Ich wollte nur ein bisschen Spannung aufbauen …«
Micaela würde ihm gern sagen, was sie von seinem Spannungsaufbau hält. Aber nicht einmal das kann sie.
Jerry nimmt mitten im Raum Aufstellung, zwischen dem Bett und dem Stuhl, auf dem die Kommandantin sitzt, und sagt: »Gestern, am 19. Mai, ist um 11 Uhr 56 im Gymnasium D’Arturo-Horn in Bologna eine Bombe hochgegangen. Die Explosion hat die Hälfte des Gebäudes zerstört und dem gegenüberliegenden Gebäude schwere Schäden zugefügt. Beschädigt wurden auch die Kraftfahrzeuge, die zum Zeitpunkt der Explosion die angrenzende Durchgangsstraße entlangfuhren und in eine Massenkarambolage von enormen Ausmaßen verwickelt wurden.«
Der Analyst gönnt sich eine Kunstpause, um noch ein bisschen länger im Mittelpunkt zu stehen, und fährt dann fort: »Unglaublicherweise hat es keine Toten gegeben.«
Die anderen schweigen, so als ob sie Zeit bräuchten, um das Gesagte zu verstehen. Doch dann springen Ron und Enrico auf, umarmen sich, stoßen Freudenschreie aus. Und auch Jerry jubelt wie ein Basketballspieler, dem gerade der entscheidende Wurf gelungen ist.
Die Kommandantin, die gewöhnlich sehr beherrscht ist, stößt eine Faust in die Luft und sagt laut: »Ja!«
Auch Micaela ist glücklich. Doch weil sie gelähmt ist, merkt es niemand.
Nach diesem euphorischen Moment liefert Jerry noch ein paar Erklärungen: »Aus Bologna haben wir erfahren, dass wenige Minuten vor der Detonation sämtliche Klassen des Gymnasiums evakuiert werden konnten. Zu verdanken ist dies zwei Schülern: Ron Senai und Enrico Neri.«
Wieder schreien die beiden triumphierend auf.
»Wirklich erstaunlich ist, dass bei der Explosion kein einziger Mensch zu Schaden gekommen ist. Allerdings gab es bei der Massenkarambolage einige Verletzte, darunter zwei Polizisten. Doch keiner ist gestorben und es schwebt auch niemand in Lebensgefahr.«
»Tatsächlich erstaunlich«, kommentiert die Kommandantin lächelnd. »Wir könnten es als Wunder bezeichnen. Es sieht beinahe so aus, als hätte jemand die Bombe umgebaut, um ihre Auswirkung präzise zu kalibrieren. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Derartiges geschieht, Jerry?«
»Während des Nebels hatten wir auch dieses Szenarium erhalten. MARIE hatte es als ›hochgradig unwahrscheinlich‹ aussortiert. Die Probabilität, dass es sich verwirklichen würde, lag bei einer Milliarde neunhundertdreißig Millionen vierhundertzweiundsiebzigtausendunddrei.«
»Donnerwetter, wirklich äußerst unwahrscheinlich«, stellt die Kommandantin fest.
Micaela begreift, dass die Generalin scherzt oder aber sie, Micaela, an der Nase herumführt, denn sie lacht, und auch Ron, Enrico und Jerry lachen.
»So, ich würde sagen, jetzt haben wir uns lange genug über sie lustig gemacht«, sagt die Generalin und wendet sich Micaela zu. »Wenn ich Leutnant Falco richtig einschätze, haben wir Glück, dass sie gerade außer Gefecht gesetzt ist, sonst würde sie uns sehr deutlich sagen, was sie von uns hält. Warum erklären wir ihr nicht, was wirklich passiert ist?«
Ron errötet leicht, zieht sich die Kapuze des roten Hoodies über den Kopf und holt sein Handy hervor. Er öffnet die Fotogalerie, geht zu Micaela und zeigt ihr eine Serie von Bildern.
Was ist das?, würde sie fragen, wenn sie imstande wäre zu sprechen.
»Das sind meine Anweisungen«, antwortet Ron, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Auf den Fotos sieht man ungewöhnlich dicht beschriebene Seiten. Die Schrift ist zittrig, die Buchstaben erscheinen weiß auf braunem Grund.
Als Ron ihr das Handy näher ans Gesicht hält, kann Micaela lesen: Anweisungen, um Auto zu wechseln. Und darunter: Um 14:16 Autobahn verlassen, auf Parkplatz von Raststätte fahren. R. steigt alleine aus und kauft Kleidung für C. und G. Toilette und Espresso, Vorsicht am Ausgang: Polizei sucht Krankenwagen. Hinten auf dem P steht brauner Dacia Duster, Kennzeichen CH410VV. Offen, Schlüssel im Zündschloss. Einsteigen, weiterfahren.«
Micaela weiß nicht, was sie denken soll.
Was hat das Foto zu bedeuten? Wer hat Ron diese Anweisungen gegeben? Wer hat sie aufgeschrieben?
Wieder scheint Ron ihre Gedanken lesen zu können. »Also … Ich weiß, dass man es sich nur schwer vorstellen kann … Aber wenn du darüber nachdenkst, begreifst du, dass es die einzig mögliche Erklärung ist.«
Er lächelt Micaela entschuldigend an und sieht dadurch noch viel sympathischer aus, als sie ihn ohnehin schon findet.
»Diese Anweisungen habe ich geschrieben«, gibt Ron zu. »Das ist meine Schrift. Es ist so … Ich habe sie heute Morgen geschrieben, gegen halb zehn. Dann habe ich sie in die Vergangenheit geschickt. Um meinem eigenen Ich von gestern den Ausweg aus einer furchtbaren Situation zu weisen.«
Jetzt fehlen Micaela wirklich die Worte und daran ist nicht die Lähmung schuld.
Heute ist Samstag, der 20. Mai. Ron hat seine Anweisungen in den gestrigen Tag hinübergeschickt, Freitag, den 19. Mai. Wie hat er das geschafft? Wie hat er mit seinem vergangenen Ich kommunizieren können?
»Du machst es komplizierter, als es ist«, unterbricht Enrico ihn. »Erzähl ihr einfach nur, was du gemacht hast.«
»Ich habe meine Anweisungen auf das Futter deiner Jacke geschrieben«, erklärt Ron. »Diese Jacke habe ich dann der besten Zeitagentin anvertraut, die ich kenne. Nämlich … dir.«
Micaela wird schwindelig, während ihr Gehirn versucht, all das zu rekonstruieren, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist, ein Zeitpuzzle, das sie chronologisch zusammenzusetzen versucht.
Es ist Freitag, Ron und Enrico befinden sich im Heizungskeller ihrer Schule. Major Coleman ist soeben verschwunden. Und sie, Micaela, ebenfalls. Die beiden Jungen sind allein zurückgeblieben und Ron ist verzweifelt. Er weiß nicht mehr, was er denken soll: Von Micaela hat er erfahren, dass es eine internationale Geheimorganisation von Zeitagenten gibt, die Time-Shifters. Mehr hat sie ihm nicht gesagt und er hat keine Ahnung, was er tun soll.
Er weiß nicht, wie er die Bombe entschärfen könnte, ja er weiß nicht einmal, ob es überhaupt richtig wäre, sie zu entschärfen. Er weiß nichts über die Zeitreisen und wie sie funktionieren.
Wie kann er da eine Entscheidung fällen?
In diesem Moment, als er wirklich nicht mehr weiterweiß, sieht Ron Micaelas Jacke. Er hebt sie auf und findet auf ihrem Futter all die Anweisungen, die Ron-in-der-Zukunft für ihn aufgeschrieben hat. Und so ermöglicht die Jacke Ron-in-der-Vergangenheit all das zu tun, was dazu führt, dass er seine Mission erfüllen und jetzt hier bei ihr sein kann.
Und das ist schon alles.
Tatsächlich?
Micaela schaut Ron an und merkt, dass sie plötzlich Respekt vor ihm hat, vor diesem Ron, der ein paar Jahre jünger ist als sie, der Junge mit den vielen Locken und den freundlichen Augen.
Was für eine Idee, denkt sie. Und wie viel Mut er hatte. Und …
Doch da ist einiges, das nicht so ganz passt. Sie fragt sich zum Beispiel, warum ihr das alles verheimlicht wurde.
»Wir konnten es dir auf keinen Fall sagen«, schaltet sich jetzt die Kommandantin ein, als könnte sie ihre Gedanken lesen. »Denk das doch mal durch: Letzte Nacht standest du unter Arrest. Ich habe dich befreit und du bist in die Vergangenheit zurückgekehrt. Zu dem Freitag, an dem du um zehn Uhr vormittags Ron und Enrico begegnet bist und dann gegen Major Coleman gekämpft hast, ohne zu wissen, was da gerade geschah. Als du aus diesem Heizungskeller verschwunden bist, hat Ron sich auf den Weg gemacht. Er ist mitten in der Nacht hier eingetroffen, als du noch unter Arrest standst. Er war es übrigens, der mich davon überzeugt hat, deinen Arrest aufzuheben, damit diese Version der Geschichte sich verfestigen konnte. Aber wenn du alles gewusst hättest …«
Klar, denkt Micaela. Wenn sie das alles schon letzte Nacht, vor ihrer Zeitreise, gewusst hätte, wäre ihr Gespräch mit Ron und Enrico anders verlaufen. Damit hätte sich auch die übrige Zeitlinie verändert, sodass Ron nicht nach Prag hätte fahren und die Kommandantin sie, Micaela, nicht aus dem Arrest hätte befreien können. Ein anderes Paradox.
Ein anderer Kreis.
»Es war eine lange Nacht, weil wir eine Unmenge von Problemen zu lösen hatten«, sagt Jerry. »Und der Nebel hat es uns nicht gerade leicht gemacht … Übrigens, Micaela, erinnerst du dich an die Veränderungen in den Grafiken? An den Nebel, der sich noch vor deinem ersten Einsatz gebildet hatte? Den haben diese beiden Jungs erzeugt, denn sie kannten die Zukunft und haben versucht, die Vergangenheit zu verändern. Dadurch ist ein schlimmes Chaos entstanden. Wir werden mehrere Tage brauchen, um MARIE neu zu programmieren und die Datensprünge zu korrigieren …«
»Jerry!«, ruft die Kommandantin mahnend, damit er zum Punkt kommt.
»Ja, ja, wie schon gesagt, es galt noch viele Probleme zu lösen. Zum Beispiel musste herausgefunden werden, wie die Bombe umzubauen war, wie die Klassen evakuiert werden konnten und was sie den Lehrern sagen sollten, damit diese keine Zeit verloren und die Schüler schnell rausbrachten, und so weiter.
Außerdem war da ja noch der Kontra-Agent: Leider hatten Ron und Enrico Coleman noch nie zuvor gesehen und kannten ihn daher nicht, andererseits wussten sie, dass sie ihn rechtzeitig finden mussten, um dir in der Vergangenheit das Leben zu retten.«
Klar, denkt Micaela wieder. Deshalb verschwand der Major während ihres Kampfes im Heizungskeller so plötzlich. Die Jungs-in-der-Zukunft hatten genau gewusst, was mit ihr geschehen würde. Und sofort darauf wurde auch sie zurückgeholt.
Noch nie zuvor hatte sich Micaela in einer derartig verworrenen Situation befunden. Es war beinahe erschreckend. Surreal.
Nur eines ist ihr noch nicht klar und sie lässt ihre Augenlider flattern, um die Kommandantin auf sich aufmerksam zu machen.
Es geht um Major Coleman. Warum hatten er und die anderen von Projekt Zukunft sie daran hindern wollen, die Bombe zu deaktivieren? Und warum hatten Ron und Enrico eine Krankenschwester und einen Verbrecher nach Prag mitgenommen?
Die Kommandantin erhebt sich lächelnd. »Ich glaube, du solltest dich jetzt ausruhen«, sagt sie. »Wir mussten unserer Ärztin versprechen, dich nicht allzu sehr zu beanspruchen, und ich fürchte, wir haben dieses Versprechen gebrochen. Außerdem müssen wir noch eine letzte Sache erledigen.« Sie zwinkert ihr zu. »Eine Unterhaltung mit Signor Grande.«