Das Kloster Břevnov ist ein Stück Mittelalter im Herzen von Prag. Es verfügt über einen üppig blühenden Garten mit Teichen und Wiesen. Um fünf Uhr nachmittags gehen hier viele Menschen spazieren: Rentner mit Gehstock, junge Familien mit Kinderwagen …
… und auch Enrico, Ron und die Kommandantin, die darauf achten, Abstand zu anderen Leuten zu halten.
Hier ganz in der Nähe, hinter roten Dächern und dem Zwiebelkirchturm der Abtei, befindet sich das Militärkrankenhaus, in dem Micaela liegt. Immer wieder blickt Ron in die Richtung, ganz offensichtlich wäre er jetzt viel lieber bei ihr.
Enrico dagegen genießt den Anblick des Grüns, die Sonne und die Luft, all die Luft. So unglaublich viel Luft. Es kommt ihm vor, als würde er nach langer Zeit endlich wieder atmen können. Als nähme er zum ersten Mal den Himmel über seinem Kopf wahr. Er empfindet ein vages Gefühl von Erleichterung. Es hat nicht viel gefehlt, das sind die Worte, die ihm ständig im Kopf herumgehen.
Wäre es anders gekommen, wäre er inzwischen tot, nach einem Selbstmord im Heizungskeller seiner Schule.
Jener andere Enrico, der in der Schule Sprengstoff versteckt hat und ihn beinahe hätte detonieren lassen, ist genau wie er, genau wie er hätte sein können.
Nur durch Zufall ist es anders gelaufen. Eigentlich müsste er froh darüber sein, warum fühlt er sich jetzt innerlich so wund, so verletzt?
»Die Abmachung, die wir mit Grande getroffen haben«, sagt er plötzlich. »Wird das wirklich so durchgezogen? Lassen wir zu, dass dieser Verbrecher mit ein paar wenigen Jahren Gefängnis davonkommt, und dann wird alles vergessen?«
»Kommt dir das ungerecht vor?«, fragt die Kommandantin.
»Allerdings.«
»Das finde ich auch. Ein Mann wie er verdient den Tod, falls du wissen willst, was ich wirklich denke. Sollte ihn im Knast irgendein Verbrecherkollege umbringen, werde ich sicherlich nicht um ihn trauern.«
»Trotzdem haben Sie ihm einen Ausweg angeboten.«
»Ja.«
»Aber warum?«
»Weil ich nicht immer das tun kann, was ich gerne tun würde. Manchmal muss ich Befehle befolgen und habe keine andere Wahl.«
Enrico verzieht den Mund zu einem höhnischen Grinsen. »So wie Major Coleman. Sie beide sind sich sehr ähnlich.«
Er hat erwartet, dass die Kommandantin auf seine Bemerkung verärgert reagiert. Stattdessen geht sie einfach weiter, ein bisschen nach vorn gebeugt, wie in Gedanken versunken.
»Ja«, sagt sie schließlich. »Wir sind beide Berufsoffiziere.«
»Ihr habt mit mir gespielt. Mein Vater hat die Familie ruiniert, hat meine Freundin gevögelt und ist verschwunden. Auch meine Mutter ist abgehauen. Der Schuldirektor wollte mich rauswerfen …«
»Erwartest du Mitleid von mir?«, unterbricht die Kommandantin ihn.
»Zum Teufel mit dem Mitleid. Es ist nur so, dass ich einfach nicht mehr kann. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich im Knast. In einem Knast, aus dem man nicht ausbrechen kann … Ich bin kein Idiot, Generalin.«
»Ich weiß. Ich habe deine Akte gelesen.«
»Ich habe immer das getan, was von mir erwartet wurde, weil sie mir gesagt haben, dass dann alles gut wird. Dabei haben sie mich verarscht. Ein Gefängnis ohne Türen. Ohne Ausweg. Keine Freunde. Mal abgesehen von Ron.«
Ron schaut ihn erstaunt an, das hat er nicht erwartet. Enrico hat ihm bisher auch nicht gesagt, wie wichtig das war, was er für ihn getan hat.
Enrico zwingt sich weiterzureden, aber die Worte kommen nur stoßweise aus seinem Mund, beinahe so, als wären es dermaßen viele, dass sie ihm die Kehle verstopfen.
»Sie und Major Coleman haben die ganze Zeit über mit mir gespielt. Halte Enrico auf, bevor sie ihn aus der Schule jagen. Lass ihn einen Unfall verursachen, dann schmeißen sie ihn raus. Versteck den Abschiedsbrief seiner Mutter. Lass ihn einen identischen Brief finden, damit er leidet wie ein Hund. Verstecke die Fotos vor ihm. Lass ihn die Fotos finden. Ihr habt mich durch die Gegend getreten wie einen Fußball.«
»Wir«, widerspricht die Kommandantin, »haben dich daran gehindert, zum Mörder zu werden.«
»Das hättet ihr auch anders machen können!«, schreit der Junge sie an und kickt gegen einen Stein, der daraufhin weit über die Wiese rollt. »Ihr hättet zum Beispiel mit mir reden können. Aber nein. Ihr habt einfach nur die Anweisungen dieses dämlichen Computers befolgt. Ihr habt mich im Stich gelassen.«
Enrico bleibt stehen und steckt die Hände in die Taschen, tastet nach seinem Messer. Schon lange hat er das nicht mehr getan, was auch daran liegt, dass er den Großteil der vergangenen vierundzwanzig Stunden wie tot war und Blau an seine Stelle getreten ist. Ein erwachsener Mann, der in der Lage ist, seinen Weg selbst zu bestimmen, einen Krankenwagen zu stehlen, Hunderte von Kilometern weit zu fahren, sich in eine supergeheime Militärbasis einzuschleichen, und so weiter.
Es hat ihm gefallen, Blau zu sein. Als Blau hat er sich frei gefühlt. Aber auch das war eine Täuschung. Er hat nur einen Plan befolgt, den jemand anderes ausgearbeitet hatte. Anweisungen, Anweisungen … Folgen wir ihnen im Grunde nicht alle? Auch Ron, Micaela, Coleman. Und er selbst.
Enrico ist müde. Er will nicht mehr wissen, was die Zukunft für ihn bereithält. Er will nicht mehr manipuliert werden.
»Du hast recht«, sagt die Kommandantin. »Es tut mir leid.«
Enrico ist verblüfft, er hätte nicht gedacht, dass sich eine Frau wie sie entschuldigen würde. Sie wirkt betroffen.
»Was soll ich denn machen?«, fragt sie ihn.
»Mir helfen«, antwortet er.
Sie gehen durch ein Wäldchen. Der Kiesweg ist von rosa Blüten bedeckt und Enrico wüsste gerne, was für Blüten das sind, von welchem Baum sie stammen. Es sind nicht viele Leute unterwegs und die Kommandantin setzt sich auf eine Bank. Die beiden Jungen tun es ihr nach, Enrico nimmt links von ihr Platz, Ron rechts. Er trägt immer noch seinen roten Hoodie, auch wenn es eigentlich zu warm dafür ist.
»Wir haben es mit einer komplizierten Situation zu tun«, erklärt die Kommandantin. »Du, Enrico, hast Sprengstoff gestohlen und ihn in einer Schule versteckt. Die italienische Polizei wird nicht lange gebraucht haben, um herauszufinden, woher der Sprengstoff stammt, mit dem die Schule in die Luft gejagt wurde. Vermutlich haben sie inzwischen das illegale Lager deines Vaters gefunden und beschlagnahmt. Natürlich habt ihr, du und Ron, dafür gesorgt, dass die Schule evakuiert wurde. Aber auch wenn es keine Opfer gab, so hat der Einsturz des Gymnasiums doch schwere Verkehrsunfälle und Sachschäden verursacht. Hinzu kommt, du hast einen Krankenwagen und ein Auto gestohlen und einem Häftling zur Flucht verholfen. Außerdem bist du ohne Führerschein durch halb Europa gefahren, was an sich schon schlimm wäre, aber noch das geringste deiner Probleme darstellt. Ach ja, beinahe hätte ich vergessen, dass du in eine Militärbasis mit höchster Sicherheitsstufe eingedrungen bist.«
Und tatsächlich haben er und Ron, die beiden Jungen, die eine furchtbare Katastrophe verhindert haben, einiges auf dem Kerbholz.
»Ich erzähle dir das alles, um dir klarzumachen, dass ich in keiner einfachen Lage bin«, erklärt die Kommandantin. »Noch komplizierter wird das Ganze dadurch, dass ihr seit über vierundzwanzig Stunden verschwunden seid: Ein paar Leute werden sich fragen, wo ihr steckt. Damit ihr nach Hause zurückkehren könnt, müssen wir uns eine sehr überzeugende Geschichte ausdenken.«
»Ich will nicht zurück«, sagt Enrico.
Er will diese Villa oben auf dem Hügel nie mehr wiedersehen, auch nicht die elegant eingerichteten Räume oder das Klavier. Er würde es nicht mehr über sich bringen, darauf zu spielen.
Enrico rechnet damit, dass die Kommandantin ihm widerspricht, doch sie wirkt überhaupt nicht überrascht.
»Ich denke auch, dass es am besten sein wird, dich für eine Weile verschwinden zu lassen. Ich habe Jerry gebeten, sich eine Lösung für dich zu überlegen … Wir könnten dir Papiere und eine neue Identität beschaffen, dich in einer Einrichtung unterbringen.«
Enricos Mund wird zu einem schmalen Strich. Darauf läuft es also hinaus: Die Kommandantin will ihn in ein Irrenhaus stecken.
»Ich dachte an eine Wohngruppe in einem schönen Haus. Du würdest mit anderen jungen Leuten zusammenleben. Es gibt ausgezeichnete Fachkräfte, die dir helfen könnten, dein Leben wieder auf die Reihe zu bringen.«
Seelenklempner also.
Aber warum sollte sich Enrico eigentlich deswegen schämen? Er weiß selbst, dass er Hilfe braucht. Um ein Haar wäre er ertrunken. Er braucht jemanden, der ihm einen Rettungsring zuwirft.
»Was meinst du?«, fragt die Kommandantin.
Enrico antwortet nicht. Eine Weile sind nur das leise Rauschen des Windes in den Bäumen zu hören und das Knirschen der Kieselsteine unter den Schuhen der Spaziergänger.
»Ich hatte noch nie eine Wahl«, sagt er schließlich. »Immer haben andere für mich entschieden. Sie haben mir gesagt, welche Sportarten und Hobbys ich machen soll, welche Sprachen ich lernen soll. Sie haben mich im D’Arturo-Horn angemeldet, ohne mich vorher zu fragen. Und auch jetzt gibt es für mich nicht wirklich eine Alternative, oder?«
»Doch, du könntest nach Bologna zurückkehren. Wahrscheinlich würdest du dort erst einmal Ärger bekommen. Es würde einen Prozess geben oder so etwas in der Art, aber du bist noch minderjährig und vorher nie auffällig geworden. Ich denke, du könntest früher oder später in dein altes Leben zurückkehren, wenn es das ist, was du willst. Oder du könntest einfach weggehen, von dieser Bank aufstehen und losgehen, ohne dich noch einmal umzudrehen. Ich würde dich nicht aufhalten. Wahrscheinlich hast du dir Geld beiseitegelegt, du wirkst schon recht erwachsen für dein Alter, du würdest jedenfalls irgendwie zurechtkommen. Oder aber …« Lächelnd streckt die Kommandantin eine Hand aus. Eine sanfte, beinahe mütterliche Geste. »Oder aber du könntest mein Angebot annehmen. Und eines Tages entscheiden, wer du sein willst, Enrico Neri oder jemand anderes. Du wirst dir deinen Weg suchen, so wie wir alle es tun.«
Die Generalin will noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick meldet sich Rons Handy mit einer wahren Salve von Benachrichtigungssignalen.
»Neunhundertsechsundzwanzig Nachrichten«, ruft er erstaunt. »Neunhundertsechsundzwanzig!«
Gelassen schaut die Kommandantin auf ihre Uhr. »Ich hatte Jerry gebeten, dein Handy um achtzehn Uhr wieder zu aktivieren. Er ist ein bisschen zu früh dran.«
»Was bedeutet das?«, fragt Ron.
»Ab dem Moment, als du in die Basis eingedrungen bist, wurde das Signal deines Handys auf den Militärserver umgeleitet. Wir konnten ja nicht zulassen, dass du dich mit der Außenwelt in Verbindung setzt. Das wäre jeglichen Sicherheitsvorschriften zuwidergelaufen.«
Ron scrollt auf seinem Telefon die eingegangenen Nachrichten durch. »Papa, Mama, sogar meine Schwester. Gimbo. Der Klassenchat. Der Homies-Chat. Und jede Menge Leute, die ich nicht kenne … unbekannte Nummern … Journalisten, Polizisten …«
Enrico kann sich denken, was all diese Leute von Ron wollen. Ihm sagen, dass sie sich große Sorgen um ihn machen, ihn fragen, wo er steckt, mit ihm schimpfen, ihn beglückwünschen, um ihn weinen, als ob er gestorben wäre.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt die Kommandantin zu ihm. »Wir haben uns bereits um alles gekümmert. Wenn du zurückkehrst, musst du nicht mehr allzu viel erklären.«
Ron versteht nicht, was sie meint. »Sie schicken mich zurück? Nach Bologna?«
»Nach Bologna. Und in gewisser Weise haben wir das bereits getan: Der Plan ist, dich in die Zeitmaschine zu stecken und vierundzwanzig Stunden weit zurückzuschicken, in den Freitagnachmittag, ein paar Stunden nach der Explosion. Es wird das erste Mal sein, dass wir unsere Technologie bei einem Zivilisten anwenden … Aber unsere Ärztin meint, dass dein Körper damit ohne größere Probleme fertigwerden müsste. Wenn wir so vorgehen, wird es einfacher, der Polizei dein Verschwinden zu erklären. Jerry hat sich schon ein gutes Alibi für dich ausgedacht, du brauchst es nur auswendig zu lernen.«
Ron schaut Enrico an. »Also werden wir getrennte Wege gehen?«
Der andere lächelt. »Anscheinend. Wenigstens einige Zeit lang.«
Noch während er es sagt, wird ihm bewusst, dass sein Entschluss gefasst ist. Darauf wird es also hinauslaufen. Und auch wenn es ihm leidtut, sich von Ron zu verabschieden, so spürt er doch in sich eine Art von Wärme, eine Art von Erleichterung. Er weiß nicht recht, wie er dieses neue Gefühl nennen soll. Hoffnung?
»Ab und zu könntest du mich hier in Prag besuchen«, schlägt er vor. »Dann kannst du ja auch bei Micaela vorbeischauen.«
Als er den Namen des Mädchens hört, springt Ron wie angestochen von der Bank auf. Seine Hand, die das Handy hält, zittert.
»Generalin … Kommandantin, für wie viel Uhr ist meine Rückkehr geplant?«
»Für neunzehn Uhr.«
»Neunzehn Uhr. Das ist ja bald … Sehr bald! Ich muss kurz mal weg. Aber ich bin gleich wieder zurück, versprochen. Ich beeile mich.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, steckt Ron das Handy in die Tasche und rennt los, so schnell er kann.
»Was für ein Typ, hm?«, meint die Kommandantin und schaut ihm nach.
»Ein klasse Typ«, erwidert Enrico. »Schließlich ist er mein bester Freund.«