Im Hintergrund mischt sich Klaviermusik mit Stimmengewirr, Schritte sind zu hören, Lichter leuchten. Der Spiegel in der winzigen Kammer zeigt ihm sein Abbild, doch einen Augenblick lang erkennt er sich nicht wieder. Ihm ist schwindelig.
Er schiebt den Vorhang beiseite und tritt heraus, und ringsherum tobt das Chaos. Da stehen Schaufensterpuppen in Kamelhaarmänteln herum und junge Mädchen probieren bunte T-Shirts an. Ihm ist ein bisschen schlecht, er schaut sich um und fühlt sich vollkommen fehl am Platz.
»Kann ich jetzt rein?«, fragt ihn eine Frau, die über einem Arm einen Schwung Schottenröcke trägt.
»Wie?«, fragt er.
»Ich habe gefragt, ob ich da reinkann? Um die hier anzuprobieren.«
Weil er immer noch nicht zu verstehen scheint, erklärt die Frau: »Du bist eben aus der Umkleidekabine gekommen … Bist du fertig? Oder willst du noch etwas anderes anprobieren?«
Jetzt versteht er und antwortet leise: »Oh, ja klar. Ich bin fertig. Bitte. Bitte, gehen Sie ruhig hinein.«
Er hält sich an einem Garderobenständer fest, weil er befürchtet, das Gleichgewicht zu verlieren, doch der Ständer rollt weg und er fällt beinahe der Länge nach hin. Im letzten Augenblick fängt er sich und schließt die Augen. Er atmet tief durch, um die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen. Er fühlt sich, als wäre er soeben aus einer Achterbahn ausgestiegen und müsste sich gleich erbrechen. Auf keinen Fall will er sich hier übergeben, aber er kann nicht anders. Er war ja gewarnt worden.
»Junge … Stimmt etwas nicht? Geht es dir nicht gut?«, fragt ihn die Frau.
»Mama, lass ihn in Ruhe, siehst du nicht, was mit ihm los ist?«, mischt sich ein junges Mädchen ein.
Sie wirft ihm einen unfreundlichen Blick zu, von dem er ablesen kann, dass sie ihn für einen Junkie hält. Aber er ist kein Junkie und er hat auch keine Lust, sich zu rechtfertigen. Also lässt er den Garderobenständer los, sobald er sich ausreichend stabil fühlt, macht einen Schritt, noch einen, schwimmt durch die große Verkaufsfläche, immer darauf bedacht, etwas in der Nähe zu haben, an dem er sich festhalten kann.
Er tritt hinaus ins Freie und findet sich unter den Säulengängen der Via Indipendenza wieder. Es sind nicht besonders viele Leute unterwegs und es regnet. Es regnet sehr heftig. Es ist, als wären Wasser und Luft zu einer Einheit verschmolzen, zu etwas, das sich über die Pflastersteine ergießt und sie dunkel und glänzend werden lässt. Ein Glück, dass er noch den Hoodie anhat. Außerdem ist Bologna die Stadt der Säulengänge, sodass man nie allzu nass wird. Er muss sowieso zu Fuß nach Hause gehen, er hat kein Geld dabei, nicht eine einzige Münze, und ein Handy, mit dem er jemanden anrufen könnte, hat er auch nicht mehr.
Er weiß jetzt schon, dass das verlorene Telefon ein Problem sein wird. Sie werden ihn höchstwahrscheinlich ausschimpfen und wer weiß, wann sie ihm ein neues kaufen, aber na ja, das ist seine geringste Sorge.
Wahnsinn, denkt er. Wahnsinn.
Schade nur, dass er das, was er erlebt hat, niemandem erzählen kann. Aber es würde ihm ohnehin niemand glauben.
Er bleibt ein Weilchen stehen und schaut dem Regen zu, riecht den starken Ozonduft der Luft. Irgendwann geht ein Mann an ihm vorbei, der sich auf seinem Handy die Nachrichten anschaut. Er benutzt keinen Kopfhörer und so kann Ron mithören. Es geht um die Bombe, die Bombe, die erst wenige Stunden zuvor in der Innenstadt von Bologna hochgegangen ist.
Eine dramatische Nachricht und doch muss Ron grinsen.
Dann ist wirklich alles wahr, denkt er.
Ein Regenspaziergang steht ihm bevor, aber was soll’s. Er wird klatschnass zu Hause ankommen und zum Abendessen zu spät dran sein. Egal.
Er verlässt seinen trockenen Platz unter dem Säulengang und geht mit schnellen Schritten durch den rauschenden Regen. Dabei greift er nach hinten, um sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf zu ziehen. In dem Moment huscht am Rand seines Gesichtsfelds etwas vorbei und er bleibt stehen. Er betrachtet seinen rechten Arm und sieht es.
Jemand hat ihm mit einem schwarzen Filzstift etwas auf den Ärmel geschrieben.
Es ist eine Telefonnummer mit einer internationalen Vorwahl, die er nicht kennt, und darunter steht: Denk positiv. Geh immer aufs Ganze!
Ron steht da und schaut auf den feuchten Stoff und kann es nicht glauben. Er fährt sogar mit den Fingerspitzen über die Telefonnummer, wie um sich zu vergewissern, dass die Ziffern nicht plötzlich verschwinden.
Wie ist das möglich? Wann …?
Aber was spielt das für eine Rolle?
Er fängt an zu lachen.
Streckt die Hände zum Himmel empor.
Und rennt los, seinem Morgen entgegen.