In einem denkwürdigen Text beschrieb Baeck seine Erinnerungen an Theresienstadt und die dort herrschenden Bedingungen:
Was war das erste, was der empfand, der dort eintrat? Wenn er durch das Festungstor, zwischen den Bastionen und Wällen, hineingetrieben war, dann war ein Tor des Schicksals, vielleicht für immer, hinter ihm zugetan. Er war eingeschlossen. Und drinnen war er noch besonders abgeschlossen, ein Teil der Festungsstadt, der bessere und gesündere, war als Gebiet der S. S. abgetrennt. In einem Raume, der vorher in militärischer Enge kaum mehr als 3000 Menschen hatte beherbergen sollen, waren hier oft fast 45.000 zusammengepfercht,[1] in Kasernen und sonstigen Häusern, hart beieinander, dicht übereinander. Über den Strassen war, wenn die Sonne schien, der dicke Staub, den die hohen Wälle nicht hinausliessen, und wenn der Regen oder der Schnee gefallen war, der tiefe, zähe Schmutz, der täglich zu wachsen schien. Und von überall her und überall hin kam das Ungeziefer, das grosse Heer der Kriechenden, Springenden, Fliegenden gegen das Heer der Gehenden, Sitzenden, Liegenden, der Hungrigen gegen die Hungernden – ein stündlicher Kampf bei Tage und bei Nacht. Monat um Monat, Jahr um Jahr war das die Welt, und die Menge verschlang den Einzelnen. Er war eingeschlossen in die Masse, so wie er umschlossen war von Enge und Staub und Schmutz, von den wimmelnden Scharen der Insekten und umschlossen war, fast von innen und von aussen her, von dem Hunger, der nicht enden zu wollen schien – im Lager der Konzentrierten, niemals für sich allein.[2]
Theresienstadt, heute unter seinem tschechischen Namen Terezín bekannt, liegt am Fluss Eger in einer fruchtbaren Ebene mit umliegenden Hügeln, siebzig Kilometer von Prag entfernt. Kaiser Joseph II. ließ die Stadt 1780 als Festung der Habsburger erbauen und benannte sie nach seiner Mutter, Kaiserin Maria Theresia. Es gab eine kleine und eine große Festung, letztere auf einer Fläche von siebenhundert mal fünfhundert Metern. Als die Nationalsozialisten 1938 das Sudetenland, einen Teil der Tschechoslowakei, in das Deutsche Reich eingliederten, wurde Theresienstadt deutsches Territorium. Zwei Jahre später begann die Gestapo, die Zivilbevölkerung aus der Stadt zu vertreiben, und errichtete ein Ghetto für tschechische, deutsche und österreichische Juden. Unter den mehr als 140.000 Juden, die während der gesamten Zeit seiner Existenz in das Ghetto Theresienstadt gebracht wurden, waren alle Altersgruppen vertreten; 15.000 der Insassen waren Kinder; 42.000 kamen aus Deutschland. Von denen, die mit Transporten aus ihrer Heimat ins Ghetto kamen, waren bei Kriegsende weniger als 6000 am Leben. Die anderen starben im Ghetto an Hunger oder Krankheit (33.000) oder wurden in eines der Todeslager gebracht, hauptsächlich nach Auschwitz (88.000). Die meisten, die bei der Befreiung des Ghettos im Mai 1945 durch die Sowjets noch lebten, waren kurz zuvor aus Lagern im Osten dorthin gebracht worden.[3]
Die große Mehrheit der Häftlinge war in elf riesigen, kaum beheizten und überfüllten Kasernen untergebracht, einige wenige fanden in den ehemaligen Wohnhäusern Unterkunft. Die Kasernen waren nach Männern, Frauen und Kindern getrennt. Der private Raum war auf ein Bett und einen Koffer mit ein paar persönlichen Habseligkeiten begrenzt – eine für Leib und Seele bedrohliche Situation. Baeck erinnerte sich, vielleicht ein wenig übertreibend: «In einem immer mehr verengerten kleinen Bezirk wurden immer mehr Menschen hineingepreßt, so daß einer am anderen sich rieb und stieß: jede Selbstsucht mit ihrer Gier sollte [nach dem Willen der SS] aufwuchern und jede Anständigkeit verkümmern.»[4] Die gut ausgestattete SS-Lagerkommandantur dagegen lag an dem begrünten, von Bäumen gesäumten zentralen Platz und war komfortabel und geräumig. Jenseits des Flusses befand sich die Kleine Festung, der gefürchtete Ort der Einkerkerung, Folter und Erschießungen.
Einige Autoren, unter ihnen auch Baeck, nannten es ein Konzentrationslager, aber Theresienstadt fehlten die meisten Merkmale der Konzentrations- und Todeslager. Es gab keinen elektrischen Lagerzaun und keine Gaskammern. Die Insassen trugen keine gestreiften Uniformen und genossen innerhalb der Ghettomauern ein gewisses Maß an Freiheit, das es in den Lagern nicht gab. Auch wenn, wie in den Lagern, die kargen Mahlzeiten zentral zubereitet und verteilt wurden und die Insassen permanent hungrig waren, konnten jene Glücklichen, die Verbindungen zur Außenwelt hatten, Lebensmittelpakete von Privatpersonen oder Hilfsorganisationen erhalten. Gottesdienste, ja sogar Trauungen und Bar-Mizwa-Zeremonien wurden geduldet, auch eine Vielzahl kultureller Aktivitäten. Unter strikter Kontrolle durch die SS konnten sich die Insassen mit einem Ältestenrat selbst verwalten. Doch die wachsame SS war jederzeit bereit, Verstöße gegen die strengen Regeln zu bestrafen: schwerere Verstöße mit Exekution in der kleinen Festung, kleinere Verstöße mit Stockschlägen durch einen Mithäftling, der dazu gezwungen wurde. Fluchtversuche bedeuteten immer den Tod. Schwere Arbeit, meist zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen der Nazis, mussten alle verrichten, die gesund genug waren, auch Kinder ab einem bestimmten Alter. Wie in den Ghettos im Osten starben auch hier viele Menschen an Hunger und Krankheit; und wie jene Ghettos war auch Theresienstadt nicht die Endstation, sondern nur Durchgangsstation auf dem Weg in ein Todeslager. Das Überleben im Ghetto war ein täglicher Kampf gegen Bedingungen, die den Überlebenswillen eines Menschen zerstören konnten. Dysenterie war an der Tagesordnung, so dass sich vor den wenigen Latrinen lange Schlangen ungeduldiger Erkrankter bildeten. Baeck gehörte zu den vielen, die davon betroffen waren. Er fastete drei Tage lang und betrachtete es als Glück, sich wieder erholt zu haben.
Die meisten deutschen Juden wurden nicht nach Theresienstadt geschickt. Die große Mehrheit, insbesondere die Jüngeren, die kein Visum zur Einwanderung in ein anderes Land hatten erhalten können, wurden direkt in ein Lager im Osten deportiert – in ein Todeslager, vorrangig nach Auschwitz. Wer vor Besteigen des Zugs ein «T» für Theresienstadt bekam, atmete auf, dass es kein «O» für Osten war. Auch wenn die Deportierten nicht wussten, was genau ihr Schicksal im Osten war, so wussten sie doch, dass Theresienstadt besser war als Osten. Für Theresienstadt ausgesucht wurden vor allem ältere Menschen (die Nationalsozialisten sprachen gern von einem «Altersheim»), verwundete oder dekorierte jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs und Mitarbeiter der Reichsvereinigung. Sie durften in Personenzügen reisen. Jeder erhielt eine Transportnummer, die jedoch nicht auf den Arm tätowiert wurde wie in Auschwitz. Baecks Nummer war 187.894. Wie er später sagte, bestand sein täglicher Kampf von nun an darin, nicht zur bloßen Nummer zu werden, nie vor dem Schmutz und der Gemeinheit zu kapitulieren und immer den Respekt vor sich selbst zu bewahren.[5]
Die Befehlsgewalt in Theresienstadt lag in den Händen des SS-Kommandanten. Er hatte die Kontrolle über eine Bevölkerung von tschechischen Juden jeden Alters sowie vorwiegend älteren deutschen und österreichischen Juden. Dem Kommandanten unterstellt war eine jüdische Selbstverwaltung mit einem «Judenältesten» an der Spitze, der von den Nationalsozialisten ernannt wurde, aber in Angelegenheiten des täglichen Lebens eine gewisse Freiheit hatte. Die meiste Zeit, die Baeck im Ghetto war, hatte diese Position Paul Eppstein inne, ein tüchtiger Funktionär, dessen Lebenswandel in Berlin Baeck jedoch nicht gefallen hatte. Der Älteste hatte zwei Stellvertreter an seiner Seite sowie den Ältestenrat, dem Baeck angehörte und dessen Vorsitz er ab Dezember 1944 innehatte, als keine Transporte mehr nach Auschwitz abgingen. Baeck war Leiter der Fürsorgeabteilung, die sich insbesondere um die Belange der Alten und Kinder zu kümmern hatte.
Als ehemaliger Präsident der Reichsvereinigung erhielt Baeck einen Sonderstatus und damit eine bessere Unterkunft als die meisten anderen deutschen Juden, die nach Theresienstadt kamen. Als einer von 114 «Prominenten», die in Deutschland hohe Positionen innegehabt oder in hohem Ansehen gestanden hatten, wurde er nicht in den Kasernen untergebracht. Wenige Wochen nach seiner Ankunft fand man für ihn zwei relativ geräumige Zimmer in einem der Häuser, die zuvor von der Zivilbevölkerung der Stadt bewohnt gewesen waren. Es war das Haus, das prominenten Juden, die ihre Religion praktizierten, zugedacht war. Seine ehemalige Haushälterin bewohnte das zweite Zimmer.[6] Eine Besucherin erinnerte sich, dass Baecks Zimmer ein «richtiges Bett» sowie einen Tisch mit zwei Stühlen hatte und – was außergewöhnlich war – sogar einen Ofen für den Winter.[7] Hier konnte er sich mit alten Freunden und Bekannten treffen und über das Leben vor Theresienstadt, über die Lehranstalt und ihre Studenten reden.[8] Doch anders als die meisten Insassen mit Prominentenstatus ging Baeck nicht auf Abstand zu jenen, die nicht dieser Kategorie angehörten. Er hatte vielmehr das Gefühl, dass ihm daraus eine Verpflichtung erwuchs, verschaffte ihm seine Position doch die Möglichkeit, anderen in ihren materiellen und geistigen Nöten zu helfen. Ob gewollt oder ungewollt, konnte er als Vorbild dienen.[9]
Es wurde zwischen «Prominenten A» und «Prominenten B» unterschieden. Nur die von der SS bestimmten Angehörigen der Kategorie «A» hatten den zusätzlichen Vorteil, vor der Deportation in den Osten geschützt zu sein; Angehörige der Kategorie «B» genossen diesen Schutz nicht. Baeck war ein Prominenter der Kategorie «B».[10]
Nach ihrer Ankunft am Bahnhof Bauschowitz mussten sich die Deportierten auf einen langen Fußmarsch zu den Toren des Ghettos machen. Alle körperlich Gesunden wurden zunächst in eine Arbeitskolonne eingeteilt, bevor ihnen eine dauerhafte Arbeit zugewiesen wurde. In der ersten Zeit war der Schabbat auch in Theresienstadt ein Ruhetag, doch später, im Zuge der Kriegsanstrengungen, mussten die Juden jeden Tag arbeiten, auch an den Hohen Feiertagen.[11] Zu den Pflichten des neunundsechzigjährigen Baeck in den ersten Wochen nach seiner Ankunft gehörte es, Leichenkarren zu ziehen, die dazu benutzt wurden, Brot, Kartoffeln und andere Dinge durch das Ghetto zu transportieren. Er lehnte jede Sonderbehandlung ab. Nach dem Krieg sagte er dem jüdischen Philosophen Emil Fackenheim, einem ehemaligen Studenten in der Lehranstalt, dass er die Gelegenheit genutzt habe, um mit dem Juden, der mit ihm den Karren zog, über Platon und Jesaja zu sprechen, und das habe ihm die körperliche Arbeit erträglich gemacht.[12]
Leo Baecks Ankunft im Ghetto am 28. Januar 1943 machte Eindruck, nicht nur bei den Lagerinsassen aus Deutschland, die ihn kannten oder zumindest von ihm gehört hatten. Auch viele andere merkten, dass ein besonderer Mensch angekommen war, jemand, dem sie sich in einer Notlage anvertrauen konnten.[13] Er gab ihnen das Gefühl, dass sie mehr waren als nur die Transportnummer, die sie bei ihrer Deportation erhalten hatten – dass sie Namen trugen, dass sie menschliche Individuen waren und dass ihre äußere Knechtschaft ein gewisses Maß an innerer Freiheit nicht ausschloss. Später erinnerte sich Baeck, dass es ein ständiges Ringen darum war, Momente zu schaffen, in denen eine unpersönliche Masse wenigstens für kurze Zeit eine miteinander verbundene Gemeinschaft wurde. Während die Strategie der SS-Wachen darin bestand, Solidarität im Keim zu ersticken und Feindseligkeit zwischen den Insassen zu schüren, besonders in ihrem Kampf um ein wenig mehr Essen, bemühte sich Baeck, so gut er es in dieser Vorhölle vermochte, diesen Prozess umzukehren und Gemeinschaft zu schaffen.
Viel von seiner Zeit in Theresienstadt widmete Baeck seinen Aufgaben als Rabbiner, nicht viel anders als in Berlin. Zusammen mit anderen Rabbinern hielt er am Schabbat Gottesdienste, die ein Überlebender als «übervoll» beschrieb, «getragen von dem echten Bedürfnis, sich im Gebet Gott nahe zu fühlen».[14] Ein anderer, selbst Rabbiner, verglich die Gottesdienste auf Dachböden und in Kellern mit denen in den Katakomben Roms. Sie machten, wie er schrieb, einen gewaltigen Eindruck auf die Gläubigen und deren Rabbiner.[15] Nicht lange nach seiner Ankunft vollzog Baeck auf dem Dachboden der Magdeburger Kaserne eine feierliche Trauung.[16] Einige Zeit später leitete er die Beerdigungszeremonie der Tochter Theodor Herzls, des Begründers des politischen Zionismus. Bei diesem Anlass soll er gesagt haben: «Wenn wir auf die Worte des Vaters dieser Unglücklichen gehört hätten, wären wir heute nicht alle hier.»[17] Immer und immer wieder musste Baeck über die aufeinandergestapelten kargen Särge mit den in Tücher gewickelten Toten das Kaddisch sprechen, das traditionelle Totengebet. Er verfasste eine schlichte Ansprache, die von nun an bei allen Begräbnissen deutsch und tschechisch gehalten wurde.[18] Später beschrieb er seinen Kampf, in den Toten, die in einem langen Zug durch das Ghetto hinausgetragen wurden, nicht die Transportnummer zu sehen, sondern den Namen und die Individualität. Es war eine bittere und nur allzu häufige Szene:
Ein tiefer dunkler Gang in einem Festungswall, beinahe selbst wie ein Massengrab, war die Totenhalle. Dort standen, in langer, langer Reihe oft – es hat Tage gegeben, an denen mehr als hundert Menschen starben –, die dürftigen Särge der Toten, immer zwei oder drei übereinander, und die Namen wurden verlesen und das alte Totengebet, das Jahrtausende alte, gesprochen. Und dann wurden die Särge aufgehoben und hinausgetragen, während der Psalm gesungen wurde, der seit Geschlechtern die Toten auf ihrem letzten Wege begleitet: «Wer im Geheimnis des Allmächtigen wohnt» bis hin zu dem Schlusse: «Ich werde ihn meine Hilfe schauen lassen!» [Ps. 91,1 und 16] Es war wie eine Demonstration, ein Stück Freiheit in der Knechtschaft. Draussen standen die grossen schweren Wagen, und die Särge wurden auf sie hinaufgestellt. Etwa fünfzig Schritte war es gewährt, ihnen zu folgen, die Grenze des Lagers war dann erreicht. Nur die Toten zogen hinaus, zur Verbrennungsstätte hin.[19]
Neuankömmlinge und Juden, die zu körperlicher Arbeit verpflichtet waren, mussten die sterblichen Überreste der Toten begraben.
Aber nicht aufgrund seiner Durchführung ritueller Zeremonien behielten Überlebende den Rabbiner Baeck in besonderer Erinnerung, sondern aufgrund seiner seelsorgerischen Tätigkeit. Nachdem man ihm eine Unterkunft zugewiesen hatte, machte er es sich zur Gewohnheit, Neuankömmlinge an der «Schleuse» zu empfangen, diejenigen, die er von Berlin kannte, zu begrüßen, ihnen Trost zuzusprechen und die Befremdlichkeit des Ortes ein wenig zu mildern.[20] So wie er als Geistlicher im Ersten Weltkrieg verwundete Soldaten besucht hatte, besuchte er jetzt die Kranken und Mutlosen, jene, die niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Bei diesen Gelegenheiten konnte er mit Mitgefangenen sprechen und ihnen beistehen. Für die Trostbedürftigen waren diese Besuche ein Lichtschimmer, der wenigstens für einen kurzen Moment das Dunkel erträglicher machte.[21] Baeck brachte auch kleine Geschenke mit, vor allem Lebensmittel aus den Paketen, die er aufgrund seiner Bekanntheit in der Welt draußen in relativ großer Zahl erhielt. Einem Überlebenden zufolge wurde er zum «hervorragenden Wohltäter für die Bedrängten des Ghettos». Er schien weniger der Leiter der Sozialfürsorge im Ghetto zu sein als «die Verkörperung des guten Geistes eines religiös orientierten Judentums … Seine Sorge galt den Alten und den Jungen, den Vernachlässigten und Behinderten».[22] Baeck unterschied im Ghetto nicht zwischen Juden und Nichtjuden, sondern versuchte, allen beizustehen, die in Not waren. Für den Dichter, Gelehrten und Theresienstadt-Überlebenden H. G. Adler verkörperte Baeck das Gewissen des Lagers.[23]
Wenn er sich nicht um die physische Not der am meisten benachteiligten Ghettoinsassen kümmerte, bemühte er sich, sie aufzumuntern. In einem Vortrag nach dem Krieg beschrieb die Dichterin Ilse Blumenthal-Weiss ihre gelegentlichen Begegnungen mit Baeck, wenn sie die drangvolle Enge ihrer Kaserne verlassen und sich in seinem Zimmer von den Kümmernissen der Gegenwart ablenken konnte: «Es waren Feierstunden, die ich mit Baeck verbrachte, Stunden, da alle Schrecken, Ängste und Entbehrungen nicht vorhanden schienen. Denn niemals, wirklich niemals sprachen wir über die furchtbare Lage, in der wir uns befanden. Man halte mich nicht für überschwenglich, wenn ich jene Stunden mit einem Höhenflug des Geistes vergleiche. Verstand es Baeck doch, mich mehr denn je davon zu überzeugen, dass es selbst unter den erniedrigendsten Bedingungen möglich ist, den wahren Werten des Lebens treu zu bleiben.»[24]
Gelegentlich versammelte er einen kleinen Kreis von sechs bis acht Personen in seinem Zimmer, um über ein Thema zu diskutieren, das einer von ihnen vorschlug. Baeck äußerte sich erst ganz am Schluss, aber was er sagte, wurde als der Höhepunkt des Abends betrachtet. Ganz gleich, worum es ging – Wissenschaft, Kunst oder Politik –, er hatte immer etwas anzubieten. Die Ärztin Edith Kramer, eine der Teilnehmerinnen, beschrieb diese Abende als «einen der wenigen hellen Punkte im Leben von Theresienstadt».[25]
Baeck wusste, dass das physische Überleben eines Menschen von äußeren Umständen abhing, die sich ihm entzogen: ob man tödlich erkrankte, gefoltert oder in der Kleinen Festung ermordet wurde oder ob all das an einem vorüberging. Aber wie in Berlin unterschied er auch jetzt zwischen dem Schicksal, das dem Menschen von außen aufgezwungen wurde, und der inneren Haltung, die man nach wie vor selbst kontrollieren konnte. Um innerlich stark zu bleiben, brauchte man seiner Ansicht nach zweierlei: Geduld und Phantasie. Geduld war die Widerstandskraft, die den Lebenswillen aufrechterhielt. Phantasie bedeutete die Vision, die trotz allem eine Zukunft möglich erscheinen ließ. Doch das eine bedingte das andere. Geduld ohne Phantasie konnte den Ghettobewohner «in ein reines Sklaventum» sinken lassen, Phantasie ohne Geduld konnte ein «Traum im Schlafe des Tages» werden und zu einer gefährlichen Abkehr von der Alltagsrealität führen. Wie es typisch für Baeck war, verknüpfte er beides mit der Moral: Die moralische Geduld befähige den Einzelnen, an seinen Mitmenschen festzuhalten und das Band zwischen dem eigenen Ich und den anderen nicht zerreißen zu lassen. Die moralische Phantasie wiederum befähige ihn, sich in andere hineinzudenken und für ihr Leid und ihr Glück Mitgefühl zu entwickeln.[26] Baecks eigene moralische Phantasie war eine Antwort auf die Notwendigkeit der Empathie, die unter den gegebenen Umständen dringlicher war als je zuvor.
Für Baeck als Rabbiner war Theresienstadt das Grauen, nicht nur wegen der erlittenen Entbehrungen. Es war auch ein Ort, der sein scharfes moralisches Empfinden beleidigte. Der Intellektuelle Paul Eppstein, der sich in Berlin Baecks Unmut zugezogen hatte, wurde zusammen mit seiner Frau etwa zur selben Zeit wie Baeck nach Theresienstadt deportiert. Zuvor hatte er ernsthaft erwogen, Nazideutschland zu verlassen.[27] Kurz nach seiner Ankunft wurde Eppstein von der SS zum «Judenältesten» ernannt, der höchsten jüdischen Autorität im Ghetto, eine Position, die er zu seinem persönlichen Vorteil nutzte. Der Älteste, so behauptete H. G. Adler später, habe bekanntermaßen Personen «in Transporte nach Osten geschoben», nur weil sie, obwohl Zionisten wie er selbst, es gewagt hatten, über die grassierende Korruption der Verwaltung des jüdischen Ghettos die Wahrheit zu sagen. Als der Häftling Vladimir Weiss eine lange Eingabe an Eppstein richtete, in der er betrügerische Manipulationen bei der Lebensmittelverteilung anprangerte, verschwanden er, seine Frau und sein Kind mit dem nächsten Transport.[28] Baeck, der die erste Auflage von Adlers Buch über Theresienstadt kannte und dafür ein Vorwort schrieb, wusste von Eppsteins Machenschaften und war darüber entsetzt. Es war nicht nur die zweifelhafte Erfüllung seiner formellen Pflichten, was Baeck – und nicht nur ihn allein – bekümmerte. Es war auch eine Frage des moralischen Feingefühls: Einmal veranstaltete eine Gruppe von Insassen ohne bindenden Einwand seitens Eppstein einen Maskenball am selben Tag, an dem ein Transport in den Osten zusammengestellt wurde.
Vielleicht war es aber vor allem Eppsteins Privatleben, an dem der Rabbiner Anstoß nahm. Anders als Baeck erhielt Eppstein von der SS besondere Gefälligkeiten, insbesondere das Recht, seinen Konzertflügel ins Ghetto mitzunehmen, der in einem geräumigen Zimmer aufgestellt wurde. Er unterhielt bedenkenlos eine außereheliche Beziehung zu einer Frau, der er eine private Unterkunft beschaffte; davon wussten alle. Die Überlebende Vera Schiff erinnerte sich, dass «eine Freundin von mir, Helen, eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit und großem Charme, Eppsteins Geliebte wurde … Obwohl sie ihn leidenschaftlich liebte, hatte [sogar] sie Zweifel an seinem Charakter».[29] Dass Baecks Abneigung gegen Eppstein vor allem in dessen privater Lebensführung begründet lag, wurde von Jacob Jacobson bezeugt, einem anderen Überlebenden, der eher zu Eppsteins Verteidigern gehörte. Jacobson zufolge beruhte Baecks Aversion auf «tatsächlichen oder vermuteten, vielleicht auch nur übertriebenen Abirrungen von dem für einen verheirateten Lagerleiter vorauszusetzenden geraden Weg». Obwohl Jacobson, anders als Baeck, über Eppstein kein Urteil fällen wollte, kam er zu dem Schluss: «Es muss zugegeben werden, es wäre besser gewesen, wenn er in seiner Position als Judenältester keinen Anlass zu leichtfertiger Kritik an seinem persönlichen Verhalten gegeben hätte.»[30] Als Jacobson die beiden miteinander versöhnen wollte, soll Baeck geantwortet haben, falls er und Eppstein das Lager überlebten, würde er nie wieder mit ihm zusammenarbeiten. Der Judenälteste entsprach einfach nicht Baecks moralischen Standards. Eppstein wurde zu einer tragischen Figur und am jüdischen Versöhnungstag des Jahres 1944 in der Kleinen Festung ermordet, weil er dem Willen der SS nicht vollständig gefügig gewesen war.[31]
Eppsteins persönliches Verhalten war nicht untypisch für Häftlinge in Theresienstadt. Obwohl Männer und Frauen größtenteils voneinander getrennt waren, gab es für junge Leute reichlich Gelegenheit zu einem Stelldichein. Wie es eine Überlebende formulierte: «Die Moral ging hier zum Teufel.»[32] Sie erzählte von einem Jugendklub, zu dem junge Frauen erst dann Zutritt erhielten, wenn sie mit allen männlichen Mitgliedern des Klubs geschlafen hatten. Ein anderer Überlebender erzählte, was zwischen jüngeren Eheleuten geschah: Nach dem Abendessen «ging jeder seiner Wege, die Frau zu ihrem Liebhaber – oft der Ehemann einer anderen –, der Ehemann zu seiner Geliebten».[33] Zdenek Lederer erklärte es so: «Nur die Gegenwart war real, und der beste Weg, deren niederschmetternde Konsequenzen zu bekämpfen, war die Suche nach Vergnügungen, besonders sexuellen Vergnügungen.»[34] Nach Ansicht des puritanischen Leo Baeck trug ein solches Verhalten, wenngleich es verständlich war, dazu bei, eine Atmosphäre, die durch die vielen Entbehrungen und dunklen Wolken einer ungewissen Zukunft bereits schwer erträglich war, noch weiter zu vergiften. Zum Glück für ihn und nicht zuletzt dank seiner Initiative existierte in Theresienstadt noch eine andere Kultur, wie es auch eine andere Kultur der Juden in der Zeit der Weimarer Republik gegeben hatte, die nichts mit flüchtigen körperlichen Vergnügungen zu tun hatte, sondern den Geist anregen und über die leidvolle Wirklichkeit erheben konnte.
Auch wenn die Insassen von Theresienstadt viele Stunden am Tag arbeiten mussten und fast immer hungrig waren, gab es abends eine Zeit, zu der Interessierte und körperlich Gesunde an Bildungs- und Kulturangeboten auf einem bemerkenswert hohen Niveau teilnehmen konnten. Zu der vielgestaltigen Bevölkerung des Ghettos zählten Komponisten, Musiker, Schauspieler, Universitätsprofessoren, bildende Künstler und Intellektuelle. Sie brachten genügend Energie auf, um musikalische Aufführungen, Theaterproduktionen sowie Vorträge zu einem breiten Themenspektrum zu organisieren. Kinder zu unterrichten war offiziell verboten, aber den Kindern und ihren Betreuerinnen und Betreuern gelang es dennoch, die Kinderoper Brundibár auf die Bühne zu bringen, mit mehr als vierzig Vorstellungen. Im Ghetto gab es Konzerte mit klassischer Musik, die man in glücklicheren Zeiten gehört hatte, aber es wurden auch Originalkompositionen und Kantorialmusik aufgeführt, wie man sie aus der Synagoge kannte. Nur ein Teil der Ghettobewohner war imstande und interessiert, an diesen künstlerischen Darbietungen teilzunehmen. Wir wissen nicht, an wie vielen solchen Veranstaltungen, wenn überhaupt, Leo Baeck teilnahm. Einem Bericht zufolge «boykottierte» er die Nachmittagskonzerte der Lagerkapelle, vielleicht weil die Musik mit einer Kultur verbunden war, die nicht seinem Geschmack entsprach. Eppstein engagierte sich in diesem Bereich des kulturellen Lebens in Theresienstadt sehr viel stärker als Baeck.[35] Der Rabbiner interessierte sich für eine andere Form der organisierten Freizeit: für wissenschaftliche und geistig anregende Vorträge.
Vorträge im eigentlichen Sinn begannen im Sommer 1942, sechs Monate vor Baecks Ankunft, und setzten sich bis Mai 1945 fort, dem Monat der Befreiung des Ghettos. Einer Zählung zufolge gab es insgesamt 520 Referenten und mindestens 2430 Vorträge.[36] Insassen, die vor ihrer Deportation ein intellektuell reges Leben geführt hatten, sehnten sich danach, wenigstens in diesem geringen Maß eine Verbindung zu ihrem früheren Leben herzustellen. Die NS-Behörden missbilligten solche Vorträge, sprachen sie doch den Juden die Fähigkeit ab, tiefe Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen. Aber da die Vorträge in der Regel spätabends und nicht in einem öffentlichen Rahmen gehalten wurden und zudem nützlich waren, um das Ghetto nach außen als einen angenehmen Aufenthaltsort zu präsentieren, wurden sie nicht verboten.[37] Sein Leben lang, sagte Baeck später, habe er das Licht geliebt. Doch in Theresienstadt kamen Licht und Leben erst nach Einbruch der Nacht. «Hier lernte ich die Dunkelheit lieben.»[38]
Es gab häufig Vorträge, oft vor einem großen Publikum. Selbst die Älteren nahmen es auf sich, lange in den überfüllten Unterkünften zu stehen, gewöhnlich auf dem Dachboden einer der Kasernen. Einem Bericht zufolge konnte selbst bittere Kälte Männer und Frauen nicht abschrecken, die dunklen Stufen zu einem Dachboden hinaufzusteigen, wo ein eisiger Wind durch die Ritzen pfiff.[39] In manchen Wochen fanden bis zu hundert Vorträge zu anspruchsvolleren, teils aber auch zu populären Themen statt. Die Referenten, in der Regel Spezialisten auf ihrem Gebiet, konnten im Bedarfsfall zur Vorbereitung die relativ große Bücherei in Theresienstadt benutzen. Der Leiter des «Vortragswesens» erinnerte sich, wie ergreifend es war, «wenn an Vorabenden katastrophaler Transporte Veranstalter und Publikum Trost und Haltung suchten und gewannen, aus Darbietungen echt künstlerischer oder wissenschaftlicher Natur».[40]
Angesichts von Baecks beharrlicher Weigerung, bei Predigten oder Reden zu rhetorischen Tricks zu greifen, und angesichts seiner nicht besonders kräftigen, ziemlich hohen Stimme und seines Unwillens, ein Thema durch übermäßige Vereinfachung kleinzureden, ist es erstaunlich, dass er mit seinen Vorträgen nicht nur den verfügbaren Raum füllte, sondern zum «populärsten Vortragenden in Theresienstadt» wurde. Der tschechische Jude Norbert Troller nannte in seinen Erinnerungen an Theresienstadt Baecks Vorträge «klug und brillant».[41] Philipp Manes, der die Vorträge organisierte und später in Auschwitz ermordet wurde, dessen Tagebuch aber gerettet werden konnte, schrieb, Baecks Vorträge seien «Muster kristallklarer Darstellungen. Ihm zuzuhören, ist ein Genuß».[42]
Als ich Dr. Leo Baeck zum ersten Male sprechen hörte, war ich erstaunt und überrascht von der Wandlung, die sich seit Berlin eingestellt hat. Er ist völlig anders geworden, leicht und fließend, angenehm anzuhören. In ruhiger Haltung spricht er, ohne Pathos, überzeugend, eindringlich, einprägsam. So stellten wir uns den Philosophen vor, der am Abend seines Lebens die Ernte vieler Jahrzehnte eingebracht und nunmehr davon in froher Geberlaune schenkend verteilt.
Man drängt sich zu seinen Vorträgen, die er ohne das geringste Zeichen von Ermüdung stehend hält … den Spinoza-Vortrag mußte er wiederholen, von so tiefer Wirkung war er.[43]
Für den fünfhundertsten Vortrag am 6. August 1944 wählte Manes Baeck aus, «den würdigsten Redner, den wir im Ghetto – so reich an guten Rednern – besitzen».[44] Eintrittskarten waren sehr begehrt und schwer zu bekommen, denn der Platz war begrenzt.[45] Baeck sprach über ein Thema, für das er sich schon seit langem interessierte: «Lebensalter».[46] Erneut war Manes voll des Lobes: «Dr. Baeck spricht stehend und mit einer Wärme und Hingegebenheit an sein Thema, was immer fesselt. Über eine Stunde hält er uns im Banne seiner Worte, es blühte ein Leben, unser aller Leben, vor uns auf – mit dem einen Motto, man wird nicht alt, wenn man die Kindheit nicht vergißt. Wie Dr. Baeck dieses Leben sich entwickeln und aneinanderreihen läßt, ist ein Erlebnis, das selten bleibt. Atemlos lauschten die Hörer dem nunmehr 71jährigen Redner, der durch seine Frische und geistige Jugendlichkeit den Vortrag absolut beweist und erhärtet. Nicht enden wollender Beifall dankte.»[47] Am nächsten Tag lief Manes Baeck über den Weg, der auf ihn zukam und sich bei ihm für den schönen Abend bedankte, mit jener Bescheidenheit, die ihn auch jetzt auszeichnete.
Manes stand nicht allein mit seiner hohen Wertschätzung für Baecks Vorträge in Theresienstadt. Trude Simonsohn, damals noch recht jung, äußerte sich in einem Interview nach dem Krieg ähnlich begeistert: «Mir ist unvergeßlich, wie Leo Baeck auf dem Boden einer Kaserne über Judentum und Hellenismus sprach. Diese zwei Stunden waren für mich, als ob ich an der Universität wäre und nicht im Lager. Man hat sich so in das Geistige hineinversetzt, daß man vergessen hat, daß man friert, daß man Hunger hat und auf einem eiskalten Boden steht.»[48]
Angesichts der im Ghetto herrschenden Zwietracht war Baecks Talent, fast jeden seiner Zuhörer anzusprechen, gewiss ein Grund für die Popularität seiner Vorträge. In mehr als einer Hinsicht dienten sie als eine Brücke: zwischen Juden aus verschiedenen Ländern; zwischen religiösen und säkularen Juden und Juden nur aufgrund der «rassischen» Definition; und nicht zuletzt auch als eine Brücke zwischen der europäischen Kultur und dem jüdischen Erbe.[49] Ruth Klüger, später eine namhafte Literaturwissenschaftlerin, war in dem Jahr, das sie in Theresienstadt verbrachte, erst elf. Aber auch sie besuchte Baecks Vorträge und erinnerte sich besonders daran, dass es ihm gelang, scheinbar obsolete biblische Mythen wie die Geschichte von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen mit der modernen Wissenschaft zu verbinden. Das Maß der biblischen Tage sei nicht dasselbe wie das moderne, sagte er. In der Reihenfolge der Schöpfung hingegen stimme die Überlieferung ziemlich genau mit der modernen Wissenschaft überein. Baeck, so Klüger, «gab uns unser Erbe zurück, die Bibel im Geiste der Aufklärung, man konnte beides haben, den alten Mythos, die neue Wissenschaft». Und sie fügte hinzu: «Baeck muß ein hochbegabter Prediger gewesen sein – wie würde ich mir sonst das alles gemerkt haben?»[50] Jacob Jacobson ging noch weiter, als er sagte, Baecks «ernster moralischer Anspruch, seine große geistige Disziplin und der Zauber seiner Persönlichkeit konnte nur Ehrerbietung wecken; und wenn man Dr. Baeck und seinen Worten Ehrerbietung erwies, erwies man dem Wesen des Judentums Ehrerbietung».[51] Baeck selbst, erstaunt über den großen Andrang bei seinem Vortrag über Platon, fragte sich: «Gibt es ein anderes Volk auf Erden, das eine so tiefe und wahre Beziehung zum Geist hat, dass es angesichts von Erniedrigung und Gefahr nach dem Wort des Philosophen verlangt?»[52]
Während seiner Zeit in Theresienstadt hielt er Vorträge zu mindestens achtunddreißig verschiedenen Themen. Er sprach über Geschichte und Philosophie, über allgemeine und spezifisch jüdische Themen und manchmal sogar über mehr als nur ein Thema. Zu seinen geschichtlichen Vorträgen zählten «Die Religion der Naturvölker», «Die messianische Idee», «Die Zeit der Makkabäer», «Der Talmud», «Das Ghetto des Mittelalters», «Die jüdische Mystik des Mittelalters», «Der Übergang vom Mittelalter zur Neuen Zeit» und «Das Jahrhundert der Aufklärung». Er porträtierte bedeutende jüdische und nichtjüdische Philosophen wie Platon, Maimonides, Galileo Galilei, Spinoza, Moses Mendelssohn, Kant und Hermann Cohen. In Theresienstadt, wo Juden, die zuvor Schreibtischtätigkeiten ausgeübt hatten, zu körperlicher Arbeit gezwungen wurden, war ein Vortrag offenkundig von besonderer Bedeutung. Er trug den Titel «Die Stellung des Arbeiters in der jüdischen Lehre».[53]
Baeck wählte seine Themen und die Art und Weise der Darstellung ganz bewusst nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach spirituellen Erwägungen aus. Nach dem Krieg wurde er gefragt, warum er über den griechischen Philosophen Platon gesprochen habe. Seine Antwort lautete: «Menschen in Bedrängnis sollte man helfen, ihren Geist zu erweitern und an etwas anderes als die Gegenwart zu denken.»[54] Seine Zuhörer sollten ihren Geist zu dem Idealisten und Visionär Platon erheben. Insgesamt handelte etwa die Hälfte der Vorträge Baecks von nichtjüdischen Denkern und Themen. Auf diese Weise konnte er das Interesse von Zuhörern wecken, denen Gestalten und Themen aus der allgemeinen Geschichte und Philosophie vertrauter waren als jüdische Themen. Sie hatten das Gefühl, dass es «für einen Moment wieder so war wie früher», wie einer von ihnen sagte.[55] Doch das heißt nicht, dass Baeck bedeutenden jüdischen Persönlichkeiten keine Beachtung schenkte oder seine Vorträge zu nichtjüdischen Themen als säkular bezeichnet werden können. Ein Vortrag ohne einen religiösen Bezug wäre für Baeck undenkbar gewesen.
Bedauerlicherweise ist der Text nur eines einzigen seiner Vorträge erhalten. Über «Geschichtsschreibung» sprach er am 15. Juni 1944 im «Gemeinschaftshaus» in Theresienstadt.[56] Baeck leitet seinen Vortrag mit ein paar grundlegenden Überlegungen ein: Geschichte sei nicht bedeutungslos; sie bestehe nicht aus Fragmenten, die aneinandergefügt werden müssen, sondern bilde einen «Lebenszusammenhang» von der Vergangenheit in die Gegenwart und weiter in die Zukunft. Der Besitz von Geschichte sei Kennzeichen einer zivilisierten Menschheit, und die Geschichtsschreibung bedürfe der wissenschaftlichen Fähigkeit und der künstlerischen Gabe. Baeck geht historisch vor, beginnend mit einer kritischen Analyse der griechischen Historiker Herodot und Thukydides und weiter mit dem Hellenisten Polybios und dem Römer Tacitus. Er bewundert die Griechen, kritisiert jedoch Polybios für seine Unterwürfigkeit unter die römischen Eroberer und Tacitus für seinen eklatanten Mangel an Sinn für Gerechtigkeit. Wie sehr, so Baeck, unterscheide sich in dieser Hinsicht Tacitus’ Geschichtsschreibung von der des alten Israel. «Gerechtigkeit ist für die israelitisch-jüdische Geschichtsschreibung der letzte Sinn der Geschichte», sagt er. «Wenn das Recht unterginge, dann hätte es keinen Sinn mehr, auf Erden zu leben.» Und offenkundig, um seinen Zuhörern Mut zu machen, fährt er fort: «Wahre Geschichte ist Geschichte des Geistes, des Menschengeistes, der bisweilen ohnmächtig scheinen mag, aber doch zuletzt der Überlegene und Überlebende ist, weil er, wenn er auch die Macht nicht hat, dennoch die Kraft besitzt, die Kraft, die nie aufhören kann.»[57]
Nach einer kurzen Erörterung moderner Historiker – darunter Gibbon und Macaulay in England sowie Niebuhr, Ranke und Mommsen in Deutschland – schließt Baeck mit allgemeinen Bemerkungen, die für seine Zuhörer ergreifend gewesen sein müssen. Ein Volk sterbe, wenn sein Geist sterbe. Ohne es explizit zu sagen, deutet er an, dass ein solches Sterben in Deutschland stattfinde, deutsche Historiker aber keine Notiz davon nähmen, sondern schwiegen. Der Historiker jedoch müsse das Gewissen seines Volkes sein und damit «das aufnehmen, was die Propheten Israels gewesen sind und gezeigt haben»: Er müsse über das eng Nationale hinaus zum Universalen gelangen, zu einer umfassenden Sicht, die einen erstorbenen Geist wieder lebendig machen könne. «Das ist noch jetzt die grosse Aufgabe der Geschichtsschreibung», beschließt Baeck seinen Vortrag in Theresienstadt. «Wiedergeburt manches Volkes könnte dadurch gegeben sein, ein Entdecken der grossen Lebenszusammenhänge, ein Sichfinden aller zur Menschheit.»[58] Dachte Baeck an das nationalsozialistische Deutschland, als er von einem Geist sprach, der trotz allem wiedergeboren werden könne, oder meinte er eine Wiedergeburt des jüdischen Volkes? Wir wissen es nicht, Baeck konkretisiert es nicht. Dennoch waren diese hoffnungsvollen Schlusssätze nicht nur typisch für Baeck, sondern vielleicht auch ein fragiler Trost für seine Zuhörer.
Zu den Referenten in Theresienstadt gehörte auch Regina Jonas, die am Berliner Seminar bei Baeck studiert hatte. Ihre Vorträge firmierten unter dem Titel «Vorträge des einzigen weiblichen Rabbiners Regina Jonas». Doch während sich Baeck auf das Abstrakte und Ideelle konzentrierte, referierte Jonas über den Kern der religiösen Traditionen des Judentums. Baeck sprach als Rabbiner, der auch ein Intellektueller war, Jonas sprach strikt als Rabbinerin. Ihre Vorträge handelten von den religiösen Pflichten, den Freuden der Heiligung des Schabbat und der Chanukkafeier, von Müttern und Vätern in der jüdischen Tradition, vom jüdischen Gebet und von der Notwendigkeit des Gottesdienstes auch und gerade in Theresienstadt. Es ist kein vollständiger Text eines ihrer Vorträge erhalten geblieben, aber einmal sagte sie: «Mann und Frau, Frau und Mann, haben diese Pflicht [die moralische Aufgabe der Juden] in gleicher jüdischer Treue übernommen. Diesem Ideal dient auch unsere ernste, prüfungsreiche Theresienstädter Arbeit.»[59] Mindestens sechs ihrer Vorträge waren der jüdischen Frau gewidmet – deren Stellung in der Bibel und im jüdischen Gesetz, in der jüdischen Kultur und der jüdischen Geschichte. Jonas hielt insgesamt vierundvierzig Vorträge, die eher Predigten waren. Wenn sie nicht öffentlich sprach, besuchte sie jüdische Frauen in den Häusern und Kasernen und überzeugte sie von der Bedeutung des Judentums auch und ganz besonders unter den gegebenen Umständen. Regina Jonas wurde wenige Wochen vor Baeck nach Theresienstadt deportiert; anders als er überlebte sie nicht. Zusammen mit ihrer Mutter wurde sie am 15. Oktober 1944 mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz deportiert.[60]
Die Bedingungen in Theresienstadt änderten sich ständig, manchmal schienen sie sich zu verbessern, dann verschlechterten sie sich wieder. Als im Herbst 1943 ein paar hundert dänische Juden eintrafen, war den Behörden klar, dass Vertreter aus Dänemark verlangen würden, das Ghetto zu besichtigen. Daher beschlossen die Nationalsozialisten, es vorzeigbar zu machen. Bei Ankunft der Kommission, der zwei Vertreter der dänischen Regierung und ein Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes angehörten, im Juni des folgenden Jahres hatte die SS das Lager einer «Verschönerung» unterzogen, so dass es aussah wie ein Erholungsort oder, wie es die Deutschen damals nannten, ein jüdisches Heim für die Kranken und Alten. Die Besucher, die acht Stunden vor Ort verbrachten, wurden von SS-Offizieren durch das Ghetto geführt. Nach ihrer Rückkehr berichteten sie – fälschlicherweise –, sie hätten «mit allen sprechen können» und den Eindruck gewonnen, Theresienstadt sei «kein Durchgangslager». Nach Einschätzung der Delegation «sahen die Bewohner gesund aus und nicht unterernährt», es gebe keine Läuse oder anderes Ungeziefer.[61] Aber vielleicht war die Täuschung doch nicht perfekt gewesen. Ein Ghetto-Überlebender meinte, die frisch gestrichenen Häuserfassaden und die auffallende Künstlichkeit der Szenerie hätten auf die Wahrheit hingedeutet. Es steht außer Zweifel, dass der Besuch für die Ghettobewohner keine dauerhafte Verbesserung ihrer Lage brachte. Baeck erinnerte sich, wie ernüchtert er und andere waren, dass das Täuschungsmanöver so erfolgreich gewesen war. «Es schien, als wollten sie die Wahrheit gar nicht wissen», sagte er. «Die Wirkung auf unsere Moral war niederschmetternd. Wir fühlten uns vergessen und im Stich gelassen.»[62] Monate später, kurz vor der Befreiung, kam eine weitere Rotkreuz-Delegation ins Ghetto. Diesmal war es Baeck, der sie durch das Ghetto führte und ihnen zeigte, wie es wirklich war. Der «Kinderpavillon», den man den vorherigen Besuchern stolz gezeigt hatte, so erklärte ihnen Baeck, sei in Wahrheit nie benutzt worden.[63]
Die Verschönerung war nicht der einzige Versuch der SS, der Welt ein positives Bild von Theresienstadt vorzugaukeln. Es wurde auch ein Film gedreht. Unter anderem zeigt er eine Szene mit Insassen, die im nahe gelegenen Fluss baden, was in Wirklichkeit streng verboten war. Und er zeigt Zuhörer eines Vortrags, unter ihnen Leo Baeck, der der intendierten Zielgruppe des Films außerhalb Deutschlands vermutlich besser bekannt war als irgendeiner der anderen. Er trägt den «Judenstern» und sitzt, aufmerksam dem Vortrag lauschend, in der ersten Reihe. Der Film wurde nie öffentlich gezeigt.[64] Die Transporte nach Osten gingen weiter.
Baeck war in Theresienstadt auch gezwungen, sehr persönliche Entscheidungen zu treffen. Einflussreiche Personen wie er konnten erwirken, dass Freunde und Verwandte von den Deportationen ausgenommen und an ihrer Stelle andere abtransportiert wurden, das war nicht ungewöhnlich. Ein solcher moralischer Kompromiss erschien Baeck grundsätzlich unmöglich, und als seine eigene Familie betroffen war, weigerte er sich zu intervenieren – mit der Folge, dass seine Nichte und sein Neffe in den Transport in ein Todeslager kamen.[65] Andere seiner Verwandten starben im Ghetto Theresienstadt oder wurden sofort nach Osten deportiert. Baeck verlor in Theresienstadt vier Schwestern, drei von ihnen vor, die vierte kurz nach seiner Ankunft. Seine beiden Brüder kamen in einem Todeslager ums Leben. Diese persönlichen Verluste gehörten zu den leidvollen Erinnerungen, die Baecks späteres Widerstreben erklären, über seine Erlebnisse im Ghetto zu sprechen.[66]
Merkwürdigerweise glaubten die NS-Behörden, Baeck sei im Ghetto umgekommen. Anscheinend war ein gewisser Rabbiner Beck aus Mähren gestorben, und die Sache war publik geworden. Es verbreitete sich die Annahme, es handle sich um den Rabbiner Leo Baeck. Zu den wenigen öffentlichen Erinnerungen Baecks an Theresienstadt zählt ein Wortwechsel im April 1945, als Baeck in einem der Ghetto-Büros war:
Die Tür öffnete sich und ein SS-Offizier trat ein. Es war Eichmann. Er war sichtlich betroffen, mich zu sehen. «Herr Baeck, Sie leben noch?» Er sah mich sorgfältig an, als wenn er seinen Augen nicht traute, und fügte kalt hinzu: «Ich dachte, Sie wären tot.»
«Herr Eichmann, Sie scheinen ein zukünftiges Ereignis vorauszusagen.»
«Jetzt verstehe ich. Totgesagte leben länger, nicht wahr?»[67]
Diese überdeutliche Anspielung in den Worten Adolf Eichmanns, des Organisators der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Juden, dem Baeck schon in Berlin begegnet war, gab ihm die Gewissheit, dass sein Ende in der einen oder anderen Weise unmittelbar bevorstand. Dennoch ließ er sich nicht einschüchtern. Als Eichmann ihm die Tür versperrte, legte er seine Hand auf Eichmanns Arm, direkt unter der Schulter, schob ihn sanft zur Seite und ging. Während er die Treppe hinunterging, spürte er Eichmanns erstaunten Blick im Rücken.[68]
Baeck schrieb unverzüglich Abschiedsbriefe, sagte Freunden Lebwohl und machte sich bereit für das, was kommen würde. Doch soweit wir wissen, tauchte seine Nummer nicht für den Transport nach Auschwitz auf. Wäre es anders gekommen, hätte Baeck gewiss darauf verzichtet, einen Ersatz für sich vorzuschlagen. Nach dem zu urteilen, was er zuvor geschrieben hatte, hätte er wohl das Gebot von kiddusch haschem vollzogen, den Märtyrertod: ein Selbstopfer anstelle der Rettung des eigenen Lebens auf Kosten eines anderen. Glücklicherweise hatte Baeck in Theresienstadt bei den Deportationen keinerlei Funktion. Die SS legte die Anzahl der Personen, die Altersstufe und das Geschlecht fest, und diesen Vorgaben entsprechend musste die jüdische Selbstverwaltung die Transporte zusammenstellen. Den Vorsitz des Ältestenrats übernahm Baeck erst, nachdem die letzten Transporte abgegangen waren.[69]
Wie wir wissen, war Baeck noch in Berlin gezwungen gewesen, zwei höchst umstrittene Entscheidungen zu treffen: in der Frage, ob Juden dabei mitwirken sollten, die zur Deportation Bestimmten zu informieren und zu den Sammelstellen zu begleiten; und ob er künftigen Opfern sagen sollte, was sie, nach allem, was er Grund hatte anzunehmen, am Ende ihrer Reise erwartete. In Theresienstadt hatte er mit der Organisation der Deportationen nichts zu tun; dafür wurde das zweite Dilemma immer akuter und quälender. Nachdem er – spätestens im August 1943 – erfahren hatte, welches Schicksal diejenigen erwartete, die in Viehwaggons verladen und aus Theresienstadt weggebracht wurden: Sollte er sein Wissen öffentlich machen?[70]
Nach der Befreiung des Ghettos begegnete Heinrich Liebrecht, ein ehemaliger Ghettoinsasse, der Auschwitz überlebt hatte und nach Theresienstadt zurückgekehrt war, Leo Baeck auf den Wällen der Festung. Sie erkannten und umarmten einander, glücklich darüber, dass sie noch am Leben waren. «Zuweilen», soll Baeck zu ihm gesagt haben, «hing es nur an einem seidenen Faden bei mir wie für alle Theresienstädter.»[71] Liebrecht ergriff die Gelegenheit, Baeck zu seinen Entscheidungen zu befragen. Im Verlauf des folgenden Gesprächs sagte Baeck, dass er die Möglichkeit zum physischen Widerstand verworfen habe, die Liebrecht ihm seinerzeit vorgeschlagen hatte. Baeck rief ihm das Schicksal seiner tüchtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Berlin in Erinnerung, die allein auf den bloßen Verdacht hin, aktiven Widerstand zu leisten, umgebracht worden waren. Als dann aber im Oktober 1944 die sogenannten Arbeitstransporte vom Ghetto abgingen, so Baeck, habe er ernstlich den physischen Widerstand erwogen, dann indes erneut verworfen. Die Vergeltung der Nationalsozialisten in Theresienstadt wäre nicht weniger massiv und brutal gewesen als in Berlin. Auf die Frage, ob er gewusst habe, wohin die Transporte gingen, sagte Baeck:
Ob nach Auschwitz, wußte ich nicht. Aber daß man die nicht zu schwerer Arbeit Fähigen wahrscheinlich sofort umbringen würde und die Arbeitsfähigen bis zu ihrer Vernichtung durch Hunger und Entbehrungen für die Kriegsmaschinerie arbeiten zu lassen beabsichtigte, das war mir als das Ziel der Gestapo bekannt. – Ich wand mich damals in Gewissensqualen: Sollte man die Qualen der für den Abtransport Bestimmten durch ein selbst herbeigeführtes Massaker verkürzen oder dem Überleben einiger, wenn auch vielleicht ganz weniger, eine Chance geben? Ich sagte mir dann schließlich: wenn auch nur ein einziger überleben werde, dürfe man ihn nicht opfern.[72]
Als Baeck nach dem Krieg erfuhr, dass einige aus Theresienstadt Deportierte tatsächlich die Todeslager überlebt hatten, war sein Gewissen zumindest etwas beruhigt, und er fühlte sich in seiner Entscheidung bestätigt. Ein aus Verzweiflung begangener Massenselbstmord wäre nicht besser ausgegangen.
Einige waren mit Baeck der Ansicht, es sei besser, Stillschweigen zu bewahren. Zu ihnen zählte auch Paul Eppstein, für dessen Charakter Baeck so wenig übrighatte. Auch Eppstein befürchtete, dass den nahezu 35.000 Insassen des Theresienstädter Ghettos sonst eine Katastrophe drohte.[73] Er hielt es für besser, wenn nur einige wenige die Wahrheit kannten. Die wenigen, die bei der Befreiung des Ghettos noch am Leben waren, waren gleichfalls überzeugt, dies sei die richtige Entscheidung gewesen. Charlotte Opfermann erinnerte sich: «Wir wollten es nicht wissen … es hatte bereits so viele Selbstmorde gegeben.»[74] Und die Überlebende Ruth Bondy sagte: «Wir wussten, dass Transporte die Trennung von der Familie bedeuteten, das Exil ins Unbekannte, und dass alles von vorne beginnen würde, unter noch schwierigeren Bedingungen.» Doch sie fügte hinzu: «Diejenigen, die unwissend in die Gaskammern gingen, konnten ihre Meinung nicht äußern.»[75]
Einer von denen, die Baeck nach dem Krieg widersprachen, war Paul Tillich, einer seiner Freunde und Bewunderer. Baecks Verteidiger fanden es richtig, Mitgefühl zu zeigen und die Not nicht durch Angst noch weiter zu verschlimmern. Tillich dagegen war der Auffassung, Baeck hätte seine Informationen weitergeben sollen. «Die ganze existentielle Wahrheit», so der protestantische Theologe, sollte immer zugänglich gemacht werden, «ebenso wie dem unheilbaren Patienten immer die ganze Wahrheit gesagt werden sollte».[76] Doch in der damaligen Zeit war es üblich, einem Todkranken das schmerzliche Bewusstsein seines bevorstehenden Endes zu ersparen. Abgesehen davon, dass der Tod nicht für alle absolut sicher war und ein solches Wissen eine «Katastrophe» ausgelöst hätte, wie Eppstein es ausgedrückt hatte, folgte Baeck mit seinem Stillschweigen nicht nur seiner persönlichen, sondern auch der damals herrschenden Moral.
Im Dezember 1944 verbreitete sich im Ghetto das Wissen über die Konzentrationslager, als vierhundert slowakische Juden, die über Auschwitz informiert waren, aus einem Lager in der Slowakei eintrafen und berichteten, was sie wussten.[77] Aber jetzt schien der Sieg der Alliierten näher als je zuvor. Die Rote Armee war nicht mehr weit entfernt, und die deutschen Behörden trieb die Sorge um, was für ein Bild das Ghetto der Weltöffentlichkeit präsentieren würde. Gleichzeitig wollten sie die Zahl der Holocaust-Überlebenden auf «natürliche» Weise verringern und schickten rund fünfzehntausend hungernde und todkranke Insassen aus Arbeits- und Konzentrationslagern im Osten nach Theresienstadt. Völlig erschöpft und nur noch Haut und Knochen, konnten sie nicht essen, was man ihnen anbot. Viele brachen zusammen und starben. Sie brachten eine Fleckfieber-Epidemie mit, die sich schon bald im ganzen Ghetto ausbreitete. Baeck erinnerte sich, dass die letzten Wochen vor der Befreiung am 10. Mai 1945 mit die schlimmsten waren: «Von überall her aus den Lagern wurden die Flecktyphus-Kranken in offenen Güterwagen nach Th. gebracht – aus einem Zuge haben wir mehr als hundert Menschen, die unterwegs gestorben waren, herausgetragen, es war wie ein Los, wen die Ansteckung traf, und der Plan war klar, das Lager zu ‹liquidieren›.»[78] Im Mai, als die Krankheit besonders schwer wütete, starben 730 Personen, einige vor und einige nach der Befreiung. Die noch verbliebenen Bewohner des Ghettos harrten geduldig aus, bis medizinische Hilfe eintraf und die Menschen kräftig genug waren, um das Ghetto zu Fuß zu verlassen.
Erneut – diesmal nach der Befreiung durch die Rote Armee – verzichtete Baeck auf die Möglichkeit, sich einer Verantwortung zu entziehen, die ihm erst kurz zuvor auferlegt worden war. In diesen letzten Tagen, nachdem er endlich eingewilligt hatte, sich aktiv an den Entscheidungen im Ghetto zu beteiligen, übernahm er offizielle Aufgaben. Er fuhr für einen Tag nach Prag, wo er Medikamente abholte, die aus Amerika eingetroffen waren und für die Kranken bestimmt waren. In der tschechischen Hauptstadt sagte der amerikanische Major Patrick Dolan, der die Medikamente gebracht hatte, zu ihm, er sei befugt, ihn nach England zu fliegen, wo seine Familie schon auf ihn warte. Baeck lehnte ab. Er müsse noch vier oder fünf Wochen bleiben, um den kranken und den gesunden Überlebenden des befreiten Ghettos zu helfen, Kraft zu schöpfen und eine Möglichkeit zur Abreise zu finden. Erst einen Monat später, Ende Juni, als der Major wiederkam, um ihn abzuholen, ging er mit. Am 1. Juli, so erinnerte sich Baeck, brachte ihn eine große amerikanische Flying Fortress nach Paris. Von dort flog er mit einem englischen Kampfflugzeug nach London, wo seine Tochter, sein Schwiegersohn und seine Enkelin ihn ungeduldig erwarteten. Für den Rest seines Lebens war Baeck dankbar, vor dem – Eichmanns verhüllter Drohung zufolge sicheren – Tod gerettet worden zu sein.
Als die siegreichen Sowjets das Ghetto besetzten, drängten sie die befreiten Opfer, Rache an ihren Peinigern zu nehmen. Einige Holocaust-Überlebende taten es. Baeck nahm an solchen Aktionen nicht teil. Erich Warburg, der an der Evakuierung Theresienstadts beteiligt war, berichtete, was Baeck damals sagte: «Berührt sie nicht, ignoriert sie. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Unrecht mit einem anderen Unrecht zu vergelten.»[79] Unter Berufung auf den Römerbrief (Röm 12,19) erklärte er, Rache gehöre Gott allein.[80]
Aber die schmerzvollen Erinnerungen an seine Erfahrungen in Theresienstadt ließen sich nicht so einfach abschütteln. Sosehr Baeck sich auch bemühte, sie in die Vergangenheit zu verbannen, es gelang ihm nicht: «Vor mir tauchen so manches Mal die Schatten auf, die Schatten derer, die zu Grunde gegangen, die Schatten derer, die zu Grunde richteten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Bild vor mir steht oder ein Ton in mein Ohr tritt: das jähe Pochen oder Schellen, wenn die Schergen, wie an manchem Tage, um mich hierhin oder dorthin zu holen, Eintritt forderten. Ein Freund hier [in London], dessen Vater mir nahe stand, pflegt zu sagen: time is a good healer (Zeit ist ein guter Heiler). Ob er recht hat? Es ist schwer, aus einer schweren Zeit wieder ganz hergestellt zu werden, und vielleicht dauert doch manchmal die Genesung so lange wie die Krankheit.»[81] Trotzdem weigerte er sich, in der Vergangenheit zu leben. In London angekommen, blickte er zurück im Zorn, aber er schaute auch voller Hoffnung in die Zukunft.