3

Er kam so langsam wieder zu Bewusstsein, wie ein Ertrinkender, der nach Luft schnappt und in einer Welt erstickender Schwärze versinkt. Doch dann erschien ein kleiner Lichtpunkt in der Dunkelheit, als die Augen, die seit über einem Jahrhundert nichts mehr gesehen hatten, wieder anfingen ihren Dienst zu verrichten.

Abraham Turners Brustkorb hob sich, als er rasselnd Luft in seine trockenen, ausgedörrten Lungen saugte.

Die Leere, in der er geschlummert hatte, wich der vertrauten Umgebung der Bude, die sich unter seinem Haus in Mayfair befand. Er öffnete den Mund, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die so trocken wie Sandpapier waren, und überlegte, ob er es wagen sollte, sich zu bewegen.

Er fühlte sich alt. Uralt.

Er spürte den Zahn der Zeit, der sich durch seine ausgemergelten Muskeln und versteinerten Knochen fraß. Ein Gedanke zuckte durch sein erwachendes Gehirn. Eine Erinnerung an seine letzten Momente, oder zumindest die letzten, die er bis jetzt erlebt hatte. Zwei Männer, von denen er einen wiedererkannte und den anderen nicht. Sie waren in sein Haus eingedrungen. In seinen heiligen Tempel. Und irgendwie wussten sie auch, wie sie ihn aufhalten konnten.

Ein Name tauchte im Nebel auf.

Abberline.

Detective Inspector Frederick Abberline.

Er spürte einen Anflug von Wut, als er sich an den Inspector erinnerte, der mit dem Blasebalg in der Hand auf ihn zukam, während der Mann mit den glitzernden Handschellen an seiner Seite stand.

Diese Fesseln waren nun verschwunden, ebenso wie der Goldstaub, mit dem er betäubt worden war, um sich zu unterwerfen. Auch Abberline war verschwunden. Er wusste nicht, woher er das wusste, nur dass der Inspektor schon lange weg war. Nichts als Staub und Knochen.

Abraham fasste endlich den Willen, sich zu bewegen. Er ballte seine Fäuste, die Gelenke knackten, als sich seine steifen Finger um die Armlehnen des Stuhls schlangen. Behutsam richtete er sich auf und vergewisserte sich, dass er seine Beine noch belasten konnte.

Der Schmerz in seinen Muskeln ließ jetzt nach und wurde zu einem dumpfen Ziehen. Er sah sich um und stellte erschrocken fest, dass viele seiner wertvollsten Besitztümer fehlten, darunter auch das Messer, das ihm so gute Dienste geleistet hatte. Er fasste mit einer Hand an sein Hemd. Tastete nach der Taschenuhr, die dort noch hängen sollte. Sein Magen verkrampfte sich vor Panik, als er sie nicht fand.

Sie war weg. Zweifellos gestohlen von Abberline und seinem Kumpanen. Eine Versicherungspolice für den Fall, dass ihn jemand aus dem ewigen Schlummer befreien würde.

Auf unsicheren Beinen stolperte er vorwärts und steuerte auf den einzigen Eingang des Raumes zu. Er schirmte seine Augen vor dem hellen Licht ab, das durch das klaffende Loch drang, und machte sich auf den Weg zur Treppe. Als er den ersten Stock erreichte, hielt er inne.

Sein Haus, das einst prächtig und gemütlich gewesen war, war kaum noch wiederzuerkennen. Von seinen Möbeln fehlte jede Spur. Die Wände waren verschwunden, nur ein skelettartiges Gerüst aus Holzstützen war übrig. Die Treppe, die zu seinem Schlafzimmer im zweiten Stock führte, befand sich in einem ähnlichen Zustand. Staub und Schutt bedeckten den Boden. Werkzeuge lagen verstreut herum, von denen er einige erkannte, andere nicht. Eines war klar. Dies war nicht mehr sein Zuhause. Hätte er Trauer empfinden können, hätte der triste Zustand seines früheren Zuhauses dieses Gefühl in ihm ausgelöst, aber das war nicht der Fall.

Die Eingangstür stand offen. Von draußen hörte er Stimmen. Weiblich. Das Adrenalin schoss in ihm hoch. Die Taschenuhr mochte zwar verschwunden sein, aber er spürte immer noch das Verlangen nach Blut. Er warf einen Blick auf sein Handgelenk, wo das verschlungene Symbol in einen Kreis eingebrannt war. Vielleicht brauchte er die Uhr ja gar nicht.

Abraham stürzte auf die Tür zu. Er wünschte sich, er hätte das Messer, seine zuverlässige Klinge. Auf der Suche nach einem geeigneten Ersatz warf er einen Blick auf die ausrangierten Werkzeuge. Auf einem metallenen Werkzeugkasten fand er es. Ein Messer mit kurzer Klinge und eigenartiger Form. Er nahm es hoch und wog es in seiner Hand. Das Messer war ungewöhnlich leicht; der Griff passte sich seinen gekrümmten Fingern an, und die kurze, dünne Klinge war kaum länger als drei Zentimeter lang. Es fühlte sich in seinem Griff schwach an. Keine anständige Waffe, aber für den Moment würde es ausreichen.

Er steuerte auf die Tür zu und hielt inne, um die Lage zu beurteilen. Draußen war es dunkel; die Mews waren lediglich in das schwache Licht der in regelmäßigen Abständen aufgestellten Straßenlaternen getaucht. Das Geplapper war inzwischen verstummt. Zwei Männer und eine Frau standen in der Nähe einer pferdelosen Kutsche von seltsamer Form. Eine andere, größere Kutsche befand sich direkt vor ihm an der Bordsteinkante. In einiger Entfernung hörte er andere Stimmen, in denen er die Hemmungslosigkeit der Trunkenheit erkannte. Das letzte Mal, als er dieses Gebäude verlassen hatte – wie lange das her war, wusste er nicht – hatte es an der Ecke einen Pub gegeben. Anscheinend war es immer noch da. Er spürte, wie sein Körper nach dem Blut dürstete, das ihn beleben und seinen erschöpften Körper wiederherstellen würde. Es kostete ihn all seine Willenskraft, sich von der Gruppe in der Nähe der pferdelosen Kutsche abzuwenden. Diese Straße war zu belebt. Er brauchte ein besser geeignetes Opfer. Ein einsames Opfer.

Abraham wandte sich ab, neigte den Kopf, damit ihn niemand sehen konnte, und schlurfte die Straße hinunter, so schnell es seine steifen Beine zuließen. Er trat auf die Straße, um auf die andere Straßenseite zu gelangen und somit dem Pub auszuweichen. Er war kaum drei Schritte gegangen, als ein plötzliches Kreischen die Luft zerriss. Grelles Licht flackerte um ihn herum auf. Abraham hob die Arme, um sein Gesicht abzuschirmen, und sah eine der monströsen pferdelosen Kutschen ausscheren. Als das Fahrzeug auf seiner Höhe war, erschien ein Gesicht am Seitenfenster, dessen Stirn vor Wut in Falten lag.

„Runter von der Straße, du Idiot!“ Der Fahrer hob eine Hand und machte eine Geste, die Abraham nicht verstand, und dann verschwand das Gefährt in der Nacht, die Rücklichter leuchteten rot wie ein Paar dämonischer Augen.

Abraham stand einen Moment lang fassungslos da. Wie lange hatte er wohl geschlafen? Was war das für eine seltsame neue Welt mit Fahrzeugen, die wie gleislose Lokomotiven dahinfuhren – nur ohne Dampf? Das würde er noch früh genug herausfinden, da war er sich sicher. Doch zuerst hatte er ein dringenderes Bedürfnis. Vor ihm befand sich eine Gasse zwischen zwei Gebäuden, auf die ein schlankes Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren aus Richtung des Pubs zuging, ein wenig unsicher auf den Beinen. Er beobachtete, wie sie die Gasse betrat. Die Dunkelheit verschluckte sie.

Abraham lächelte, oder zumindest wäre es ein Lächeln gewesen, wenn die steife mumifizierte Haut, die sich über seinen Schädel spannte, dies zugelassen hätte. Es spielte nun keine Rolle mehr, wie viele Jahre vergangen waren, denn heute Nacht würde alles wieder von Neuem beginnen.