Der Kellerraum der University of Central London hätte auch als Lagerraum durchgehen können, und tatsächlich befanden sich dort zahllose Regale mit Büchern, alten Forschungsunterlagen und Kisten mit Gegenständen, die in der Obhut der kriminologischen Abteilung gelandet waren, viele von ihnen im Zusammenhang mit jahrzehnte- oder sogar jahrhundertealten Verbrechen. Unter dem Fußboden eines Hauses aus dem siebzehnten Jahrhundert wurden die Knochen eines Mordopfers gefunden, dessen Schädel von einer lange längst verschollenen Waffe gespalten worden war. Eine antike Seltersflasche, mit der eine Herzogin aus dem viktorianischen Zeitalter ihren Mann vergiftete. Ein silbernes Zigarettenetui mit einem Einschussloch. Diese und hunderte andere Gegenstände lagen in der dunklen und engen Kammer, vergessen von allen außer den wenigen Forschern, die gelegentlich einen Gegenstand zur Untersuchung entnahmen.
Heute befand sich nur eine Person in dem Raum. Die Kriminalhistorikerin Callie Balfour saß über das Messer von Jack the Ripper aus dem Stadthaus in Mayfair gebeugt und untersuchte die Klinge mit einer Lupe. Die dunklen Flecken auf dem alten Metall waren Blut, da war sie sich sicher. Ein Beweis für die Gewalt, die diese Waffe vor über einem Jahrhundert ausgeübt hatte. Sie drehte das Messer mit einer behandschuhten Hand um, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte es. Sie fragte sich, wie viele Menschen den kalten Biss des Messers an ihrem Hals gespürt hatten. Das Letzte, was sie jemals gefühlt hatten. Es gab natürlich die fünf, die bekannt waren, aber wie viele andere Opfer hatte dieses Messer gefordert? Und vor allem: Warum war das Messer überhaupt dort gewesen? Jemand hatte sich viel Mühe gegeben, um sicherzustellen, dass die Person, die in diesem kleinen unterirdischen Raum eingemauert war, nie wieder eine Gewalttat begehen würde. Man hatte sich damit begnügt, einen der berüchtigtsten Serienmörder des neunzehnten Jahrhunderts anonym bleiben zu lassen. Aber warum? Sicherlich wäre es dem öffentlichen Interesse dienlicher gewesen, den Verrückten zu entlarven, ihn vor Gericht zu stellen und dem Terror in den Straßen von Whitechapel ein Ende zu setzen.
Sie gähnte. Callie hatte seit der Entdeckung des Kellerraums kaum geschlafen. Am Anfang war sie aufgeregt und voller Adrenalin gewesen und konnte ihre Augen kaum von den fesselnden Artefakten losreißen, die sie sichergestellt hatten. Da waren die von Jack selbst gesammelten Zeitungsausschnitte, eine grausam narzisstische Hommage an sein tödliches Werk. Da war die Karte von Whitechapel mit verblassten Markierungen, die die Tatorte der einzelnen Verbrechen zeigten. Einige dieser Markierungen bezogen sich auf bekannte Opfer des Rippers. Ein paar stimmten mit Morden überein, die dem Mörder zwar mutmaßlich zugeschrieben wurden, aber nie in die offizielle Liste aufgenommen wurden. Callie bemerkte, dass diese Morde die Zahl von Jacks bestätigten Opfern noch erhöhen würden. Am erschreckendsten waren die Spuren, die mit keinem der bekannten Morde in Verbindung gebracht wurden. Mindestens acht an der Zahl. Standen diese verblassten Punkte auf der Karte für Morde, die nie untersucht wurden? Das viktorianische London und insbesondere die Elendsviertel im East End waren ein harter, von Gewalt geprägter Ort. Es wäre ein Leichtes gewesen, ein Verbrechen zu vertuschen, wenn die Opfer bei den Behörden der damaligen Zeit kaum Ansehen genossen. Die Mittellosen. Prostituierte. Kleinkriminelle und Taschendiebe. Alkoholiker. Die Langzeitarbeitslosen. Das waren die vergessenen Menschen der Hauptstadt, ein Schandfleck für die Gemüter der Oberschicht. Es war einfacher, wegzuschauen, als sich mit der Hässlichkeit eines Klassensystems auseinanderzusetzen, das die ungleiche Verteilung des Wohlstands in der Stadt so deutlich machte.
Später, als das Hochgefühl abgeklungen war, fand sich Callie in einer düsteren Faszination wieder. Selbst wenn sie versuchte, sich auszuruhen, ließ sich ihr Geist nicht abschalten. Sie fühlte sich wie ein außer Kontrolle geratener Zug, der auf ein unbekanntes Ziel zuraste, ohne dass sie anhalten konnte.
Und dann war da noch die verschwundene Leiche. Die hatte in den letzten achtundvierzig Stunden für viel Unruhe gesorgt. Wie konnte jemand sie gestohlen haben? Die Nachricht über den Fund war noch nicht einmal bekannt. Das würde erst am nächsten Morgen geschehen, wenn jemand der Londoner Presse einen anonymen Hinweis zukommen lassen würde. Als sie an die verschwundene Leiche dachte, spürte sie einen Anflug von Wut. Was für interessante Funde lauerten wohl in dieser Leiche? Was befand sich in seinen Taschen? Wie war er gestorben? Am frustrierendsten war jedoch, dass sie zum ersten Mal seit über einem Jahrhundert in der Lage gewesen wären, das wahre Gesicht eines Monsters zu sehen. Stattdessen hatten sie nichts in der Hand.
„Ich habe nicht damit gerechnet, hier unten noch jemanden anzutreffen. Es ist schon nach acht Uhr.“
Eine Stimme durchbrach Callies Gedankengänge und brachte sie aus dem Konzept. Sie blickte auf und sah Martin Slade, einen Assistenten der kriminologischen Abteilung und einen der beiden anderen Universitätsangestellten, die bei der ersten Untersuchung des Kellerraums anwesend gewesen waren, in der Tür stehen.
„Es fällt mir schwer, mich loszureißen.“ Callie wusste, dass sie nach Hause gehen, etwas zu Abend essen und sich ins Bett verkriechen sollte. Früh schlafen gehen. Ein oder zwei Schlaftabletten würden genügen. Morgen würde sie erfrischt aufwachen und wäre bereit, loszulegen.
„Hast du etwas Neues herausgefunden?“ Martin trat an den Schreibtisch heran und ließ sich gegenüber von Callie in einen Stuhl sinken.
„Nicht viel.“ Callie warf einen Blick auf das Messer. „Ich habe Proben von dem Material auf der Klinge genommen und zur Analyse geschickt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um Blut handelt.“
„Denk nur an all die Menschen, die wegen diesem Ding gestorben sind.“ Martins Blick wanderte nach unten. „Es ist schwer, das nicht zu sehen.“
„Ich finde es furchtbar.“ Callie rieb sich die Augen. „Faszinierend, aber trotzdem gruselig.“
„Was ist mit der Leiche?“ Martin löste seinen Blick von der Klinge. „Hast du etwas dazu gehört?“
„Nichts Brauchbares.“ Callie hatte bei der Polizei angerufen, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Sie hatte auf gute Nachrichten gehofft. Es gab keine. Es war, als hätte sich die Leiche in einer Rauchwolke aufgelöst. Nicht, dass ein Verschwinden einer halb mumifizierten Leiche ganz oben auf der Liste der Fälle stand, die von der örtlichen Polizei unbedingt aufgeklärt werden musste, auch wenn der Fall von historischer Bedeutung war. Die Polizei hatte andere Sorgen. So wie der brutale Mord an einer Studentin, die auf dem Heimweg von einem Abend mit Freunden im Pub war. Ein Mord, der in der gleichen Nacht und nur einen Häuserblock von der ehemaligen Wohnung des Rippers entfernt geschah. Ein Verbrechen, das in seiner Methode Jacks eigenen Gräueltaten ähnelte. Der erschreckende Zufall war ihr nicht entgangen.
„Sie werden ihn finden, du wirst schon sehen.“
„Das hoffe ich auch.“ Callie wünschte sich, sie würde den Optimismus ihres Kollegen teilen. Sie gähnte erneut, weil die Erschöpfung sich ihren Weg an die Oberfläche gebahnt hatte. „Ich gehe jetzt nach Hause. Das solltest du auch.“
„Gleich. Ich möchte mir nur noch einmal diese Zeitungsausschnitte ansehen.“ Martin deutete mit einem Nicken auf die Zeitungsausschnitte, die er von der Kellerwand abgenommen hatte und die sich jetzt, voneinander durch Kartonblätter getrennt, in einer Schachtel befanden.
„Sei vorsichtig“, mahnte Callie. „Ich habe noch keine Kopien gemacht.“
„Natürlich.“ Martin nickte.
Callie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie schnappte sich ihre Tasche und drehte sich zur Tür, bevor sie zu Martin zurückblickte. „Schließ ab, wenn du gehst. Ich will nicht, dass noch etwas abhanden kommt.“
„Wird gemacht.“ Martins Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln. „Wir sehen uns dann morgen.“
„Bis morgen.“ Callie erreichte die Tür und zögerte dann, weil sie ein plötzliches Unbehagen überkam. Sie blickte zurück zu Martin, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Sie versuchte zu ergründen, woher das seltsame Gefühl kam, aber es gelang ihr nicht, also schob sie es beiseite und begab sich zur Treppe.