Als Decker, Colum und Mina im Curryhaus ankamen, war nur ein weiterer Tisch besetzt. Ein dunkelhäutiger Herr, dessen Bauch über seine Hose hing, bat sie, sich irgendwo hinzusetzen. Er schien sich nicht im Geringsten an neuen Gästen zu stören, so spät am Abend. Das stand im deutlichen Gegensatz zu Deckers Zeit in Wolf Haven, wo um neun Uhr abends alles geschlossen und verdunkelt war. Die Möglichkeit, zu jeder Zeit etwas zu essen zu bekommen, war ein Luxus, den er vermisst hatte, seit er New York City verlassen hatte, wo viele Restaurants rund um die Uhr geöffnet waren. Während seiner Zeit bei der Mordkommission hatte er sich daran gewöhnt, zu ungewöhnlichen Zeiten zu essen, und er empfand es als nostalgischen Trost, zu so später Stunde noch etwas zu essen zu bekommen.
Während sie aßen, informierte sich Decker über alles, was in Minas Leben passiert war, seit sie einander das letzte Mal gesehen hatten. Seit Shackleton hatten sie nur sporadisch Kontakt gehalten, aber jetzt schwärmte sie vom College und den wunderbaren Möglichkeiten, die sich ihr boten. Zum Beispiel von ihrem Umzug nach London, der durch ein Austauschprogramm ermöglicht wurde, das den besten Studenten erlaubte, ein Jahr lang im Ausland zu verbringen. Sie strahlte vor Zufriedenheit.
Als das Essen beendet war, verabschiedeten sie sich voneinander. Mina versprach, dass sie sich melden würde, sobald sie Zugang zu Jacks Kellerraum bekommen hätte. Dann stieg sie auf Deckers Drängen hin in ein Taxi, obwohl sie beteuerte, dass die öffentlichen Verkehrsmittel sicher genug seien. Er wollte nicht, dass sie allein auf der Straße war. Nicht, solange Jack auf freiem Fuß war.
Nachdem sie gegangen war, schlenderten Colum und Decker zurück zum Hotel. Als sie die Lobby betraten, hielt Colum inne.
„Hast du Lust auf einen Schlummertrunk?“
„Ich glaube nicht.“ Es ging auf Mitternacht zu und Decker wollte am nächsten Tag frisch und ausgeruht sein. Er steuerte auf den Aufzug zu. „Aber mach du nur.“
„Nein, ich trinke nicht so gerne alleine.“ Colum folgte Decker durch die Lobby. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich schon bettreif bin. Ich denke, ich werde im Internet nachschauen, ob ich herausfinden kann, wem das Stadthaus um 1800 gehörte.“
„Viel Glück dabei“, meinte Decker, als der Aufzug ankam. Sie fuhren in den achten Stock und gingen dann getrennte Wege. Als sie die Tür seines Hotelzimmers erreichten, drehte sich Decker wieder zu Colum um. „Bleib nicht zu lange auf. Ich möchte, dass du morgen hellwach bist.“
„Du weißt schon, dass ich hier der ranghöhere Agent bin, oder?“ erklärte Colum. „Du bist immer noch ein Frischling.“
„Wenn es um Monster geht, bist du der Frischling.“ Decker hielt seine Schlüsselkarte über das Lesegerät und wartete auf das Klicken, als sich der Riegel zurückzog, bevor er seine Tür öffnete. „Grendel war dein erstes, glaube ich.“
„Es kommt auf die Qualität an, nicht auf die Quantität.“ Colum konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er seine eigene Tür aufstieß und eintrat. „Wir sehen uns morgen früh. Schlaf gut.“
Decker nickte und betrat sein Zimmer. Er schloss die Tür und schloss den Sicherheitsriegel, dann hängte er seinen Mantel in den Schrank. Jenseits des Hotelzimmerfensters erstreckte sich die Weite des Hyde Parks und darüber hinaus eine Million funkelnder Lichter in der ganzen Stadt.
Decker stand am Fenster und blickte auf die belebte Skyline. Irgendwo da draußen, inmitten dieser glühenden Lichtpunkte, trieb ein Mörder sein Unwesen. Ein Mann, der schon seit mehr als einem Jahrhundert tot und begraben sein sollte. Stattdessen war er freigelassen worden, um eine blutige Schneise durch die Straßen zu schlagen. Ein durchtriebenes Tier, das von der Gier nach Blut besessen war. Er würde wieder töten, da war sich Decker sicher. Die Frage war nur, wann?
Er wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf die Bettkante, dann zückte er sein Handy und rief Nancy an. Als er darauf wartete, dass sie abnahm, überkam ihn ein Gefühl der Vorahnung. Er legte auf und tippte eine schnelle SMS an Mina. Er war erleichtert, als sie ihm sofort antwortete. Sie hatte das Studentenwohnheim erreicht und lag bereits im Bett. Zufrieden, dass es ihr gut ging, rief er erneut Nancy an. Doch selbst als sie sich meldete und sich freute, von ihm zu hören, wurde er das Gefühl der Unruhe nicht los. Mina war für den Moment in Sicherheit. Er hoffte nur, dass das auch so bleiben würde.