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Mina hatte verschlafen und war nun zehn Minuten zu spät zu ihrer Vorlesung über Verbrechenssoziologie gekommen. Sie eilte die Stufen des William-McDaniel-Gebäudes hinauf und drängte sich an einer Gruppe von Studenten vorbei, die vor dem Haupteingang warteten. Drinnen angekommen, raste sie durch die Lobby, eine Treppe hinauf in den zweiten Stock und einen Korridor entlang, bis sie den Hörsaal erreichte. Sie betrat ihn so leise wie möglich durch die Hintertür und steuerte auf einen freien Platz zu.

„Schön, dass Sie doch noch kommen konnten, Miss Parkinson.“ Ihr Auftritt war Prof. Edgerton nicht entgangen, der sie vom Podium aus mit einem stählernen Blick bedachte.

„Tut mir leid“, sagte Mina, leicht außer Atem. Sie setzte sich schnell hin und holte ein iPad aus ihrer Tasche. „Ich habe verschlafen. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Das will ich hoffen“, sagte der Professor, der sie noch nicht ganz vom Haken lassen wollte. „Vielleicht sollten Sie in einen guten, altmodischen Wecker investieren. Der funktioniert viel besser, als wenn Sie sich auf Ihr Handy verlassen, das kann ich Ihnen versichern.“

„Ich werde darüber nachdenken, danke.“ Mina kauerte sich in ihrem Sitz zusammen und fühlte sich unwohl unter den Blicken von mehr als einem Dutzend Studenten, die sich umgedreht hatten, um das Objekt des Zorns des Professors zu beobachten. Sie atmete erleichtert auf, als Edgerton sich wieder der Tafel zuwandte, an die er die Frage geschrieben hatte: Hängt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand kriminell wird, vom sozialen Status und der gesellschaftlichen Klasse ab? Jetzt kritzelte er eine Aufzählung von Argumenten auf, die er nach und nach erläuterte.

Minas Aufmerksamkeit schweifte ab. Wie konnte sie sich auf die Soziologievorlesung konzentrieren, wenn Jack the Ripper, der vor kurzem aus seinem jahrzehntelangen Schlummer erwacht war, sich irgendwo da draußen herumtrieb? Die Antwort war einfach. Sie konnte es nicht. Sie wollte sich auf die Suche nach Callie Balfour machen und sich Zugang zum Versteck des Rippers verschaffen. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Sie hatte Decker erzählt, dass Callie eine Freundin sei, aber in Wirklichkeit hatten sie nur ein paar Mal miteinander gesprochen, und auch das nur kurz. Callie war eine promovierte Wissenschaftlerin, viel höher auf der Karriereleiter als Mina, und ihre Gespräche fanden meistens im Hörsaal statt, wenn Callie eine Vorlesung hielt. Das hielt Mina jedoch nicht davon ab, nach der Vorlesung aus dem Saal zu stürmen und sich auf die Suche nach ihr zu machen, wobei sie die Forscherin genau dort fand, wo sie sie erwartet hatte: in den Tiefen des Gebäudes. Mina nahm den Aufzug in die untere Etage und ging einen schwach beleuchteten Korridor entlang, der auf der einen Seite von einem Archiv und einem Lagerraum und auf der anderen Seite von einem Versuchslabor flankiert wurde, bis sie das Forschungsbüro der kriminologischen Abteilung im Keller erreichte. Die Tür stand einen Spalt breit offen und ein dünner Lichtstreifen drang aus dem Inneren. Sie klopfte dreimal leicht an die Tür.

„Ja?“ Eine weibliche Stimme ertönte von hinter der Tür.

„Ich suche Dr. Balfour?“, fragte Mina durch den Türspalt.

„Dann haben Sie Glück.“

Mina verweilte draußen und wartete auf eine weitere Bestätigung, dass sie Callie Balfour tatsächlich gefunden hatte. Als keine kam, sprach sie wieder durch die Tür. „Dr. Balfour?“

„Ich glaube, das habe ich bereits gesagt.“ Callies Stimme drang wieder zu Mina durch. „Wollen Sie den ganzen Tag im Korridor stehen oder ist es Ihnen lieber, wenn wir von Angesicht zu Angesicht reden?“

„Oh. Richtig.“ Mina kam sich dumm vor. Sie stieß die Tür auf und trat ein.

Der Raum sah aus, als hätte sich ein Sammler mit einem Fetisch für Verbrechen hier niedergelassen. In den Regalen stapelten sich wahllos Bücher und sogar einige auf dem Boden. In jeder freien Ecke standen Kisten. Sogar eine antike Schrotflinte lehnte an einer Vitrine, als wäre ihr Besitzer gerade von der Jagd zurückgekehrt.

Mina warf einen Blick auf die Waffe. „Das Ding ist doch nicht geladen, oder?“

„Seien Sie nicht albern.“ Callie Balfour musterte Mina mit einem amüsierten Gesichtsausdruck. „Es ist schon hundert Jahre her, dass jemand damit geschossen hat. Das Ding würde wahrscheinlich vor Ihrer Nase explodieren, wenn Sie es versuchen.“

„Gut zu wissen.“ Mina verweilte in der Tür, unbeholfen.

„Ich habe Sie schon mal auf dem Campus gesehen“, sagte Callie. „Sie sind Amerikanerin. An unsere Uni gewechselt.“

„Eigentlich nur für einen Austausch.“

„Wie auch immer, wollen Sie nicht herüberkommen und sich setzen?“ Callie deutete auf einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite ihres Schreibtisches. „Sie machen mich ganz schön nervös.“

„Oh.“ Mina eilte zu dem Stuhl und setzte sich, ein bisschen zu heftig. Sie machte sich bisher nicht gerade gut und fragte sich, warum sie so aufgeregt war. Vielleicht, weil sie Decker unbedingt beeindrucken wollte. Und auch, weil sie ihn nicht enttäuschen wollte, nachdem er sie in seine Ermittlungen aufgenommen hatte.

Callie musterte sie. „Ich nehme an, es gibt einen Grund, warum Sie mich aufgesucht haben?“

„Ja.“ Mina nickte. „Es war doch Ihr Team, das den Raum von Jack the Ripper unter diesem Haus in Mayfair untersucht hat.“

„Das ist richtig.“ Callie schaute misstrauisch. „Lassen Sie mich raten: Sie wollen mich fragen, ob ich es Ihnen zeigen würde.“

„Nun ...“

„Dachte ich mir schon. Sie sind heute schon die Dritte. Ich musste praktisch den Sicherheitsdienst rufen, um einen pickeligen Jungen im Gebäude für Geisteswissenschaften loszuwerden, der behauptete, er sei ein Nachfahre von Jack the Ripper. Das ist natürlich nicht möglich, da niemand die Identität des Mannes kennt, aber man muss ihm zugutehalten, dass er es versucht hat. Ich werde Ihnen das Gleiche sagen, was ich auch den anderen gesagt habe. Es ist nicht möglich.“

„Hören Sie mir doch erst einmal zu, bevor Sie Nein sagen.“ Mina spürte einen Anflug von Panik. „Ich habe einen triftigen Grund, versprochen.“

„Das dürfte interessant werden.“ Callie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Ich warne Sie, Jacks Nachfahre hat die Latte ziemlich hoch gelegt.“

„Ich weiß, Sie denken, ich bin bloß eine Studentin, aber ich arbeite eigentlich mit einer Organisation zusammen, die in der Lage sein könnte, Jack the Ripper zu identifizieren. Genau aus diesem Grund wurden ein paar Ermittler nach London geschickt.“ Mina war klar, dass sie die Wahrheit verdrehte. „Es ist wirklich sehr wichtig, dass wir in diesen Raum kommen.“

„Ich verstehe.“ Callie sah nicht überzeugt aus. „Wenn sie zu einer seriösen Organisation gehören, warum stellen sie ihre Anträge dann nicht auf dem offiziellen Weg?“

„Es ist ...“ Mina spürte, wie sie in die Enge getrieben wurde. Sie versuchte, eine Antwort zu finden. „So einfach ist das nicht.“

„Das ist es nie.“

Mina spürte, dass Callie kurz davor war, sie zum Gehen aufzufordern. „Sie müssen sich unauffällig verhalten. Sie wollen keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.“

„Ooh. Ganz schön geheimnisvoll.“

„Sie könnten dabei helfen, Ihre verschwundene Leiche zu finden.“ Mina trat die Flucht nach vorn an, und das wusste sie. „Ich wette, die Polizei war keine große Hilfe.“

„Es scheint nicht gerade ihr Hauptanliegen zu sein.“ Callie sah nachdenklich aus. „Wissen Sie was, ich mache mit. Zumindest lockert es das Einerlei meines Tages auf. Wie wäre es mit 14 Uhr?“

„Ich frage sie.“ Mina empfand eine Welle der Begeisterung.

„Lassen Sie es mich anders ausdrücken. Ich habe um 14 Uhr Zeit. Entweder Sie kommen oder Sie lassen es.“

„Wir kommen“, erwiderte Mina. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Es war 10.45 Uhr, und um elf hatte sie eine Vorlesung. „Vielen Dank. Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet.“

„Ich kann es mir denken, wenn ich Ihr Gesicht sehe“, lächelte Callie. „Ein gut gemeinter Rat. Fangen Sie niemals mit dem Pokern an. Sonst verlieren Sie eine Menge Geld.“

„Ich werde es mir merken“, erklärte Mina.

„Gut.“ Callie deutete auf die Tür. „Und jetzt machen Sie, dass Sie rauskommen. Ich muss noch arbeiten und ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie noch eine Vorlesung haben.“