Decker und Colum kamen ein paar Minuten vor zwei Uhr nachmittags am Stadthaus in Hay’s Mews an. Als sie dort eintrafen, wartete Mina bereits auf sie. Neben ihr standen eine zierliche blonde Frau, die Mitte zwanzig zu sein schien, und eine Bohnenstange von einem Jungen, dessen Haut so blass war, dass Decker sich fragte, ob er jemals länger als eine Stunde am Stück die Sonne gesehen hatte. Als die beiden sich der Gruppe näherten, winkte ihnen Mina mit einem Grinsen im Gesicht zu.
„Ihr seid früh dran“, meinte Mina.
„Du auch“, erwiderte Decker. Er warf einen Blick über die Straße zu der Gasse, die sie am Abend zuvor untersucht hatten. Das Klebeband am Tatort war noch da, aber eine Seite hatte sich gelöst und lag nun auf dem Bürgersteig.
„Mensch, dafür würde ich auf keinen Fall zu spät kommen.“ Sie stieß einen aufgeregten Schrei aus. „Hier hat Jack the Ripper gelebt. Ich hätte einen Monat lang auf dem Bürgersteig gezeltet, um das zu sehen, wenn es nötig gewesen wäre.“
„Gut, dass das nicht nötig sein wird“, sagte Decker lächelnd. „Ich habe gehört, dass es im Herbst in London ziemlich kühl wird.“
„Es kann ein bisschen frisch sein“, sagte die blonde Frau, die zum ersten Mal das Wort ergriff. Sie trat vor und streckte eine Hand aus. „Ich bin Dr. Callie Balfour.“
„Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Decker nahm ihre Hand und schüttelte sie. „Sie müssen Minas Freundin von der Universität sein.“
„Mina und ich sind uns schon ein paar Mal über den Weg gelaufen, meistens während der Vorlesungen“, erklärte Callie ohne Umschweife. „Ich bin Postdoc in der Abteilung für Kriminologie. Mein Spezialgebiet sind historische Verbrechen.“
„Daher auch Ihr Interesse an Jack the Ripper“, bemerkte Decker.
„Natürlich. Dabei handelt es sich um eines der faszinierendsten ungelösten Verbrechen der Geschichte.“ Callies Blick wanderte zu Colum. Sie musterte ihn anerkennend von oben bis unten. „Sie haben mir Ihren Freund noch gar nicht vorgestellt.“
„Mein Name ist Colum, Ma’am. Es ist mir ein Vergnügen.“
„Sie sind Ire.“
„Ja, das bin ich.“ Colum ließ eine Reihe weißer Zähne aufblitzen. „Das werden Sie mir doch nicht übel nehmen, oder?“
„Das werden wir noch sehen.“ Jetzt war es an Callie zu lächeln. Sie deutete auf den jungen Mann an ihrer Seite. „Das ist mein Forschungsassistent, Martin Slade.“
„Hi“, erwiderte Martin und schaute Mina schüchtern an. „Wir besuchen gemeinsam ein paar Vorlesungen.“
Mina nickte. „Ich weiß. In Soziologie sitzt du hinter mir.“
Martin nickte und lächelte. „Ja, das stimmt. Ich wollte dich schon lange ansprechen, hatte aber nicht den Mut dazu.“
„Nun, jetzt hast du ihn ja.“ Mina errötete.
Callie überging die unbeholfenen Flirtversuche ihres Assistenten. Sie wandte sich an Decker und Colum. „Wollen Sie beide einen Blick in das Versteck von Jack the Ripper werfen?“
„Wir können es kaum erwarten“, entgegnete Mina und gab niemandem sonst die Chance zu antworten.
„Dann folgen Sie mir.“ Callie schloss die Tür auf und öffnete sie. Sie trat ein und wartete auf die anderen, bevor sie den Flur entlang zur Tür an der Rückseite des Hauses ging.
Im Inneren roch es nach zersägtem Holz. Die Wände waren bis auf die Grundmauern niedergerissen, die Treppe teilweise demontiert. Ausrangierte Werkzeuge lagen hier und da, und in dem, was vom Wohnzimmer übrig geblieben war, stand eine Tischsäge. Decker fragte sich, warum die Arbeit nicht fortgesetzt wurde und wie Callie in den Besitz eines Schlüsselbundes gekommen war.
Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, blieb Callie an der Kellertür stehen und drehte sich zu ihnen um. „Der Besitzer dieses Hauses hat uns freundlicherweise erlaubt, vor Abschluss der Renovierungsarbeiten Nachforschungen anzustellen. Wir haben noch eine Woche lang Zugang zum Keller, bevor die Arbeiten wieder aufgenommen werden.“
„Was passiert danach?“, fragte Mina.
„Ich weiß nicht.“ Callie öffnete die Kellertür und stieg nach unten. Als sie unten angekommen waren, führte sie sie zur hinteren Wand, wo ein dunkles Loch klaffte. Ein Haufen Ziegelsteine wies auf die Entdeckung des geheimen Raums hin. „Ich würde gerne glauben, dass diese Kammer für die Nachwelt erhalten wird. Es gibt Gerüchte, dass sie intakt bleiben soll, falls man irgendwann einmal Führungen durch das Haus anbieten will. Dieses Gebäude hat fast über Nacht eine gewisse Berühmtheit erlangt. Das Interesse ist groß.“
„Ich kann verstehen, warum“, meinte Decker. „Jack the Ripper hat die Menschen seit Generationen gefesselt.“
„Gefesselt?“, fragte Callie, als sie ein paar tragbare Arbeitslampen einschaltete. „Eher von ihnen Besitz ergriffen. Stimmt’s, Martin?“
„Ein bisschen Besessenheit schadet nicht“, antwortete Martin. „Außerdem ist das hier wirklich faszinierend. Überlegt mal, wo wir hier sind. Der Whitechapel-Mörder könnte genau hier gestanden haben, auf den Steinen unter meinen Füßen.“
„Martin hat mich praktisch angefleht, ihn in das Team aufzunehmen“, sagte Callie. „Er hat seine Doktorarbeit über den Ripper geschrieben.“
„Klingt, als hätten wir einen Ripperologen in unserer Mitte“, erklärte Colum.
„Besser gesagt, zwei“, antwortete Mina. „Ich wollte schon immer mal nach London, nur um Whitechapel zu sehen.“
„Wollen wir hier den ganzen Tag stehen und quatschen, oder wollen Sie sehen, weswegen wir hierher gekommen sind?“ Callie wies auf das Loch in der Wand und den Raum dahinter, der jetzt von den Arbeitslampen beleuchtet wurde.
„Natürlich.“ Decker trat über den Haufen Ziegelsteine und in den Raum. Er war größer, als er sich vorgestellt hatte, mit Wänden aus alten Ziegeln und einer Decke, die von stabilen Holzbalken gestützt wurde. Staub und Spinnweben bedeckten jede Ecke. Die Luft roch alt und muffig. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch und daneben ein Stuhl aus Holz.
„Dort haben wir die Leiche gefunden.“ Callie deutete mit einem Nicken in Richtung des Stuhls. „Er saß dort und starrte auf die Tür, als ob er sich wünschte, er könnte fliehen.“
„Genau das ist passiert“, sagte Mina.
„Erinnern Sie mich nicht daran“, sagte Callie reumütig. „Die Polizei ist immer noch nicht näher an ihm dran als in der Nacht, als er verschwand. Zum Glück haben wir ihm vorher die Handschellen abgenommen.“
„Handschellen?“ Colum hob eine Augenbraue.
„Ja. Die Leiche saß da, die Hände auf dem Rücken, die Handgelenke mit einem Paar goldener Handschellen gefesselt.“
„Wenn Sie goldene sagen ...“
„Dann meine ich das genau so. Die Handschellen sind aus purem Gold. Wir haben sie in der Universität.“
„Sie müssen ein kleines Vermögen wert sein“, sagte Colum. „Ich hoffe, Sie bewahren sie sicher auf.“
„Sie befinden sich in einem feuerfesten Safe in meinem Büro“, erklärte Callie. „Ich gehe kein Risiko ein, wenn es sich um etwas handelt, das einen solchen historischen und finanziellen Wert hat.“
„Gut zu hören.“ Decker sah sich im Raum um und nahm jedes Detail in Augenschein. „Was haben Sie hier noch gefunden?“
„Ein Messer“, antwortete Callie. Sie zeigte auf den Tisch. „Es lag genau da, als hätte er es erst gestern benutzt. Es war ziemlich gruselig, um ehrlich zu sein.“
„Es war noch Blut daran“, erklärte Martin und seine Augen funkelten vor Aufregung. „Könnt ihr das glauben? Nach all den Jahren war das Blut seiner Opfer immer noch auf der Klinge getrocknet.“
„Das ist ja furchtbar“, stellte Mina mit einem Schaudern fest. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, auf diese Art und Weise zu sterben.“
„Nicht wahr?“ Martin trat zu dem Tisch hinüber und berührte die hölzerne Oberfläche mit fast ehrfürchtigem Respekt. „Zu spüren, wie die Klinge über deine nackte Haut gleitet. Sie schneidet bis auf die Knochen, während das Blut aus deinem Körper fließt. Stellt euch das nur mal vor.“
„Lieber nicht, Freundchen, wenn das für Sie in Ordnung ist“, sagte Colum. Er warf einen Blick auf Decker. „Ich bin mir nicht sicher, ob es viel gibt, was uns hier weiterhelfen kann.“
„Das sehe ich auch so“, erwiderte Decker. Er wandte sich an Callie. „Danke, dass wir den Raum sehen durften. Wir wissen das zu schätzen.“
„War mir ein Vergnügen“, sagte Callie. „Mina erwähnte, dass Sie für eine Ermittlungsorganisation arbeiten. Würden Sie mir sagen, für wen?“
„Das können wir leider nicht“, antwortete Decker.
„Das habe ich mir schon gedacht. Sie sehen aus wie Spione, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, warum Regierungsagenten ein Interesse an dieser Sache haben sollten.“ Callie schüttelte den Kopf und lächelte reumütig. „Ich hätte wohl fragen sollen, bevor ich Sie hier runter gelassen habe.“
„Vermutlich“, gab Decker zu.
„Sie hätten es mir aber trotzdem nicht gesagt, oder?“
„Nein, aber ich hätte mir vielleicht eine plausible Geschichte ausgedacht, um hier reinzukommen.“
„Wenigstens sind Sie ehrlich.“ Callie verschränkte die Arme. „Hat Mina die Wahrheit gesagt, als sie sagte, Sie könnten mir helfen, Jacks Leiche zu finden?“
„Wir haben die feste Absicht, Jacks Leiche zu finden“, sagte Colum. „Das versichere ich Ihnen.“
„Na, das ist doch schon mal was.“ Callie deutete mit einem Nicken in Richtung Tür. „Wenn die Herren dann fertig sind, ich habe noch einen arbeitsreichen Nachmittag vor mir.“
„Ich denke, wir haben alles gesehen, was wir brauchen.“ Decker kramte in seiner Tasche und holte zwei Visitenkarten hervor, auf denen nur sein Name und eine Telefonnummer standen, die zu dem Telefon führte, das Adam Hunt ihm in Irland gegeben hatte. Es handelte sich dabei nicht um die echte Nummer des Telefons, sondern um eine virtuelle, die nicht zurückverfolgt werden konnte und die er nach Belieben ändern konnte. Auf die Rückseite der Karte schrieb er den Namen ihres Hotels und die Zimmernummer. Er reichte Callie eine Karte und die zweite ihrem Assistenten Martin. „Wenn sich etwas ergibt, kontaktieren Sie mich bitte.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nötig sein wird“, sagte Callie und steckte die Karte in ihre Handtasche. „Aber ich werde sie aufbewahren, nur für den Fall. Ich nehme an, Sie rufen mich an, wenn Sie meine verschwundene Leiche gefunden haben?“
„Natürlich.“ Decker sah zu, wie Martin die andere Karte in die Innentasche seines Mantels steckte. „Sie haben mein Wort.“