28

Der VW-Käfer war am Straßenrand abgestellt. Decker warf einen Blick durch das Fenster und sah Stephanie Gleason hinter dem Steuer sitzen. „Wohin wollen Sie?“, fragte sie.

„Zurück zu unserem Hotel“, erwiderte Decker.

„Na, dann springen Sie mal rein, ich fahre Sie hin.“

Decker sah Colum an, der mit den Schultern zuckte. „Das schont die Spesenrechnung.“

„Also gut“, meinte Decker, öffnete die Beifahrertür und schob den Sitz nach vorne. „Wer soll auf dem Rücksitz Platz nehmen?“

„Ich glaube, du bist dran.“ Colum verschränkte seine Arme und musterte Decker. „Du darfst immer vorne sitzen, und ich bin größer.“

„Du bist nicht größer, nur breiter.“ Decker stieg hinten ein und klappte den Sitz in die richtige Position.

„Wo übernachten Sie?“, fragte Stephanie.

„Im Reardon Grand“, antwortete Colum.

„Hyde Park. Schick.“ Stephanie riss das Lenkrad nach rechts und fuhr los. „Ihre Organisation muss ja finanziell gut aufgestellt sein.“

Colum überging die Bemerkung. „Wenn Sie mir die Frage gestatten, Miss Gleason, warum sind Sie eigentlich hier?“

„Das ist eine gute Frage“, erklärte Decker. „Sie sind vor uns aufgebrochen. Sind Sie uns gefolgt?“

Stephanie zögerte, bevor sie das Wort ergriff. „Gut. Ja, ich bin Ihnen gefolgt. Aber es ist nicht so, wie es aussieht. Ich wollte mit Ihnen unter vier Augen reden, also habe ich gewartet, bis Sie allein waren. Ich habe Ihnen nicht alles über die Uhr erzählt. Ich weiß, wofür Jack the Ripper sie braucht. Oder besser gesagt, warum.“

„Ich höre“, sagte Decker.

„Er will die Steinscheibe, die darin versteckt ist.“

„Warum haben Sie uns das nicht einfach gesagt, als wir an der Universität waren?“, fragte Colum.

„Das konnte ich nicht. Meine Familie ist zur Verschwiegenheit verpflichtet und darf nur mit Mitgliedern des Ordens darüber sprechen. Ich hatte keine andere Wahl, als diese Forscherin, Callie, in unser erstes Gespräch einzubeziehen, denn ich brauchte sie, um an Sie heranzukommen. Aber je weniger sie weiß, desto besser. Zu ihrem eigenen Schutz.“

„Mir scheint, wir haben ihr schon genug gesagt“, meinte Colum.

„Deshalb werden Sie sie auch im Auge behalten müssen“, erklärte Stephanie. „Sehen Sie, ich habe die Regeln nicht gemacht. Ich befolge nur die Anweisungen von Thomas Finch. Wenn Sie Callie einweihen wollen, nachdem ich Ihnen gesagt habe, was ich weiß, dann ist das Ihr gutes Recht. Zu diesem Zeitpunkt liegt es nicht mehr in meiner Hand. Wenn ihr etwas zustößt, wird es nicht an mir liegen.“

„Es geht also nur darum, Ihr Gewissen zu beruhigen“, meinte Colum. „Um sicherzustellen, dass Sie kein Blut an Ihren Händen haben.“

„Keineswegs“, antwortete Stephanie. „Es ist besser, wenn sie nichts davon weiß. Wie Sie schon sagten, könnte sie allein durch die Verbindung mit uns in Gefahr sein.“

„Das gilt auch für Sie“, stellte Decker fest.

„Ich befinde mich nicht in größerer Gefahr als je zuvor. Seit dem Tod meines Vaters habe ich mich ein Jahrzehnt lang um die Schachtel gekümmert. Jack hätte jederzeit zurückkommen und mich aufsuchen können. Wenn überhaupt, dann bin ich jetzt sicherer, da Sie hier sind.“

„Eine gute Einschätzung.“ Decker beobachtete aus dem Seitenfenster des Autos, wie die dunklen Straßen von London an ihm vorbeizogen. „Wir sind bald im Hotel. Wenn Sie uns etwas zu sagen haben, tun Sie es jetzt.“

„Natürlich.“ Stephanie holte tief Luft. „Wie ich schon sagte, weiß ich, wozu die Steinscheibe in der Uhr dient. Jack, oder besser gesagt Abraham Turner, kann sein Leben ohne sie nicht verlängern. Er muss das Blut eines Opfers auf das in den Stein geritzte Muster auftragen und den Stein dann an das entsprechende Symbol halten, das in sein Handgelenk eingebrannt ist. Wenn sein Opfer stirbt, überträgt es seine Lebenskraft auf ihn. Er bekommt all die verbleibenden Jahre des Opfers. Das hält ihn auch jung und frisch. Er wird wiederbelebt. Ich weiß nicht, wie das funktioniert, ich nehme an, es ist eine Art dämonische Magie.“

„Das ist ein guter Grund, dafür zu sorgen, dass er die Schachtel nicht in die Finger kriegt“, bemerkte Colum.

„Denn wenn er das tut, würde er in der Öffentlichkeit untertauchen und wir würden ihn nie finden.“ Decker erschauderte, als er sich an das Bild erinnerte, das Callie ihnen gezeigt hatte. Die verhutzelte und mumifizierte lebende Leiche, die immer noch in seinem Stuhl saß. Im Moment würde er sich wegen seines grotesken und unverwechselbaren Aussehens kaum frei bewegen können, aber wenn er sich verjüngte, würde ihre Aufgabe ungleich schwieriger werden.

„Da ist noch etwas anderes. Die Uhr in der Schachtel war nicht das Einzige, was Thomas Finch über die Generationen hinweg weitervererbt hat.“ Sie fuhren jetzt mit hoher Geschwindigkeit weiter. Stephanie bahnte sich ihren Weg durch die Straßen mit der Zuversicht von jemandem, der die Stadt gut kennt. „Sehen Sie im Handschuhfach nach.“

Colum tat, was sie verlangte, und fand darin einen orangefarbenen gepolsterten Umschlag. Er zog ihn heraus. „Was ist das?“

„Schauen Sie hinein.“

Colum öffnete die Klappe, griff hinein und holte einen zweiten, viel älteren Umschlag heraus. Dieser wies erhebliche Verschmutzungen auf, das Papier war braun und fleckig. „Ein Brief?“

„Ja“, stellte Stephanie fest. Sie näherten sich jetzt dem Hyde Park. Sie verringerte die Geschwindigkeit und bog in die Park Lane ein.

„Was steht da drin?“, fragte Colum. Er untersuchte den Brief kurz und gab ihn dann an Decker zurück.

„Ich weiß nicht genau. Der Brief ist versiegelt, seit Thomas Finch ihn 1889 verfasst hat. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es handelt sich um einen Ratschlag, wie man den Ripper unschädlich machen kann.“

„Eine Botschaft aus dem Jenseits“, meinte Decker.

„Ganz genau.“ Stephanie hielt vor dem Hotel an. „Sie sollten mit dem Öffnen warten, bis Sie Ihre Hotelzimmer erreicht haben. Die Anweisungen waren ziemlich eindeutig. Nur Sie, als Vertreter des Ordens, dürfen den Inhalt sehen.“

„Wenn das so ist, dann warten wir.“ Decker wartete darauf, dass Colum seine Tür öffnete und ausstieg, dann folgte Decker ihm. Bevor er die Tür schloss, lehnte er sich zurück und begegnete Stephanies Blicken. „Eine Sache noch, Miss Gleason.“

„Ja?“

„Wo können wir Sie erreichen, falls wir Sie brauchen?“

„Hier.“ Stephanie lehnte sich über den Beifahrersitz und reichte Decker eine Visitenkarte.

„Danke“, sagte Decker. Er warf einen Blick auf die Karte. „Sie sind Architektin.“

„Ja. Hauptsächlich Wohnhäuser“, nickte Stephanie. „Wenn Sie Ihr Doppelhaus aufstocken oder einen Schuppen bauen wollen, bin ich genau die Richtige für Sie.“

„Das werde ich mir merken“, erklärte Decker. Er griff in seine Tasche und holte eine seiner eigenen Karten heraus. „Sie können mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen.“

„Ich hoffe, dass ich das nicht brauchen werde“, erwiderte Stephanie und nahm die Karte entgegen.

„Ich auch“, stimmte Decker zu, dann drehte er sich um und folgte Colum ins Hotel.