Abraham verharrte im Dunklen und beobachtete die blonde Frau, die in ihrem Büro herumlief. Er hielt das Messer in der Hand, bereit, hervorzutreten und sie zu überwältigen, falls es nötig werden sollte. Irgendwann dachte er, sie hätte ihn entdeckt. Sie war stehen geblieben und schaute von ihrem Schreibtisch auf, ein nervöser Ausdruck glitt über ihr Gesicht. Doch dann schnappte sie sich ihre Handtasche und ihren Mantel und verließ eilig den Raum. Einen Moment später hörte er das Klicken eines Riegels, als sie die Tür hinter sich abschloss.
Nun war Abraham allein.
Er verweilte noch einen Moment im Halbdunkel, um sich zu vergewissern, dass sie nicht zurückkommen würde, dann trat er hinaus und begann mit seiner Suche. Die Wände waren mit Regalen vollgestopft, die vom Boden bis zur Decke reichten. Das würde eine Weile dauern. Er begann mit dem nächstgelegenen. Die Uhr war nicht da. Er wechselte zum nächsten Regal – mit dem gleichen Ergebnis. Die Uhr war klein, aber er konnte ihre Energiespuren in der Luft verspüren, so wie das Nachglühen eines Sonnenuntergangs. Wenn sie hier war, würde er sie finden. Er wollte gerade zu einem anderen Regal weitergehen, als er Schritte aus dem Korridor hörte, die sich näherten.
Er fragte sich, ob die Frau wohl zurückkam. Vielleicht musste er das Messer doch noch benutzen. Er durchquerte den Raum und schlüpfte zurück in sein Versteck. Keinen Moment zu früh.
Die Tür schwang auf.
Er drückte sich flach an die Wand, als ein schlaksiger Junge mit kurzen lockigen Haaren den Raum betrat.
Der Neuankömmling schaute sich verstohlen um und eilte dann zum Schreibtisch. Er zog die Schublade auf und griff hinein. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie ein Messer in der Hand.
Abrahams Messer.
Das Messer, mit dem er seine Opfer umgebracht hatte, bevor Abberline ihn zu einem Jahrhundert der Gefangenschaft in der Dunkelheit verdammte. Er hatte angenommen, dass Abberline und sein Begleiter das Messer zusammen mit allem anderen in Abrahams Keller mitgenommen hatten. Jetzt erkannte er seinen Fehler. Das Messer hatte die ganze Zeit in der Schreibtischschublade gelegen, nur wenige Schritte entfernt, und er hatte es nicht bemerkt. Es kostete ihn in diesem Moment seine ganze Willenskraft, nicht zwischen den Regalen hervorzutreten und den Jungen aufzuschlitzen. Das Messer an sich zu nehmen. Aber das tat er nicht. Denn die ehrfürchtige Art, mit der der junge Mann das Messer in der Hand hielt, hatte etwas an sich. Und da war noch etwas anderes. Abraham erkannte es in den Augen des Mannes. Blutrausch.
Das weckte Abrahams Neugierde. Als der Junge das Messer in seinen Mantel steckte und zur Tür lief, hielt Abraham ihn deshalb nicht auf. Stattdessen wartete er, bis der Mann gegangen war, und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Erst dann schlüpfte Abraham aus seinem Versteck. Er näherte sich der Tür, und drehte den Knauf, um den Riegel zurückzuschieben, dann eilte er dem Jungen hinterher.
Er hielt einen angemessenen Abstand zwischen ihnen und blieb außer Sichtweite, während er dem jungen Mann durch die Eingangshalle des Gebäudes und dann nach draußen folgte. Von dort aus führte ihn der Junge weg von der Universität, durch ein Labyrinth aus engen Seitenstraßen. Es waren nur wenige Menschen unterwegs und wenn der Junge auf einen einzelnen Fußgänger traf, überquerte er die Straße, um ihm auszuweichen, und wandte sein Gesicht ab. Abraham folgte ihm, hielt sich im Schatten auf und mied die gelben Lichtkegel der Straßenlaternen.
Nach einer Viertelstunde, in der sie sich weit von der Universität entfernt hatten, bog der Junge auf einen Weg zu einer Eisenbahnbrücke ab, die über eine tief in die Landschaft eingebettete Gleisanlage mit steilen Böschungen auf beiden Seiten führte. Hier hielt er inne und bog dann vom Weg auf den überwucherten Randstreifen ab. Dort stand ein Gebäude. Ein erhöhtes Backsteingebäude, das einst ein Stellwerk gewesen war, aber inzwischen verfallen und zur Zielscheibe von Vandalen geworden war. Graffiti überzogen die Wände, abstrakte Muster, die einander überlagerten, wobei die frischesten obenauf waren. Die Tür stand an rostigen Scharnieren halb offen, und eine Ansammlung von totem Laub wehte wie eine modrige Schneewehe gegen ihren Rahmen. Der Junge schob sich durch das ungepflegte Gras und blieb auf der Rückseite des Gebäudes stehen, wo er sich außer Sichtweite begab. Abraham wich vom Weg ab und suchte sich auf der anderen Seite ein eigenes Versteck, indem er um eine niedrige Mauer herumschritt, hinter der sich ein Wäldchen mit dürren Bäumen befand. Er tauchte in die Schwärze zwischen den Bäumen ein, schob eine leere Bierdose zur Seite, die zu seinen Füßen lag, und wartete.