Decker wachte früh auf, nachdem er nur ein paar Stunden Schlaf bekommen hatte. Die ganze Nacht über hatte er sich den Kopf zerbrochen, um die Informationen aus dem Brief von Thomas Finch zu verarbeiten. Ganz zu schweigen von den neu gewonnenen Informationen über die Taschenuhr – die jetzt in der goldenen Kiste im Zimmersafe lag – und die seltsame Steinscheibe, die sie enthielt. Um 6 Uhr morgens gab er den vergeblichen Versuch, zu schlafen, auf, zog sich zügig an und machte sich auf den Weg in die Lobby, wo er feststellte, dass der Coffee Shop bereits geöffnet war. Er kaufte sich ein Croissant und einen Milchkaffee und nahm beides mit auf sein Zimmer, wo er beides zu sich nahm, während er mit dem Firmenlaptop, den Adam Hunt ihm vor ihrer Abreise aus Dublin zur Verfügung gestellt hatte, im Internet surfte. Er suchte nach historischen Aufzeichnungen über Thomas Finch, konnte aber nirgendwo im Internet einen Hinweis auf den Mann finden. Über Jack the Ripper gab es zwar eine Fülle von Berichten, aber nichts, was er für nützlich hielt, abgesehen von den Grundlagen, die fast jeder auf der Welt bereits kannte. Es gab keinen Hinweis darauf, dass der Mann festgenommen und heimlich eingemauert worden war, oder dass es einen Geheimbund namens „Order of St. George“ gab. Nicht, dass er das erwartet hätte. Der Vorgänger der CUSP war sicherlich genauso geheimnisvoll wie sein modernes Gegenstück. Trotzdem war er ein wenig überrascht, dass es nicht einmal den Hauch eines Gerüchts über die Organisation gab. Es war schwer, absolute Geheimhaltung zu wahren. Er dachte noch darüber nach, als es an der Tür klopfte.
Er klappte den Laptop zu und öffnete, in der Erwartung, dass Colum vor der Tür warten würde. Stattdessen stand ein dunkel gekleideter Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte, im Flur.
„John Decker?“, fragte der Mann mit einer schroffen, autoritären Stimme.
„Ja.“ Decker verspürte ein unangenehmes Kribbeln. Dieser Mann, der eine anthrazitfarbene Jacke und eine gebügelte Hose trug und dessen weißes Hemd am Kragen locker saß, hätte der Hotelmanager sein können. Aber das glaubte Decker nicht. Seine Körpersprache verriet ihn. Dies war ein Polizist.
Als er wieder das Wort ergriff, bestätigte er Deckers Verdacht. „Ich bin Detective Inspector Elliot Mead.“ Er zeigte eine schmale Brieftasche mit einem Dienstausweis darin vor und verstaute sie umgehend wieder. „Dürfte ich Sie um ein paar Minuten Ihrer Zeit bitten?“
„Darf ich fragen, warum?“, erkundigte sich Decker.
„Darf ich reinkommen?“, bat Mead. „Es ist besser, wenn man derartige Angelegenheiten nicht in der Öffentlichkeit bespricht.“
„Sicher.“ Decker zuckte mit den Schultern und trat zur Seite, um dem Polizisten den Zutritt zu seinem Zimmer zu ermöglichen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, wandte er sich wieder an den Mann. „Würden Sie mir bitte meine Frage beantworten?“
„Wie wäre es, wenn Sie zunächst ein paar von meinen beantworten?“ Die Stimme des Kriminalinspektors klang scharf.
„Schießen Sie los.“ Decker sah keinen Grund, etwas zu verheimlichen. Er fragte sich, warum ein britischer Polizist, noch dazu ein Detective, in seinem Hotelzimmer stand und ihn befragen wollte, aber der schnellste Weg, das herauszufinden, war, ihn fortfahren zu lassen.
„Darf ich fragen, was Sie in London zu tun haben, Sir?“
„Ich arbeite für eine Forschungseinrichtung“, log Decker und nutzte die Tarnung, die Adam Hunt für sich und Colum geschaffen hatte. Wenn irgendjemand einen Background-Check durchführte, würde ihre Geschichte aufgehen, zumindest so lange, bis sie ihren Auftrag ungestört erledigen konnten. „Wir sammeln Informationen über einen Fund von historischer Bedeutung, der nicht weit von hier gemacht wurde.“
„Jack the Ripper.“ Mead hob eine Augenbraue.
„Ja.“ Decker nickte. „Das ist richtig.“
„Ich verstehe. Sie würden also sagen, dass Sie ein berechtigtes Interesse an dem Thema haben.“
„Ich bin mir nicht sicher, wohin das führen soll“, sagte Decker. „Wir haben alle erforderlichen Papiere, um hier zu sein, und wir haben nichts falsch gemacht.“
„Wie würden Sie Ihr Interesse an Jack the Ripper beschreiben?“, fragte Mead.
„Unser Interesse am Ripper ist rein akademisch“, erklärte Decker. Er spürte, dass der Detective Inspector auf irgendetwas hinauswollte, aber nicht auf das das eigentliche Thema zu sprechen kam. Das hatte er selbst bei Verhören als Detective der Mordkommission des NYPD so gemacht. Man stellt dieselbe Frage auf unterschiedliche Weise und hofft, dass der Befragte sich unbeabsichtigt verrennt. Freiwillige Selbstbeschuldigung ist vor Gericht schwer zu verteidigen. „Können wir zur Sache kommen, Detective Inspector Mead?“
„Sehr wohl.“ Mead schaute sich im Raum um und nahm alles in sich auf. Sein Blick blieb auf dem geschlossenen Laptop hängen. „Sie sind Amerikaner.“
„Ja.“ Decker verzichtete darauf, einen Kommentar über die Kombinationsgabe des Mannes abzugeben.
„Wie lange sind Sie schon im Land?“
„Ein paar Tage.“
„Wie viele Tage wären das genau?“, fragte Mead. „Zwei, drei? Mehr?“
„Wir sind vorgestern angekommen.“
„Wo waren Sie davor?“
„In Irland.“
„War diese Reise nach Irland auch eine Geschäftsreise?“
„Ja.“ Decker spürte, wie sich der Detective Inspector im Kreis drehte und nach einer Möglichkeit suchte, das Thema anzusprechen.
„Und was haben Sie dort gemacht?“, fragte Mead. „In Irland.“
„Ich verstehe nicht, was das damit zu tun haben soll.“
„Ich entscheide hier, was von Bedeutung ist. Beantworten Sie meine Frage.“
„Ich wurde nicht in Gewahrsam genommen. Ich habe keine Gesetze gebrochen. Ich brauche Ihre Fragen überhaubt nicht zu beantworten.“ Decker wurde der rätselhaften Fragen überdrüssig, die sicherlich mit dem Ripper und den Morden seit Abraham Turners Auferstehung zu tun hatten. Nicht, dass der Kriminalinspektor gewusst hätte, hinter wem er wirklich her war. Der Mann klammerte sich an einen Strohhalm, suchte verzweifelt nach einer Spur, und irgendwie war Decker derjenige, nach dem er gerade griff. Decker konnte sich nicht erklären, wie der Detective ihn überhaupt gefunden hatte. Er wusste nur, dass er den Mann aus seinem Hotelzimmer draußen haben wollte. „Ich glaube, wir sind hier fertig, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
„Eigentlich schon.“ Der Detective begegnete Deckers Blick. „Ich habe den Verdacht, dass Sie nicht ganz ehrlich zu mir sind. Sie wissen mehr, als Sie zugeben. Ich frage Sie noch einmal: Was wollten Sie in Irland?“
„Und ich werde Ihnen dasselbe sagen wie zuvor. Es geht Sie nichts an.“
„Nun gut“, meinte Mead mit einem Seufzer. „Wenn Sie es sich unbedingt schwer machen wollen.“
Decker verschränkte die Arme und wartete auf das, was nun kommen würde.
Mead trat an die Tür des Hotelzimmers und öffnete sie. Auf dem Gang warteten zwei uniformierte Beamte. Er drehte sich wieder zu Decker um. „Ich denke, wir sollten dieses Gespräch woanders fortsetzen.“
„Stehe ich unter Arrest?“, fragte Decker.
„Ganz und gar nicht“, sagte Mead. „Aber ich würde Ihre Mitarbeit zu schätzen wissen.“
„Und wenn ich mich weigere?“
„Sie werden meine Fragen beantworten. Das versichere ich Ihnen. Es wäre für uns beide einfacher, wenn Sie das freiwillig tun würden.“
„Dann los“, Decker schnappte sich seine Jacke und steuerte auf die Tür zu. „Bringen wir es hinter uns.“