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Martin Slade saß auf einem Stuhl seiner Esszimmergarnitur, mit den Händen hinter dem Rücken. Er versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht. Seine Handgelenke waren mit Klebeband von einer Rolle, die er in einer der Küchenschubladen aufbewahrte, an den Stuhl gefesselt. Seine Knöchel waren ebenfalls gefesselt, einer an jedes Stuhlbein geklemmt. Es war eine lange Nacht gewesen, in der Martin mindestens zweimal ohnmächtig geworden war. Jetzt saß er hilflos und verängstigt in seinem eigenen Wohnzimmer, die Kleidung zerrissen und das Gesicht mit getrocknetem Blut von mehreren Schnittwunden übersät. Sein Entführer hatte ihn in der vergangenen Nacht überwältigt, als Martin seine Haustür aufschloss. Er war von hinten gekommen, schnell und leise, und hatte Martin ein Messer an die Kehle gehalten. Dann zog er die größere, tödlichere Klinge, die in Martins Mantel versteckt war, heraus. Danach wurde es unheimlich. Und noch furchterregender, wenn das überhaupt möglich war. Sein Angreifer war die vermisste Leiche aus dem Keller in Hay’s Mews. Martin konnte sich nicht erklären, wie das sein konnte, aber er konnte nicht daran zweifeln, was er mit seinen eigenen Augen gesehen hatte. Martin befand sich in der Gegenwart des echten Jack the Ripper. Eines Mannes, der schon seit über einem Jahrhundert tot sein sollte. Ein wandelnder Leichnam, der sich nun auf Martins Sofa niederließ und ihn mit grimmigem Blick beobachtete.

„Es wäre so viel einfacher, wenn du mir einfach sagen würdest, was ich wissen will“, erklärte der Ripper mit einer rauen, dünnen Stimme. „Oder ich kann mir einfach weiter die Zeit mit dir vertreiben.“

„Ich kann dazu überhaupt nichts sagen“, beteuerte Martin. Er unterdrückte ein Schluchzen. „Bitte, lass mich einfach gehen.“

„So wie du die junge Frau gestern Abend gehen lassen hast?“

„Das war etwas anderes.“

„Verstehe.“ Der Ripper nickte. „Du willst so sein wie ich.“

„Vielleicht.“

„Das weiß ich zu schätzen. Aber daraus wird nichts. Du kannst nie wie ich sein. Jedenfalls nicht ganz.“ Der Ripper bedachte Martin mit einem kalten Blick. „Ich kann dir aber etwas Ähnliches anbieten. Willst du der erste Mensch sein, der meine wahre Identität erfährt?“

„Was?“ Martin spürte, wie sich sein Magen vor Angst zusammenzog. Er fragte sich, ob er den Tag überleben würde. „Warum?“

„Weil du mir die Handschellen abgenommen hast. Du hast mich aus einem Gefängnis des ewigen Schlummers befreit. Nenn es eine Belohnung. Außerdem habe ich mir schon immer ein Talent gewünscht. Ich muss zugeben, dass ich eine gewisse Genugtuung verspürte, als ich dir dabei zugesehen habe, wie du das Mädchen auf diese Weise erledigt hast. Ich nehme an, du hast auch das Mädchen davor umgebracht.“

Martin nickte.

„Sehr gut. Man sagt, Nachahmung ist die aufrichtigste Form der Schmeichelei. Du kannst davon ausgehen, dass ich mich geschmeichelt fühle.“

„Wirst du mich töten?“

„Möchtest du das denn?“

„Nein, natürlich nicht.“ Martin zerrte wieder an seinen Fesseln, aber es war sinnlos. Er blinzelte und versuchte, das Blut, das rund um seine Augen verkrustet war, wegzuwischen. „Wenn du mich jetzt gehen lässt, werde ich niemandem von dir erzählen. Ehrlich nicht. Ich weiß noch nicht einmal deinen Namen, also kann ich das gar nicht, verstehst du?“

„Abraham Turner.“

„Oh bitte, nein.“

„Jetzt, wo du meinen Namen kennst, sind wir für immer miteinander verbunden, du und ich.“ Abraham stand auf und schritt zu Martin. Er ließ das Messer über seine Kehle gleiten. „Warum bist du nicht ein guter Junge und sagst mir, was ich wissen will. Wo ist meine Uhr?“

„Ich habe dir schon gesagt, dass ich nichts über eine Uhr weiß.“

„Das glaube ich dir nicht. Ich habe es in dem Raum gespürt, in dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Du hast meine Uhr, oder du weißt, wo sie ist.“

„Ich schwöre, ich weiß es wirklich nicht.“ Martin zitterte. Er spürte, dass das Ende seines Lebens immer näher rückte. Er stand kurz davor, von dem Mann ermordet zu werden, dem er so begeistert nachgeeifert hatte. Die Tragik war ihm nicht entgangen. „Vielleicht hat die Frau es.“

„Welche Frau?“ Abraham lehnte sich nah heran. Er setzte das Messer wieder an Martins Kehle an.

„Sie kam gestern zu uns. Sie behauptete, sie sei die Nachfahrin eines Mannes, der mit Abberline von Scotland Yard zusammengearbeitet hat.“

„Abberline?“

„Ja.“ Martin spürte, wie das Messer gegen seinen Hals drückte. Er versuchte, seinen Kopf von der Klinge wegzubewegen.

„Was hat sie gewollt?“

„Ich weiß es nicht. Meine Chefin, Callie, hat mit ihr gesprochen. Wenn du willst, kann ich sie anrufen und fragen, ob sie etwas über die Uhr weiß. Mein Telefon ist in meiner Tasche.“

„Telefon?“ Abraham schaute verwirrt. „Du meinst so etwas wie Alexander Bells Apparat?“

„Was?“ Es dauerte einen Moment, bis Martin verstand. „Oh. Ja. So etwas in der Art.“

„Wie kannst du ein Telefon in deiner Tasche haben?“

„Die haben sich weiterentwickelt, seit du das letzte Mal hier warst“, erklärte Martin. „Ich kann es dir zeigen, aber ich muss meine Hände benutzen.“

„Du kannst eine Hand frei bekommen.“ Abraham ging zur Stuhllehne und schnitt das Klebeband durch. „Aber ich warne dich, wenn du mich hintergehst, landet das Messer in deinem Hals.“