John Decker saß in einem kleinen weißen Raum an einem Tisch mit einer unechten Holzplatte und Metallbeinen. Ein schmales, längliches Fenster, das hoch an der Decke angebracht war, warf schräg einen schwachen Lichtstrahl auf die gegenüberliegende Wand.
Sein Stuhl war unbequem. Er war schon fast eine Stunde hier und bis jetzt hatte niemand mit ihm gesprochen, außer ihm die Anweisung zu erteilen, zu warten. Seiner Meinung nach war er nicht verhaftet worden. Die offene Tür des Verhörraums bestätigte diese Vermutung. Man ließ einen Verdächtigen nicht in einem unverschlossenen Raum zurück, nachdem man ihm seine Rechte vorgelesen hatte. Die Überwachungskamera an der Decke in der hinteren Ecke des Raumes erinnerte ihn jedoch daran, dass seine Freiheit in kürzester Zeit beschnitten werden würde, wenn er versuchen würde, den Raum zu verlassen.
Decker lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Colum würde sicher schon wissen, dass er verschollen war. Als DI Elliot Mead im Hotel aufgetaucht war, hatte Decker seinen Partner im Zimmer nebenan nicht erwähnt. Es hatte keinen Sinn, dass beide auf die Polizeiwache geschleppt wurden. Nicht dass Decker gewusst hätte, warum er hier war. Der Detective Inspector hatte ihn in diesen Raum gesteckt und war gegangen, ohne auch nur eine Andeutung zu machen. Es ging um den Ripper und die jüngsten Morde. So viel stand fest. Die entscheidende Frage war, wie der Detective Decker mit dem Ripper in Verbindung gebracht hatte. Sie hatten sich unauffällig verhalten und er war sicher, dass weder Callie Balfour noch Stephanie Gleason mit der örtlichen Polizei über seine und Colums Aktivitäten gesprochen hatten. Das einzige Mal, dass sie mit der Polizei in Kontakt gekommen waren, war in der Nacht ihrer Ankunft, als Colum einen gefälschten Dienstausweis zückte, um sich Zugang zu der Gasse gegenüber dem ehemaligen Wohnsitz des Rippers zu verschaffen. Es war unwahrscheinlich, dass er Decker deswegen verhaftet hatte. Zumal es nicht er gewesen war, der sich als Polizeibeamter ausgegeben hatte. Zumindest nicht direkt. Decker fragte sich also, worum es hier ging.
Er brauchte nicht lange zu warten, um das herauszufinden.
Der Detective Inspector schritt durch die Tür und ließ sich auf einem Stuhl gegenüber dem Tisch nieder. Eine weitere Polizeibeamtin begleitete ihn, ein paar Schritte hinter ihm. Eine Frau, jünger als Mead. Decker vermutete, dass es sich um eine junge Polizistin handelte, die noch nicht lange im Dienst war.
Mead streckte die Hand aus und schaltete ein Aufnahmegerät ein. Eine Lampe auf der Vorderseite leuchtete rot auf. Er warf einen Blick auf seine Uhr, überprüfte die Uhrzeit und teilte sie zusammen mit dem Datum dem Aufnahmegerät mit. Danach stellte er sowohl sich selbst als auch seine Begleiterin mit Namen und Dienstgrad vor. Schließlich blickte er Decker an. „Würden Sie bitte Ihren Namen für die Aufnahme nennen, Sir?“
„John Decker.“
Mead beugte sich vor. „Nur damit Sie es wissen, Sir, das Gespräch wird aufgezeichnet.“
Decker nickte. „Ich bin nicht zum ersten Mal in einem Verhörraum.“
„Das nehme ich an“, erwiderte Mead und blickte Decker an. „Sie haben in New York als Detective bei der Mordkommission gearbeitet.“
„Das ist richtig.“
„Zumindest bis Sie gekündigt und einen Job als Kleinstadtsheriff in Louisiana angenommen haben. Eine ziemliche Degradierung. Dann haben Sie auch diesen Job verloren.“
„Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.“ Decker fragte sich, wie viel der Detective über die Ereignisse in Wolf Haven wusste. Offensichtlich hatte er ihn überprüft und möglicherweise sogar in den Staaten angerufen. Hatte er mit der Dienstaufsichtsbehörde gesprochen?
„Ich habe etwas tiefer gegraben“, meinte Mead. „Faszinierende Sachen. Der Ärger scheint Ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen.“
Decker blieb stumm.
„Nach einem merkwürdigen Vorfall, bei dem Ihr Partner versucht hat, Sie umzulegen, waren Sie vom NYPD zutiefst enttäuscht.“
„Er war eine gestörte Person. Außerdem war er bestechlich.“
„Danach sind Sie zurück in Ihre alte Heimatstadt gezogen und haben einen Job beim Sheriffs Department angenommen. Den gleichen Job, den schon Ihr Vater innehatte.“
„Spielt das denn eine Rolle?“, fragte Decker.
„Ich versuche nur, Sie besser kennenzulernen. Herauszufinden, wie Sie ticken.“ Mead rieb sich das Kinn. „Die Zeit Ihres Vaters als Sheriff in Wolf Haven hat nicht sehr gut geendet, oder?“
„Es gibt keinen Grund, meinen Vater da hineinzuziehen.“
„Na gut, aber für Sie ist es ja auch nicht gut ausgegangen, nicht wahr? Ich habe beim Sheriff Department in Wolf Haven angerufen und mit dem derzeitigen Sheriff gesprochen. Ein Mann namens Chad Hardwick. Ich glaube, er war Ihr ehemaliger Deputy?“
„Das ist richtig.“
„Wie ich höre, hatten Sie eine Menge Ärger mit ihm. Klingt, als hätten Sie sich in einen ziemlichen Schlamassel hineingeritten.“
„Das liegt alles in der Vergangenheit. Ich habe jetzt ein neues Leben.“
„Ah, ja. Sie arbeiten für eine Forschungsorganisation.“
„Ja.“
„Das habe ich nachgeprüft. Es scheint alles in Ordnung zu sein.“ Mead tippte mit einem Finger auf den Schreibtisch. „Aber ich verstehe das nicht. Sie haben Ihr ganzes Leben lang in der Strafverfolgung gearbeitet und dann wechseln Sie von heute auf morgen den Job und arbeiten für eine Forschungsorganisation?“
„Ich brauchte eine Veränderung.“ Decker wusste nicht, ob der Detective ihm glauben würde, und es war ihm auch egal. Solange seine Tarnung hielt, konnte niemand seine Antwort widerlegen.
„Und Sie stellen Nachforschungen über Jack the Ripper an, während ein Nachahmungstäter herumläuft und Leute niedermetzelt.“
„Ich weiß nichts über irgendwelche Morde“, log Decker. „Wie ich Ihnen schon sagte, ist mein Interesse rein historisch. Wenn Sie sich über mich informiert haben, dann haben Sie sicher festgestellt, dass ich erst seit zwei Tagen im Land bin.“
„Ich habe Ihre Ankunft in Heathrow nachgeprüft“, meinte Mead. Er verengte seine Augen. „Ihre Anwesenheit hier irritiert mich immer noch. Ich kann es nicht genau benennen, aber ich weiß, dass Sie mir nicht die ganze Wahrheit sagen.“
Decker zuckte mit den Schultern. Der Detective Inspector war in einer Sackgasse gelandet und das wussten sie beide. Er war noch in Irland gewesen, als der erste Mord geschah, was ihn als Verdächtigen ausschloss. Diese Konfrontation mit der Polizei bedeutete, dass er und Colum bei der Suche nach dem Ripper vorsichtiger sein mussten, aber es war nichts, womit sie nicht fertig werden konnten.
„Haben Sie nichts zu sagen?“, fragte Mead.
„Ich bin mir nicht sicher, was ich dazu sagen kann“, erwiderte Decker. „Wenn Sie eine konkrete Frage haben, werde ich sie beantworten, aber ansonsten glaube ich, dass ich jetzt gehen kann.“
„Nun gut. Ich habe noch eine Frage, aber dafür müssen Sie mich einen Moment entschuldigen.“ Mead stand auf und begab sich zur Tür. Er trat hinaus und kam nach weniger als einer Minute mit einer durchsichtigen Plastiktüte zurück. Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz und legte die Tüte vor Decker auf den Tisch. „Vielleicht können Sie mir das hier erklären.“
Decker sah nach unten. In der Tüte befand sich eine blutverschmierte Visitenkarte. Auf der Rückseite standen mit seiner eigenen Handschrift sein Name und seine Zimmernummer. „Ich weiß nicht genau, was Sie von mir hören wollen.“
„Nun, Sie können damit anfangen, mir zu sagen, wem Sie sie gegeben haben“, erklärte Mead und schob die Tüte mit den Beweismitteln näher heran, „und wie sie am Tatort eines Mordes gelandet ist.“