Martin Slade legte auf und blickte in das Gesicht des Mannes, der ihn die letzten zwölf Stunden gefangen gehalten hatte. „Es gibt tatsächlich eine Uhr. Die Frau, die uns gestern besucht hat, Stephanie Gleason, hat sie gestern Abend zum Büro in der Universität gebracht, nachdem ich Feierabend gemacht hatte.“
„Ich wusste, dass sie dort war. Das habe ich gespürt“, antwortete Abraham. Er spürte einen Anflug von Hoffnung. Mit etwas Glück würde er die Uhr bald in den Händen halten und sich dann verjüngen können. Er würde sein verwelktes, leichenhaftes Aussehen ablegen und wieder vollkommen sein. Er würde gut aussehen und stark sein. Die Menschen würden bei seinem Anblick nicht mehr vor Entsetzen zurückschrecken. Und noch besser: Er würde sein Leben um Jahre verlängern und damit die Grenzen der natürlichen Sterblichkeit überschreiten. „Ich bin der Spur gefolgt. So habe ich dich gefunden. Mein zufälliger Schützling.“
„Daran ist nichts Zufälliges. Ich habe dich verehrt, seit ich das erste Mal Geschichten über Jack the Ripper gehört habe. Ich habe alles gelesen, was ich auftreiben konnte. Habe alle Tatorte besucht, zumindest das, was von ihnen übrig ist. Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich noch lebst und jetzt in meinem Wohnzimmer bist. Deinetwegen habe ich Kriminologie studiert.“
„Du hast mehr als das getan.“ Abraham streckte seine Hand aus und legte sie an die Wange des jungen Mannes. Der Junge zitterte, aber er wich nicht zurück. „Du hast mein Messer an dich genommen und es wieder zum Einsatz gebracht.“
„Es wollte, dass ich das tue“, sagte Martin mit einem Hoffnungsschimmer in seinen Augen. „Es hat nach mir gerufen. Es wollte wieder die Haut unter seiner Klinge spüren.“
„Nein. Es wollte zu mir zurück“, erklärte Abraham und seine Augen glühten. „Du warst lediglich der Botenjunge.“
„Nein.“ Martins Stimme wurde immer lauter. „Wir sind gleich, du und ich. Wir sind durch unser Blut verbunden.“
„Törichter Junge.“ Abrahams Gesicht legte sich in Falten wie altes Leder, als er die Stirn runzelte. „Du denkst, wir sind gleich? Das stimmt nicht. Wenn du nur wüsstest, was ich wirklich bin. Wie lange ich schon lebe.“
„Dann zeig es mir. Lass mich so werden wie du.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, erwiderte Abraham. „Aber ich schlage dir einen Handel vor. Du hilfst mir zu bekommen, was ich will, und ich lasse dich vielleicht frei. Jetzt sag mir, wer hat meine Uhr?“
„Diese Leute haben sie genommen. Sie sind von einer Art Forschungseinrichtung. Einer von ihnen ist ein großer Ire. Der andere ist Amerikaner. Sein Name ist John Decker.“
„Und wo kann ich John Decker finden?“
„In meinem Mantel. In der Innentasche.“ Martin deutete mit einem Nicken auf das Sofa, wo seine Jacke abgelegt war. „Da ist eine Visitenkarte. Decker hat sein Hotel und seine Zimmernummer darauf geschrieben.“
„Jetzt kommen wir der Sache schon näher.“ Abraham wandte sich der Jacke zu und nahm sie in die Hand. Er griff hinein und durchsuchte die Innentasche. Sie war leer. Er schaute sicherheitshalber auch in die anderen Taschen, aber auch die enthielten nichts. Er drehte sich wieder zu Martin Slade um. „Sie ist nicht hier.“
„Das ist unmöglich. Sie muss dort sein.“
„Nun, das ist aber nicht der Fall.“
„Lass mich nachsehen.“ In Martins Stimme lag Verzweiflung.
„ Zweifelst du an mir?“
„Nein“, Martins Augen weiteten sich. „Ich will nur ...“
„Die Tasche ist leer. Es gibt keine Karte.“ Abraham schleuderte den Mantel quer durch den Raum. Er starrte Martin an. „Nenn mir einen Grund, warum ich dich am Leben lassen sollte.“
„Ich ...“
„Genau das habe ich mir gedacht.“ Abraham hielt das Messer hoch.
„Warte. Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, rief Martin, während die Worte in seiner Angst ineinander übergingen. „Da war ein Mädchen bei ihnen. Eine andere Amerikanerin. Ich glaube, sie ist im Rahmen eines Studentenaustausches hier. Ich kenne sie. Wir haben ein paar gemeinsame Vorlesungen an der Universität. Sie muss wissen, wo John Decker wohnt. Vielleicht kann sie ihn sogar überreden, dir die Uhr zu überlassen.“
„Ein Mädchen.“ Abraham rieb sich nachdenklich das Kinn. Das war zu perfekt. Er könnte seine Uhr zurückbekommen und hätte obendrein ein passendes Opfer.
„Kannst du sie dazu bringen, hierher zu kommen?“, fragte er, während sich in seinem Hinterkopf ein Plan bildete.
„Ich kann es versuchen.“ Martin hielt immer noch das Handy in der Hand. „Ich muss die Datenbank der Universität aufrufen, um ihre Telefonnummer herauszufinden. Der Zugang ist auf Dozenten und Mitarbeiter beschränkt, aber ich habe Callie oft genug beim Login beobachtet. Ich kenne ihren Benutzernamen und ihr Passwort.“
„Tu es einfach“, schnauzte Abraham. „Und mach schnell.“
„Ich brauche meine andere Hand frei. Solange ich so gefesselt bin, kann ich überhaupt nichts machen.“
„Schön.“ Abraham trat hinter den Stuhl und durchtrennte das Klebeband an Martins anderem Handgelenk. „Aber ich warne dich, wenn du irgendwas anstellst, nehme ich dich aus wie einen Fisch, bevor du überhaupt weißt, wie dir geschieht.“
„Ich weiß.“ Martin tippte wie wild auf seinem Handy herum. Es dauerte ein paar Minuten, aber dann stieß er einen Ausruf aus. „Ich habe ihre Telefonnummer. Ich kann sie anrufen. Was soll ich sagen?“
„Dir wird schon etwas einfallen. Schaff sie einfach sofort hierher.“ Abraham hielt das Messer hoch. „Und danach kannst du mir genau zeigen, wie dieses wundersame neue Taschentelefon funktioniert. Ich würde gerne lernen, wie ich es selbst benutzen kann.“
„Ich zeige es dir. Das ist gar nicht so schwer.“
„Ausgezeichnet. Aber zuerst musst du telefonieren.“
„Okay. Bin schon dabei.“ Martin wählte die Nummer und führte das Telefon an sein Ohr.
Es klingelte.
Martin spürte, wie sein Herz gegen seine Rippen pochte.
Es klingelte erneut.
Sie ging nicht ran. Das war schlecht.
Beim vierten Klingeln hatte er schon die Hoffnung verloren.
Dann hörte es auf zu klingeln. Martin schluckte schwer. Würde die Sprachbox angehen?
Doch dann meldete sich eine weibliche Stimme in der Leitung. Es war Mina. Er atmete erleichtert auf und begann zu sprechen.