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Mina war gerade aus einer Vorlesung gekommen, als das Telefon klingelte. Sie erkannte die Nummer nicht, ging aber trotzdem ran. Deckers Nummer war bereits in ihrem Telefon gespeichert. Die würde angezeigt werden, aber sie fragte sich, ob es vielleicht Colum sein könnte, der stämmige Ire. Das hoffte sie und spürte einen Anflug von Enttäuschung, als sie die Stimme am anderen Ende nicht erkannte.

„Mina?“

„Ja.“ Der Anrufer kam ihr bekannt vor, aber sie konnte ihn nicht einordnen. „Was gibt’s denn?“

„Hier ist Martin.“ Am anderen Ende der Leitung gab es eine Pause, dann sprach die Stimme wieder. „Martin Slade. Wir haben uns in dem Haus in Hay’s Mews getroffen.“

„Ich erinnere mich. Wir haben einige Vorlesungen zusammen.“

„Soziologie, ja“, erwiderte Martin. „Ich hoffe, ich störe dich nicht zu sehr.“

„Nein, ganz und gar nicht.“ Mina bahnte sich ihren Weg durch den Korridor und wich den Gruppen von Studenten aus. „Woher hast du meine Nummer?“

„Callie Balfour hat sie mir gegeben. Ich habe mit ihr an einem besonderen Projekt über die Entdeckung des Rippers gearbeitet. Sie hat mir vorgeschlagen, dich anzurufen. Ich weiß, dass du dich für die Whitechapel-Morde interessierst, und ich habe eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht. Um ehrlich zu sein, könnte ich etwas Hilfe gebrauchen. Ich weiß, dass dein Freund John Decker sich auch mit der Sache befasst hat. Das könnte auch ihm helfen.“

„Was ist es denn?“, fragte Mina. Sie verspürte einen Anflug von Aufregung. „Was hast du herausgefunden?“

„Das ist schwer zu erklären. Ich brauche wirklich noch jemand zweiten, der sich das ansieht. Du wirst es schon merken, wenn du es mit eigenen Augen siehst. Es ist wirklich ziemlich außergewöhnlich. Kannst du mir helfen?“

„Meine Vorlesungen sind für heute zu Ende. Ich wollte gerade nach Hause gehen. Ich kann in die kriminologische Abteilung kommen. Ich bin gleich auf der anderen Seite des Campus.“

„Ich bin nicht an der Uni, sondern in meiner Wohnung. Die ist nicht weit vom Campus entfernt, nur fünf Minuten zu Fuß. Könntest du hier vorbeikommen?“

„In deine Wohnung?“

„Ja. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber ich will dich nicht anbaggern, ehrlich. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen und ich denke, dass es auch deinen Freunden nützen würde. Wenn das, was ich entdeckt habe, wahr ist, könnte das die gesamte Geschichte von Jack the Ripper umschreiben.“

„Ich kann ja mal kurz vorbeikommen.“ Mina verließ gerade das Gebäude. Sie stieg die Treppe hinunter und lief über den Innenhof. Wenn Martin Slade wirklich etwas entdeckt hatte, konnte sie es zu Decker bringen. Es könnte ihnen helfen, dem Ripper auf die Spur zu kommen. „Warum schickst du mir nicht deine Adresse und ich komme sofort vorbei?“

„Perfekt. Du wirst es nicht bereuen. Ich glaube sogar, wir könnten Geschichte schreiben.“ Martin klang jetzt richtig aufgeregt. Er sprach schneller und schneller. „Ich schicke dir jetzt meine Adresse und wir sehen uns dann gleich, einverstanden?“

„Ich bin schon auf dem Weg, keine Sorge“, erwiderte Mina, dann legte sie auf. Sie war an der Straße angekommen. Einen Moment später hörte sie das Ping einer SMS. Es war Martins Adresse. Sie machte sich auf den Weg in diese Richtung. Während sie unterwegs war, rief sie Decker an, aber es ging nur die Sprachbox ran. Sie hinterließ ihm eine Nachricht, dass sie zu Martin Slades Wohnung gehen würde. Er hätte eine Entdeckung bezüglich des Rippers gemacht. Zum Schluss versprach sie, dass sie sich später wieder melden würde.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie Martins Wohnblock erreichte. Sie fragte sich, ob man für die Türen eine Schlüsselkarte brauchte, wie bei ihrer eigenen Wohnung, aber als sie an den Türen zog, öffneten sie sich. Sie trat ein und eilte hinauf in den dritten Stock zu Martins Wohnung. Auf ihr Klopfen meldete er sich von drinnen.

„Es ist offen, komm einfach rein.“

Mina stieß die Tür auf, trat ein und ließ sie hinter sich zufallen. Die Wohnung lag im Dunkeln, die Jalousien waren zugezogen, sodass das wenige Sonnenlicht, das durch die Wolkendecke fiel, nicht einfallen konnte. Es war kein Licht an.

„Hallo?“ Ein vages Gefühl der Beklemmung überkam sie. Warum sollte Martin im Dunkeln herumsitzen? „Ist da jemand?“

„Ich bin im Wohnzimmer.“ Martins Stimme klang kraftlos. Leise.

Sie machte sich auf den Weg in den Flur. Auf der einen Seite befand sich ein Schlafzimmer, in dem das Bett ungemacht war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs lag eine kleine Küche. Ein Geruch von verdorbenem Essen wehte ihr entgegen. Mina rümpfte die Nase. Dann erreichte sie das Wohnzimmer am Ende des kurzen Flurs.

Sie trat hinein.

Dieser Raum war düsterer als die anderen und im ersten Moment konnte sie Martin nicht ausmachen. Sie blieb stehen und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach und nach lichtete sich die Dunkelheit und ihre Pupillen weiteten sich, um mehr Licht durchzulassen. Eine Gestalt, die in der Mitte des Raumes saß und sich nicht bewegte, wurde sichtbar. Sie blinzelte und trat einen Schritt vor, dann blieb sie stehen.

Es war Martin, der an den Stuhl gefesselt war und einen Knebel im Mund trug. Er betrachtete sie mit flehenden Augen.

Mina erstarrte, gelähmt vor Angst.

Dann übernahmen ihre Instinkte die Kontrolle.

Das war eine Falle.

Sie drehte sich um und wollte weglaufen. Doch bevor sie die Tür erreichen konnte, trat eine Gestalt aus der Dunkelheit und versperrte ihr den Weg. Sie wich zur Seite aus und versuchte, der drohenden Gestalt auszuweichen.

Doch die Erscheinung kam immer näher. Zum ersten Mal erblickte Mina ihren Angreifer. Ein spindeldürrer Mann, dessen Gesicht schon uralt war. Die mumifizierte Haut war rissig und spannte sich über einen eingefallenen Schädel.

Und dann seine Augen.

Sie brannten mit unheiligem Feuer.

Ein Schrei blieb Mina in der Kehle stecken. Sie schoss vor, um an ihm vorbeizukommen. Er stürzte sich auf sie, seine krallenbewehrten Finger griffen nach ihr. Gerade als sie dachte, dass sie es schaffen würde, packten diese schrecklichen Klauen sie an der Schulter und gruben sich schmerzhaft in ihr Fleisch. Sie schrie auf und versuchte, sich zu befreien, aber es war sinnlos. Der Griff ihres Entführers war zu stark.

„Du begleitest mich.“ Seine Stimme klang rau und hohl, wie von Staub erfüllt.

„Nein!“, schrie Mina. Sie versuchte, sich loszureißen und in den Raum zurückzuweichen, aber sie konnte sich nicht befreien. Und dann wurde sie wie eine Stoffpuppe herumgeschleudert. Ihr Kopf stieß gegen den Türrahmen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihren Nacken und ihre Wirbelsäule, als ihr Schädel ein zweites Mal gegen das Holz prallte. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Bei dem Versuch, zu schreien, spürte sie, wie sie in die Bewusstlosigkeit abglitt. Als sie zu Boden sank und die Schwärze sie einhüllte, war Minas letzte Erinnerung Jack the Ripper, der sich mit einem Messer in der Hand und einem zufriedenen Gesichtsausdruck über sie beugte.