„Nein!“ Deckers entsetzter Schrei zerriss die Luft.
Abraham zog das Messer aus Minas Brust und ließ sie los, dann machte er mit der Uhr in der Hand kehrt und floh in die endlose Finsternis.
Decker ließ die Schachtel fallen und spurtete vorwärts, bis er Mina erreichte, kurz nachdem sie zu Boden gesunken war. Er ließ sich neben ihr nieder und legte seine Hand unter ihren Kopf. Sie sah zu ihm auf, ihre Augen weiteten sich vor Unglauben, der sich schnell in panische Angst verwandelte. Ihr Atem kam keuchend, und als sie sprach, war ihre Stimme schwach.
„Es tut mir leid“, sagte Mina, wobei sie sich bei jedem Wort anstrengte. „Das ist alles meine Schuld.“
„Sag nichts“, sagte Decker. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Ein Kloß blieb ihm im Hals stecken. „Spar deine Kräfte.“
Minas Augenlider zuckten und er befürchtete schon, dass sie das Bewusstsein verlieren würde, aber dann öffnete sie sie wieder und sah ihm ins Gesicht. Ihr Blick traf auf den seinen, aber Decker war bestürzt, als er sah, dass das Licht in ihren Augen bereits schwächer wurde.
Mina lag im Sterben.
Er zog ihre Jacke zurück. Es war weniger Blut zu sehen, als er erwartet hatte. Die Stichwunde war deutlich zu sehen, ein klaffender und bösartiger zwei Zentimeter langer Schnitt direkt über ihrer linken Brust. Ihre jetzt zerrissene weiße Bluse saugte bereits das Blut auf, das aus der Wunde lief. Es erinnerte ihn an ein anderes Stück blutigen Stoffes, das er einmal gesehen hatte: das Leichentuch, das den verstümmelten Körper seiner Mutter bedeckt hatte, wie dieser in der Leichenhalle gelegen hatte, als er ein Kind war. Das hätte er eigentlich gar nicht sehen sollen. Aber er hatte einen Blick durch die größtenteils geschlossene Tür geworfen, als sein Vater mit dem Leichenbeschauer sprach. Er wünschte sich, er würde das hier auch nicht sehen. Er hatte Mina im Stich gelassen. Nachdem er versprochen hatte, sie zu beschützen, hatte er genau das Gegenteil erreicht. Jetzt würde ihn ihr Untergang für den Rest seiner Tage verfolgen.
Er blickte nach oben, in den Nachthimmel, und ein Schluchzen entrang sich seinen Lippen. Dann holte er tief Luft, nahm sein Handy heraus und rief Colum an. Er wusste, dass jede Sekunde, die er damit verbrachte, sich um Mina zu kümmern, dem Ripper mehr Zeit für seine Flucht verschaffte. Selbst mit dem GPS-Tracker in der Uhr gab es keine Garantie, dass Decker ihn einholen, geschweige denn ausschalten konnte. Aber das war ihm egal. Im Moment galt seine einzige Sorge der jungen Frau, die in seinen Armen nach Luft rang.
„Decker.“ Colums Stimme ertönte aus dem Lautsprecher des Handys. „Ist alles erledigt? Hast du Mina?“
„Ich habe sie“, sagte Decker. „Aber es sieht nicht gut aus. Sag Detective Inspector Mead, er soll einen Krankenwagen rufen. Sein Anruf könnte dafür sorgen, dass die Rettungskräfte schneller hier sind.“
„Was ist passiert?“ In Colums Stimme schwang Angst mit. „Bist du verletzt?“
„Ich nicht, aber Mina.“ Decker konnte hören, wie der Detective Inspector im Hintergrund nach Unterstützung rief. „Er hat sie erstochen.“
„Was?“ Colum klang erschüttert. „Ich wusste, dass wir ihm nicht trauen können. Wie schlimm ist es?“
„Ziemlich schlimm“, meinte Decker. „Eine Wunde in der Brust. Das Messer ging ziemlich tief.“
„Ich komme zu dir“, sagte Colum. „Wir beide kommen.“
„Ihr solltet besser schnell herkommen“, meinte Decker. „Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir noch haben.“
„Halte sie einfach am Leben“, sagte Colum. „Wir sind auf dem Weg.“
„Ich bin am Musikpavillon“, erklärte Decker. Er hörte ein Rascheln und dann das Zuschlagen einer Tür, als Colum das Hotelzimmer verließ. Mead schien inzwischen aufgelegt zu haben und unterhielt sich mit Colum.
„Der Krankenwagen ist auf dem Weg“, erklärte Colum nach einer Weile. „Wir sind in der Lobby und verlassen gerade das Hotel.“
Decker antwortete nicht. Es gab nichts zu sagen. Er ließ sein Handy auf den Rasen fallen und schaute auf Mina hinunter. Es war jetzt noch mehr Blut zu sehen, und ihre Atmung war flach. Als er sie ansprach, reagierte sie nicht. Sie erwiderte nichts. Er hob den Kopf und blickte in die Dunkelheit, in die Abraham Turner geflohen war, und in diesem Moment schwor er sich, Rache zu nehmen.