Zum zweiten Mal in dieser Nacht rasten sie durch die dunklen Straßen Londons. Diesmal benutzte Detective Inspector Mead jedoch die Sirene und das Blaulicht.
„Wie soll ich das nur meinen Vorgesetzten erklären?“, fragte Mead mit einem Kopfschütteln. „Das ist doch total verrückt.“
„Ich bin sicher, Ihnen wird etwas einfallen“, antwortete Decker. Colums Worte hallten noch in seinem Kopf nach. In seinem Magen wand sich die Angst wie eine Schlange. Mina war noch am Leben, und das war eine gute Nachricht. Aber warum wollte Colum nicht näher darauf eingehen? Was könnte ihr Schlimmeres zugestoßen sein als eine Stichwunde in der Brust?
Das Auto raste weiter und hatte dieses Mal keine Probleme, durch die Straßen zu kommen. Die Sirene reichte aus, um jedem Trödler Beine zu machen. Nach einer zehnminütigen Fahrt hielten sie vor der Notaufnahme des St. Mary’s Hospital in Westminster. Decker wartete kaum, bis der Wagen zum Stehen kam, sprang heraus und sprintete auf die Krankenhaustür zu. Im Wartezimmer saß eine Krankenschwester hinter einem Schreibtisch und tippte auf einem Computer herum. Detective Inspector Mead war ein paar Schritte hinter Decker. Sie steuerten auf die Krankenschwester zu. Sie blickte auf, mit einem irritierten Gesichtsausdruck, als ob die beiden dort nichts zu suchen hätten. Doch als Mead seinen Dienstausweis zückte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Er wollte gerade etwas sagen, als ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
„Decker!“
Er erkannte die Stimme sofort. Doch er traute seinen Augen kaum.
Es war Mina.
Sie kam aus dem Korridor, der vom Warteraum abzweigte, und hatte ihren Mantel bis zum Kinn hochgezogen. Colum folgte ihr, begleitet von zwei Ärzten und einer Krankenschwester. Alle vier sahen beunruhigt aus.
Decker stürzte auf sie zu.
Sie schlang ihre Arme um ihn. „Ich hätte nie gedacht, dass ich dich wiedersehe.“
„Ich auch nicht“, sagte Decker und zuckte zusammen, als der Schmerz in seiner Schulter aufflackerte.
„Es tut mir so leid“, entschuldigte sich Mina und starrte entsetzt auf sein blutverschmiertes Hemd. „Du bist verletzt.“
„Turner hat mich mit seinem Messer erwischt. Es ist nur eine kleine Stichverletzung“, beruhigte Decker sie.
„Du musst es dir ansehen lassen.“
„Alles zu seiner Zeit“, sagte Decker. Es gab dringendere Angelegenheiten. „Wie kommst du eigentlich hierher? Du bist doch im Sterben gelegen.“
„Jetzt nicht mehr.“ Mina grinste. „Es geht mir besser.“
„Das ist unmöglich“, sagte Decker. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. Minas Augen waren voller Leben, ihre Haut war rot vor Lebenskraft. „Ich habe doch mitangesehen, wie Abraham Turner dir ein Messer in die Brust gerammt hat. Ich habe gesehen, wie du dahingeschieden bist.“
„Ich weiß“, sagte Mina. „Ich erinnere mich daran, wie ich niedergestochen wurde. Der Schmerz war unglaublich. Dann ist alles verschwommen. Ich erinnere noch, wie ich mich von dir verabschiedet habe, wie ich im Krankenwagen lag. Dann bin ich in einem Operationssaal aufgewacht, umgeben von Ärzten. Junge, waren die überrascht. Man könnte meinen, sie hätten gesehen, wie ich von den Toten auferstanden bin.“
„Das haben sie“, sagte Colum. „Wir brachten sie ins Krankenhaus und ich sage dir, John, sie war fast tot. Sie hatte kaum noch einen Puls und war nicht ansprechbar. Man hat sie direkt in den Operationssaal gerollt, aber niemand dachte, dass sie überleben würde. Das nächste, was ich weiß, ist, dass es einen riesigen Aufruhr gab. Sie ist aufgestanden und hat versucht zu gehen. Und jetzt kommt’s. Die Ärzte behaupten, dass ein Blitz durch die Decke gefahren ist und sie wiederbelebt hat. Ihre Stichwunde ist einfach so verschwunden. Sie ist vor ihren Augen verheilt, als wäre sie nie da gewesen.“
„So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte ein Arzt und schüttelte den Kopf. „Ich habe schon einige Wunder erlebt, aber noch nie hat sich jemand vor meinen Augen selbst geheilt. Nicht auf diese Weise.“
„Du und Abraham Turner hattet noch eine Verbindung“, sagte Decker nachdenklich. Er erinnerte sich an den Blitz, der am Ende aus Turners Körper gesprungen war. Wie er in der Decke verschwand. Jetzt wurde ihm klar, dass er noch viel mehr bewirkt hatte. „Als ich Turner mit dem goldenen Messer erstochen habe, muss es so gewesen sein, als hätte ich einen Schalter umgelegt und den ganzen Prozess rückgängig gemacht. Er wusste es nicht, aber du warst noch nicht ganz tot. Es bestand immer noch ein Band zwischen euch. Die ganze Energie, die er dir gestohlen hatte, floss in die andere Richtung zurück. Deshalb hatte das Messer eine solche Wirkung. Anstatt deine Lebenskraft abzusaugen, hast du seine abgesaugt. Du hast ihn buchstäblich leergesaugt.“
„Er ist zu Staub zerfallen“, sagte Mead. „Es war ein unglaublicher Anblick.“
„Du musst wieder mit den Ärzten mitgehen und dich durchchecken lassen“, forderte Colum Mina auf.
„Mir geht es gut“, widersprach Mina. „So gut wie neu. Nicht einmal ein Kratzer. Es wäre allerdings schön gewesen, wenn sie meine Bluse aufbewahrt hätten, ob sie nun zerrissen und blutverschmiert war oder nicht. Dann bräuchte ich den Mantel nicht bis zum Kinn zuzumachen. Es ist eine Schande. Die Bluse hat mir wirklich gut gefallen. Ich hatte sie nur zweimal getragen.“
„Ich kaufe dir eine neue“, sagte Decker. „Ach was, ich kaufe dir gleich zehn davon. Wir machen einen Einkaufsbummel, wann immer dir danach ist. Ich bin sicher, Adam Hunt kann einen Ausflug in die Regent Street spendieren.“
„Jetzt mach mal halblang“, sagte Colum. „Mein Spesenkonto ist nicht so prall gefüllt.“
„Mina ist buchstäblich für uns gestorben“, meinte Decker. „Ohne sie hätten wir Abraham Turner nicht aufhalten können. Ich denke, das ist nur fair.“ Er wandte sich wieder an Mina. „Was sagst du dazu?“
„Klingt fantastisch“, antwortete Mina mit einem Grinsen. „Aber kann das nicht ein paar Tage warten? Meine Stichverletzung ist zwar verheilt, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es sich angefühlt hat.“
„Sicher. Wann immer du bereit bist.“ Decker blickte Colum an. „Ich glaube, es geht ihr gut. Ich sehe keinen Grund, sie noch mehr Stress auszusetzen. Wenn sie nicht hier bleiben will, sollten wir sie nicht dazu zwingen.“
„Vor weniger als einer Stunde lag sie noch im Sterben.“ Colum wirkte nicht gerade begeistert.
„Aber jetzt nicht mehr“, erklärte Mina. „Ich fühle mich sogar besser als je zuvor. Ich glaube nicht, dass ich jemals so viel Energie verspürt habe. Ich gehe nicht zurück zu diesen Ärzten, und dabei bleibt es auch.“
„Mina ...“, beteuerte Colum.
„Ich meine es ernst, mir geht es gut.“ Mina deutete mit einem Nicken auf Deckers Schulter. „Dir aber nicht. Wir kümmern uns um die Verletzung. Und zwar sofort. Keine Widerrede.“