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Drei Tage später saß Decker mit Colum und Mina in der Bar des Reardon Grand Hotels. Adam Hunt, der um den Gesundheitszustand des Mädchens besorgt war, hatte sie angewiesen, hier zu bleiben und sie im Auge zu behalten, was sie mit Freude getan hatten. Ein paar weitere Tage in London machten dem beiden nichts aus.

Colum starrte auf die Reste der ersten Runde Getränke, drei leere Gläser. „Ich hole uns Nachschub“, kündigte er an, verließ den Tisch und schnappte sich die leeren Gläser.

Mina sah ihm hinterher und wandte sich dann an Decker. „Ich muss mit dir reden. Ich wollte in Gegenwart von Colum nichts sagen. Ich will nicht, dass Adam Hunt davon erfährt.“

„Du kannst Colum vertrauen“, antwortete Decker.

„Mir wäre es lieber, wenn das unter uns bleiben würde, zumindest im Moment“, meinte Mina. „Die letzten Tage waren seltsam und ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.“

„Seltsam?“ Decker verspürte einen Anflug von Sorge. „Fühlst du dich unwohl? Wir wissen nicht wirklich, welche Nebenwirkungen dein Erlebnis haben wird. Wenn etwas nicht stimmt, müssen wir unbedingt Hilfe holen.“

„Es ist nicht so, dass etwas nicht stimmt“, erklärte Mina. „Es ist eher so, dass ich mich anders fühle. Es ist, als wäre ich ich, aber ich bin es auch wieder nicht. Seit Abraham Turner gestorben ist, habe ich jede Nacht Träume. Aber sie fühlen sich nach so viel mehr an. Sie sind mehr wie Erinnerungen. Ich befand mich auf einem Schlachtfeld in der Antike und suchte unter den Toten nach verwundeten Kriegern, um ihre Lebenskraft zu stehlen. Ich war eine Hexenjägerin im Mittelalter.“

„Das ist wahrscheinlich nur dein Unterbewusstsein, das versucht, mit dem Erlebten fertig zu werden. Ich bin sicher, es geht vorbei.“

„Nein. Es ist mehr als das. Ich kann es auch spüren, wenn ich wach bin.“ Mina schüttelte den Kopf. Sie sah besorgt aus. „Ich habe es in dem Moment empfunden, als ich auf dem OP-Tisch aufgewacht bin. Als du Abraham Turner getötet und mit dem Messer auf ihn eingestochen hast, floss seine ganze Energie in die andere Richtung zurück. Ich spürte regelrecht, wie sie in mich hineinströmte. Sie füllte mich aus. Alle seine Erinnerungen, alle seine Erfahrungen. Tausend Jahre seines Daseins wurden ihm entrissen und in mich übertragen. Ich erinnere mich an alles. Es ist, als würde ein Teil von ihm in mir weiterleben, aber es fühlt sich nicht wie ein Leben an, das ich gelebt habe. Es fühlt sich eher wie ein lebendiger Traum an.“ Mina hielt inne und sortierte ihre Gedanken. „Eigentlich ist es eher ein Albtraum.“

„Das tut mir so leid“, erklärte Decker.

„Die Dinge, die er angerichtet hat. Der Schmerz, den er verursacht hat. Es ist furchtbar.“ Minas Stimme zitterte. „Es ist seltsam. Jack the Ripper hat mich immer fasziniert. Jetzt habe ich alle seine Erinnerungen. Ich weiß, was er jeder einzelnen dieser Frauen angetan hat, wie sie gelitten haben. Ich habe ihnen in die Augen gesehen, als sie gestorben sind. Und es gibt noch so viele mehr. Frauen, deren Namen die Welt nie erfahren wird.“

„Nicht du. Er. Diese Erinnerungen sind nicht deine eigenen. Vergiss das nicht.“

„Das macht es nicht einfacher.“

„Ich weiß.“ Decker schüttelte den Kopf. „Es ist furchtbar.“

„Ich muss lernen, damit zu leben“, erklärte Mina. „Wenn ich mich auf andere Dinge konzentriere, rückt das in den Hintergrund. Es gibt Momente, in denen ich vergesse, dass es überhaupt da ist, zumindest bewusst. Um die Wahrheit zu sagen, die Erinnerungen sind nicht das, was mir am meisten Angst macht.“

„Was ist es dann?“, fragte Decker.

„Das hier.“ Mina hielt ihren Arm über den Tisch und zog ihren Ärmel hoch. Sie zeigte Decker ihr Handgelenk und das Symbol, das sich dort eingebrannt hatte. „Es erschien, nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte. Zuerst war es ganz schwach. Ich konnte es kaum sehen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, sah es so aus.“

„Du trägst dasselbe Zeichen wie Abraham Turner.“ Decker verspürte einen Anflug von Verzweiflung. Was hatte er Mina bloß angetan?

„Ja. Ich bin wie er geworden.“

„Nicht wie er. Du könntest nie wie er werden. Du bist kein Monster.“

„Ich weiß.“ Mina nickte. „Das Problem ist, dass er in dieser Nacht nicht nur meine Lebenskraft gestohlen hat. Er hat die Frau in ihrem Auto getötet und auch ihre Jahre in sich aufgenommen. Als sich der Prozess umkehrte, gab er mir nicht nur die gestohlenen Jahrzehnte meines eigenen Lebens zurück, sondern auch die von Abraham Turner und der ermordeten Frau. Ich kann ihre Erinnerungen spüren, genauso wie ich seine spüre. In mir leben jetzt so viele Seelen, oder zumindest ihre Geister. Alle seine Opfer. Manche Erinnerungen sind stärker als andere, aber sie sind alle da.“

„Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.“

„Du musst gar nichts sagen. Ich möchte aber, dass du mir eine ehrliche Antwort gibst. Wenn ich jetzt so bin wie er, hat sich dann mein eigenes Leben um die Jahre verlängert, die er der armen Frau im Auto geraubt hat?“ Mina lehnte sich näher an Decker. „Wie lange werde ich noch leben?“

„Das kann ich nicht beantworten.“ Decker seufzte. „Das wird nur die Zeit zeigen.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, antwortete Mina. Sie zwang sich zu einem Lächeln und ergriff Deckers Hand. „Egal was passiert, ich bin immer noch ich. Ich werde damit fertig, so wie ich mit allem anderen fertig geworden bin.“

„Das weiß ich.“ Decker erwiderte das Lächeln.

In diesem Moment kam Colum mit drei Getränken zurück. Er stellte sie auf den Tisch und rutschte zurück in die Sitzecke. „Habe ich etwas Interessantes verpasst?“

„Nicht viel“, erwiderte Mina und schnappte sich ihr Getränk. Die Besorgnis war jetzt aus ihrem Gesicht gewichen. Sie hatte ihre Maske wieder aufgesetzt. „Also, erzähl mal, was hat Adam Hunt als Nächstes für euch auf Lager? Ich wette, das wird richtig cool werden.“