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Rieke

D ie Sylter Himmelsleiter war mit 26 Metern die höchste Treppe der Insel und seit Jahren der Feier-Hotspot für Insulaner und Touristen. »Man muss nur dem Sound der Musik folgen, dann weiß man, wo hier die Party abgeht«, sagte Riekes Freundin Emma und warf ihr Fahrrad einfach auf den Boden, nachdem die beiden am Absatz der Treppe zwischen den Westerländer Dünen angekommen waren. Dann zog sie das selbst genähte Bandeautop nach oben, denn der Gummizug war ein bisschen ausgeleiert, und Emma hatte sich bei der Fahrt im Gegenwind ziemlich abgestrampelt. »Hoffentlich sind zur Abwechslung mal coole Leute da und nicht nur dieses schnöselige Partyvolk, das Champagnerkorken knallen lässt oder magnumflaschenweise Vodka Belvedere trinkt«, fuhr sie fort und rollte entnervt ihre wunderschönen, nougatfarbenen Augen mit den langen Wimpern. Emmas Papa kam aus Portugal und hatte ihr die dunklen, frechen Korkenzieherlocken vererbt, um die Rieke sie fast ein wenig beneidete. Heute hatte Emma sich ein rotes Tuch mit weißen Punkten um die Haare geknotet, trug das getigerte Top, Jeans und rote Sneaker, die sofort ins Auge stachen, genau wie Emma selbst, die mit einem Meter achtundfünfzig allerdings sehr klein war.

»Wenn’s uns nervt, können wir ja wieder gehen«, entgegnete Rieke, die noch gar nicht in Feierlaune war, sondern gedanklich im Büchernest. Sie hatte sich zum ersten Mal gegenüber ihrer Chefin Bea behauptet und war ziemlich stolz auf sich. Als Azubi hatte sie Muffensausen vor der Besitzerin der Buchhandlung gehabt, die zwar sehr nett und im Grunde gutherzig war, aber leider auch streng, launisch und dickköpfig. Doch das änderte sich allmählich, denn Rieke wurde von Tag zu Tag selbstsicherer und war der Meinung, dass eine Brise frischer Wind dem Büchernest sehr guttun würde. »Ich hoffe ja, dass Bengt da ist.«

Der attraktive Bengt war ihr neulich abends am Brandenburger Strand über den Weg gelaufen, als sie sich, mit einem Eis in der Hand, an den Flutsaum gesetzt und dem Spiel der Wellen zugeschaut hatte. Er war mit einem Freund zum Kitesurfen verabredet gewesen und beim Ausbreiten seines Schirms von einem verspielten jungen Hund gestört worden, der sich schwanzwedelnd in den Leinen verbissen hatte und partout nicht locker lassen wollte. Rieke hatte das Spielchen eine Weile amüsiert beobachtet und schließlich den strubbeligen Mischling mit einem Stück Eiswaffel zu sich gelockt. Dann hatte sie ihn so lange festgehalten und gestreichelt, bis Bengt das Kitesegel startklar gemacht hatte.

»Danke, du hast was bei mir gut. Frag einfach am DLRG -Stand nach Bengt, falls ich nicht da bin, und ich rette dich vor allem, was dir Angst macht, oder lade dich zum Kaffee ein«, hatte der Kiter mit breitem Grinsen gesagt. Dann hatte er sich lässig an die Stirn getippt und war seinem Freund in die schäumenden Nordseefluten gefolgt.

Riekes Herz hatte einen Satz gemacht, und sie hatte, so laut sie konnte, gerufen: »Ich kann mich durchaus selbst retten!« Dabei hatte sie ihre Hand vom Halsband des jungen Hundes gelöst, der jedoch gar nicht daran gedacht hatte, von ihrer Seite zu weichen. »Magst du noch ein Stück Waffel?«, hatte Rieke den süßen Strubbel mit der schwarzen Nase gefragt und aus dem Augenwinkel beobachtet, wie gekonnt Bengt auf dem Board stand, das rote Surfsegel aufgebläht vom Wind.

Er war groß, schlank und durchtrainiert, seine gewellten, längeren Haare flatterten wild umher.

Bevor er zu einem kühnen Sprung ansetzte, drehte er sich kurz zu ihr um, und spätestens da war es endgültig um sie geschehen. In dieser Nacht hatte sie kaum ein Auge zugetan, weil sie überlegte, ob sie gleich am kommenden Tag beim DLRG -Häuschen nach Bengt Ausschau halten sollte. Morgens um fünf verwarf sie den Gedanken jedoch wieder, weil sie genau wusste, dass garantiert nicht nur die Mädchen von der Insel durchdrehten, wenn sie Bengt sahen, sondern auch die Touristinnen.

»Ich hoffe auch für dich, dass Bengt da ist, und für mich, dass er einen heißen Freund dabeihat«, erwiderte Emma mit einem anzüglichen Grinsen. »Schließlich gibt es kaum etwas Schöneres als einen Flirt in einer lauen Nacht an der Nordsee. Ich für meinen Teil bin so oder so wild entschlossen, heute Abend jemanden unter dem Sternenzelt zu küssen, bevor ich das Küssen endgültig verlerne. Es kann doch nicht sein, dass wir beide diesen grandiosen Sommer fast ausschließlich mit unseren Girls verbracht haben.«

Rieke wusste genau, was Emma meinte. Auch sie sehnte sich nach Aufregung, Leidenschaft und den großen Gefühlen, von denen sie zurzeit nur in Büchern las. Doch sie wusste, dass sie es nicht zulassen durfte, dass ihr das Herz erneut gebrochen wurde. Nicht nach der langen Zeit, die sie gebraucht hatte, um die Trennung von ihrem ersten Freund Keno zu verkraften, der Sylt – und damit sie – verlassen hatte, um für ein Jahr nach Costa Rica zu gehen. Keine Surfer! Keine Weltenbummler! Keine Typen, hinter denen alle Mädels her sind!, betete sie sich mantraartig vor und folgte Emma auf dem Weg hinunter zum Strand.

Schon bald wurden die beiden von Electrosounds beschallt, von irgendwoher wehte Rieke der süßliche Duft eines Joints in die Nase. »Neue heiße Ware! Nice, nice«, rief ein Typ, sichtlich zugedröhnt, und fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Haare. Dabei sah Rieke eine goldene Rolex an seinem Handgelenk blitzen.

»Frauen sind keine Ware, du Vollhonk«, schimpfte Emma mit blitzenden Augen und baute sich breitbeinig vor dem Sprücheklopfer auf. Neben ihm standen einige bildhübsche Mädchen und zwei weitere Typen. Alle sahen gelangweilt und nach Geld aus, also nach der Sorte Mensch, um die Rieke tunlichst einen großen Bogen machte. »Komm, lass uns gehen«, zischte Rieke Emma zu und zog sie mit sich in Richtung Flutsaum. Doch der Vollhonk trabte neben ihnen her, offenbar nicht bereit, Emmas Bemerkung auf sich beruhen zu lassen. Seine Pupillen waren geweitet, die Augen gerötet. Im Grunde sah er super aus, doch er war offensichtlich so zugedröhnt, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter mit ihm zu beschäftigen.

»So klein und schon so eine große Klappe«, ätzte der Vollhonk weiter und versuchte Emma in die Haare zu fassen.

In Rieke verkrampfte sich alles, sie ballte die Hand zur Faust und winkelte ihr Bein an, bereit, den Typen mit einem gezielten Schlag schachmatt zu setzen, falls es nötig war – wozu hatte sie schließlich einen Selbstverteidigungskurs gemacht?

»So groß und so dämlich«, ertönte auf einmal die Stimme, nach der Rieke sich in ihrem nächtlichen Traum gesehnt hatte. »Lass die Mädels in Ruhe, Ronny«, sagte Bengt, der unverhofft aus dem Halbdunkel aufgetaucht war, und stellte sich schützend vor Emma und Rieke. »Wenn du wieder nüchtern bist, wirst du dich entschuldigen, ist das klar?«

Statt einer Antwort fiel der Maulheld einfach in voller Länge auf den Rücken in den Sand und begann zu schnarchen.

»Klarer Fall von zu viel Alkohol, gepaart mit Größenwahnsinn, Daddys Kohle und irgendwelchen Drogen. Ich hab dir neulich schon gesagt, dass das total uncool ist«, sagte Bengt und kniete sich neben Ronny. »Hat jemand von euch zufällig Wasser dabei?«

»Du kennst diesen Mistkerl?«, fragte Emma, und Rieke wusste gar nicht, was sie zuerst denken oder fühlen sollte. War es Schicksal, dass Bengt und sie sich innerhalb so kurzer Zeit zweimal begegnet waren? Sie nahm ihren Rucksack ab, holte die Trinkflasche hervor, die sie stets dabeihatte, und reichte sie Bengt.

Der setzte sie wiederum Ronny an die Lippen und versuchte den Schlafenden zu wecken, damit er Wasser trinken konnte. »Ja, ich kenne ihn vom Kiten«, erwiderte er und zog Ronnys Kopf auf seinen Schoß. »Er ist normalerweise ganz okay, aber er hat zurzeit jede Menge Stress und offenbar keine guten Freunde, die ihm bei seinen Problemen helfen. Ist nicht immer leicht, ein ausgewachsenes rich kid zu sein. Er ist den Sommer über immer im Haus seiner Eltern in Kampen mit sogenannten Freunden, aber im Grunde einsam wie nur was.«

In diesem Moment schlug Ronny die Augen auf und trank mit großen Schlucken. Dann verschluckte er sich, begann zu husten und schien zu realisieren, dass sein Kopf auf den Knien von Bengt lag und Rieke und Emma Zeuginnen seines unwürdigen Zustands geworden waren. »Was ist passiert, Mann?«, fragte er, rappelte sich mühsam auf und rieb sich die Augen.

»Du hast eindeutig zu hart gefeiert«, erwiderte Bengt, half Ronny endgültig auf und hakte ihn bei sich unter, damit er nicht wieder umfiel wie ein vom Sturm geknickter Baum. »Und du kannst von Glück sagen, dass diese Hübsche hier« – dabei deutete er auf Rieke – »dich nicht k.o. geschlagen hat, weil du sie, aber vor allem ihre Freundin, beleidigt hast.«

»Ich heiße übrigens Rieke, und das da ist Emma«, stellte Rieke sich vor und freute sich insgeheim darüber, dass Bengt gesehen hatte, dass sie gewillt gewesen war, Emma und sich selbst zu verteidigen. Wie schon gesagt: Sie konnte sich selbst retten!

»Hallo, Rieke, hallo, Emma«, entgegnete Ronny sichtlich geknickt und gab beiden die Hand. »Ich weiß zwar nicht mehr, was ich gesagt oder getan habe, aber wenn Bengt meint, dass es Mist war, dann war es das wohl auch. Sorry dafür.«

»Das will ich dir aber auch geraten haben«, zischte Emma. »Du warst superübergriffig und superätzend. Keine Ahnung, was du für ein Problem hast. Aber was auch immer es ist, es gibt dir nicht das Recht, dich so zu benehmen.«

»Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut«, erwiderte Ronny und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. »Ich schätze, ich muss nach Hause und mich hinlegen, bevor mein Schädel zerplatzt. Kannst du mich bringen, Kumpel?«

Die Frage ging an Bengt, der zuerst zu Rieke schaute und dann zu Ronny. War da tatsächlich so etwas wie Bedauern in seinem Blick, oder bildete sie sich das nur ein, weil sie sich das wünschte?

»Feiert noch schön, ihr zwei«, war das Letzte, was sie von Bengt hörte, bevor die Sylter Nacht die beiden zu Riekes Leidwesen verschluckte.

»Das war also dein Bengt. Toller Typ«, sagte Emma bewundernd und schob Rieke in Richtung des hell lodernden Lagerfeuers neben den zusammengeschobenen Strandkörben, die den Anschein einer Festung erweckten. »Und er scheint dich zu mögen, wenn ich seinen Blick richtig gedeutet habe. Bleibt nur noch zu hoffen, dass er wieder zurückkommt, wenn er diesen durchgeknallten Ronny verarztet hat. Was für ein Idiot! Dem hat Daddy wahrscheinlich die Platinum Card von Amex gesperrt, oder jemand hat ihm den Porsche geklaut.«

Rieke hatte keine Lust, sich mit der Frage zu beschäftigen, was Ronny so aus der Bahn geworfen hatte, dass er sich selbst derart abschießen musste. Sie überlegte stattdessen, ob sie irgendwie Bengts Handynummer herausbekommen und ihm eine Nachricht schicken konnte. Denn auch sie hatte große Sehnsucht nach einer Romanze unter dem funkelnden Sternenhimmel. Nach zärtlichen Liebkosungen und heißen Küssen.

Just in dem Moment, als sie sich versonnen in die Arme von Bengt träumte, sah sie einen Lichtschein mit hellem Schweif am Horizont, schloss die Augen und wünschte sich den Mann herbei, der ihr Herz gerade in Flammen gesetzt hatte …