Lissy
M öchte jemand einen kleinen Absacker?«, fragte Hinrich, doch niemand nahm sein Angebot an, offenbar wollten alle einen klaren Kopf für die Sitzung behalten. Also schenkte er sich einen Kräuterschnaps ein und kippte das Glas in Windeseile. Kurz darauf folgte ein zweites.
Da es mittlerweile kühl draußen geworden war, hatte sich der Familienrat nach dem Essen ins Innere des Friesenhauses verzogen, wo ein Kachelofen behagliche Wärme verströmte.
»Lasst uns endlich mit der Besprechung loslegen, Rieke hat sicher heute Abend weitaus Interessanteres vor, als stundenlang hier mit uns zu sitzen und Probleme zu wälzen«, ergriff Bea energisch das Wort.
»Ich bleibe, bis wir eine Erfolg versprechende Strategie gefunden haben«, erwiderte Rieke, die ihre blonden Haare heute offen trug und der das eng anliegende Kleid aus dunklem Denim ganz hervorragend stand. Lissy freute sich darüber, dass ihre ehemalige Auszubildende so engagiert bei der Sache war und sich ernsthaft für die Belange des Büchernests interessierte. Rieke hatte nach dem Abschluss ihrer Lehre Angebote von der Badebuchhandlung in Westerland bekommen, und sie hätte auch bei der Organisation des Kampener Literatursommers mitarbeiten können, wenn sie dies gewollt hätte.
»Hat irgendjemand eine Idee, wie wir wieder zu altem Glanz zurückfinden?«, fragte Bea und musterte jeden Einzelnen.
Lissy hüstelte verlegen, denn sie war in den vergangenen Tagen viel zu sehr mit ihrer Familie beschäftigt gewesen, um jetzt mit neuen Ideen oder gar Konzepten aufwarten zu können.
»Wir müssten auf alle Fälle Werbung machen, um mehr Besucher ins Kapitänshaus zu locken«, sagte Nele, die nahe bei Sven auf dem gemütlichen Lesesessel von Hinrich saß, der mittlerweile den dritten Schnaps intus hatte. »Wir sollten attraktive Flyer in großen Mengen drucken und sie überall dort verteilen, wo Urlauber sie in die Hand bekommen, also in Hotels, Ferienwohnungen, Restaurants, Bars, den Touristeninformationen und am besten auch in den Supermärkten und Läden. Auch Plakate könnten hilfreich sein, genau wie Werbung auf den Bildschirmen in den Bussen.«
»Können wir uns das denn leisten?«, fragte Vero und zupfte an ihrer langen Hemdbluse herum. »Und damit meine ich nicht nur den Druck der Werbemaßnahmen, sondern auch das hochwertige Papier, damit die Werbung einen guten Eindruck macht, sowie das Verteilen und Plakatieren. Natürlich brauchen wir zudem jemanden, der die Logistik für all das ausarbeitet. Außerdem benötigen wir einen richtigen Namen für das Café. Seit dem Umzug ist es ja nicht mehr in die Buchhandlung integriert, also ist der Name Büchernest im Grunde unzutreffend.«
»Wo du recht hast, hast du recht«, mischte sich nun Hinrich ins Gespräch, eher ungewöhnlich für jemanden, der es gern einfach und gemütlich hatte. »Ohne einen eigenen Namen kann Vero den Laden bald dichtmachen«, fuhr er fort, »denn wie soll sie sonst auf sich aufmerksam machen? Natürlich gibt es Kunden, die beim Verlassen der Buchhandlung das Hinweisschild auf das Café bemerken und dann in den Pavillon gehen, doch wenn zu wenig Kundschaft in den Laden kommt, dann beißt sich die Katze in den Schwanz, der neue Standort ist ein Flop. Nichts gegen dich, Bea, und deine Idee, aber hier läuft gerade etwas gewaltig schief, und ich habe allmählich die Nase voll von den ewigen Problemen. Wir sind schon alt und sollten das Leben auf unserer schönen Insel genießen, statt uns ständig zu stressen.«
»Was soll das denn heißen?«, empörte sich Vero. »Willst du, dass wir aufgeben und das Büchernest ab sofort Geschichte ist, oder was?«
»Wenn ihr mich fragt, hättet ihr das schon tun sollen, als der Vermieter den Pachtvertrag nach dem Wasserschaden gekündigt hat. Es hat doch keinen Sinn, ständig gegen Windmühlen zu kämpfen und sich dabei auszulaugen. Du kannst doch weiterhin Kuchen backen und Suppen kochen. Und du, Bea, hast ohnehin eine Karriere als Buchautorin vor dir. Nele will bald heiraten und bekommt massenweise Aufträge als Kinderbuchillustratorin, und Lissy ist vollauf mit den beiden Lütten beschäftigt.«
Nun meldete sich Leon zu Wort. »Aber geht es nicht darum, dass ihr eine alte Tradition bewahren und den Menschen hier im Ort weiterhin den Kauf von Büchern ermöglichen wollt? Und wenn dieser Traum der Bequemlichkeit, gepaart mit Ohnmachtsgefühlen und Pessimismus, geopfert wird, gibt es bald nur noch in Westerland Buchhandlungen. Und das wäre doch jammerschade, denn die Kinder der Urlauber haben ein Anrecht darauf, auch hier in Keitum Malbücher, Rätselhefte, Detektivromane und Bestimmungsbücher für Strandfunde zu bekommen. Wir sollten alles daransetzen, zu verhindern, dass es in diesem schönen Dorf fast nur noch Kleidung zu kaufen gibt. Wie viele Boutiquen haben wir hier eigentlich? Sieben?«
»Über zwanzig«, korrigierte Nele ihn, dann war es eine Weile still im Raum.
»Ich gebe Leon recht«, meldete sich schließlich Rieke zu Wort. »Wir müssen kreativer werden und könnten eine ganze Menge erreichen, auch ohne exorbitante Summen für Werbung auszugeben. Ihr wisst, dass Social Media heutzutage das A und O ist, betreibt das aber bislang nur halbherzig. Lasst mich ein Konzept dafür entwickeln und gebt mir die Freiheit, zu tun, was ich für richtig halte, dann kann ich sicher einiges auf die Beine stellen, was hilft, um unseren Bekanntheitsgrad zu steigern. Egal, wie ihr über Insta und Co. denkt, es geht heutzutage nicht mehr ohne.«
Sven nickte zustimmend und fuhr sich dabei über die Stoppeln seines Dreitagebarts, den er seit Kurzem trug und der ihm ausgesprochen gut stand. »Rieke bringt es auf den Punkt. Ohne Social-Media-Präsenz läuft heutzutage gar nichts, so viel ist klar.«
»Was müssten wir denn deiner Ansicht nach tun?«, wollte Bea wissen, die sich eifrig Notizen machte. »Wir sind doch auf Facebook und Instagram, oder etwa nicht?«
»Man muss täglich online sein, Reels erstellen und sollte nicht nur Fotos von Büchern posten, sondern auch von Sylt«, erklärte Rieke. »Schön wäre auch, Videos mit Buchtipps aufzunehmen, zugeschnitten auf Alter und Lesevorlieben. Also Bea für die gehobene Literatur, Lissy für Kinderbücher, ich für den Bereich New Romance und Nele für gute Unterhaltung, Mode, Kunst und Lifestyle. Hinrich hätte ich gern für Krimis und Adalbert für Themen, die sich im weitesten Sinne mit Mindstyle, Yoga sowie Achtsamkeit befassen. Und du, Vero, stehst natürlich für die Kulinarik.«
»Ich soll vor die Kamera?«, empörte Hinrich sich. Sein Gesicht hatte einen ungesunden Rotton angenommen, die Augen wirkten glasig. »Nur über meine Leiche! Ich mache mich doch nicht zum Affen, nur weil ich abends gern in einem spannenden Buch schmökere und gern Krimiserien gucke, die an der See spielen.«
»Könntest du es nicht zumindest mal versuchen?«, fragte Adalbert, der sich bislang dezent zurückgehalten und das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. »Auch ich habe so was noch nie zuvor gemacht, aber wenn es hilft, das Büchernest wieder auf die Beine zu bringen, bin ich gern bereit, über meinen Schatten zu springen und etwas Neues auszuprobieren. Vorausgesetzt, du hilfst mir dabei, Rieke.«
»Dann macht ihr das mal, und lasst mich bitte in Ruhe mit dem ganzen Tinnef!« Hinrich griff zur Flasche und schenkte sich einen vierten Schnaps ein.
Vero rutschte auf dem Sessel hin und her, Lissy konnte förmlich spüren, wie unangenehm ihr das Verhalten ihres Mannes war.
»Das klingt so weit schön und gut, aber was unternehmen wir bezüglich des Cafés?«, fragte Vero schließlich.
»Wie gesagt: Du empfiehlst Bücher über das Kochen und Backen sowie Ernährungsratgeber, und es wäre superschön, wenn du während deiner Arbeit Videos im Café produzieren könntest, bei denen ich dir natürlich sehr gern helfe.«
Vero machte: »Hm«, und es war still im Raum. Bis Niels plötzlich erwachte und anfing zu weinen.
»Ich fürchte, der kleine Mann hat Hunger«, sagte Lissy entschuldigend. »Am besten gehe ich mal kurz nach oben, um ihn dort in Ruhe zu stillen.«
»Und ich würde sagen, dass wir heute schon eine ganze Menge an Vorschlägen gehört haben, die wir erst mal sacken lassen und dann genauer unter die Lupe nehmen sollten. Rieke, es ist sehr schön, dich bei uns an Bord zu haben, und ich gebe dir freie Hand, zu tun, was du für nötig hältst. Also, Kinners, dann mal gute Nacht. Wir sehen uns spätestens am Montag.« Mit diesen Worten stand Bea auf, und Lissy schnappte sich das Tragekörbchen von Niels.
Nach dem nervenaufreibenden Treffen kuschelte sich Lissy am Abend im Bett in die wärmenden Arme ihres Mannes. Durch das geöffnete Fenster ertönte der Ruf eines Käuzchens, der sich mit den Schreien der Möwen abwechselte, die noch spät ihre Kreise über dem alten Kapitänsdorf zogen. Der Wind bauschte die Vorhänge auf, Niels schlief tief und fest in seinem Kinderbettchen neben Lissy.
»Ich habe heute übrigens erfahren, dass die Redaktion zum Ende des Jahres umstrukturiert wird«, sagte Leon, während er Lissys Arm streichelte, und seufzte tief. »Die Zeitung wurde gerade an einen großen Konzern verkauft, und es kann sein, dass das Auswirkungen auf meinen Job hat. Der Käufer setzt fast nur noch auf online. Außerdem bin ich denen zu alt, wie mir der Vorstand vorhin schonungslos mitgeteilt hat.«
Lissy war mit einem Schlag wieder hellwach. »Zu alt?«, fragte sie bestürzt. »Du bist noch nicht mal vierzig.«
»Trotzdem suchen sie jemanden, der ihrer Ansicht nach näher am Puls der Zeit ist, der über Themen schreibt, die polarisieren und zur Online-Diskussion anregen, kurz: die hohe Klickzahlen bringen«, widersprach Leon.
Lissy stockte der Atem. Soweit sie wusste, gab es auf Sylt keine berufliche Alternative für Leon.
»Mach dir keine Sorgen, ich finde schon eine Lösung, denn ich werde auf keinen Fall für diesen Konzern arbeiten. Das verbieten mir mein Ehrgefühl und mein Berufsethos.«
»Ich mache mir keine Sorgen, denn ich weiß, was du kannst und wer du bist«, erwiderte Lissy und versuchte so viel Überzeugungskraft in ihre Stimme zu legen, wie sie um diese nachtschlafende Zeit aufbringen konnte. Insgeheim schlug ihr jedoch das Herz bis zum Hals, denn das Timing hätte nicht schlechter sein können.