Vero
D er Mittwochmorgen begann für Vero ausnahmsweise nicht mit einem Rundgang durch ihren Morsumer Garten, sondern mit einer Fahrt nach Westerland zum Friseur. Zum Glück war eine Kundin abgesprungen, sonst hätte sie bei Friseur Nadia in der Bomhoffstraße keinen so kurzfristigen Termin bekommen. Doch sie konnte jetzt auf keinen Fall länger warten, denn sie hatte am Sonntag tatsächlich eine Nachricht an Holger Hartwig geschrieben und seine Einladung zu einem Essen bei ihm zu Hause angenommen. Erstaunlicherweise schlug Hartwig sofort den Mittwochabend vor, und nun fühlte sich Vero wie … tja, wie eigentlich?
So genau konnte sie gar nicht sagen, was in ihr vorging, als sie das Auto parkte und wenig später vor dem Friseursalon stand. Es war eine Mischung aus Verwegenheit und Abenteuerlust, gepaart mit einem schlechten Gewissen, weil sie das Gefühl hatte, etwas höchst Verwerfliches, wenn nicht sogar Verbotenes zu tun. Und dabei ging es ganz bestimmt nicht darum, dass sie sich die Haare zum Bob schneiden ließ oder sich fest vorgenommen hatte, nach dem Termin ein bisschen durch die Geschäfte in der Friedrichstraße zu bummeln. Auch nicht darum, dass sie heute Morgen ein Schild mit der Aufschrift Geschlossen an die Tür des Cafés gehängt hatte, was in all den Jahren, in denen sie für das Büchernest backte und kochte, noch nie vorgekommen war. Vero war zuverlässig wie ein Uhrwerk gewesen, egal, ob Freunde, ihre Tochter, Enkel und Hinrich ihre Hilfe brauchten oder sie selbst krank war, was zum Glück äußerst selten vorkam.
Doch Hinrichs Bemerkung am Samstagabend hatte an ihr genagt und später sogar richtiggehend in ihr gewütet. Zuerst war sie böse auf ihren Mann gewesen, der am Sonntag verkatert und äußerst übellaunig verkündet hatte, dass er den ganzen Tag im Bett bleiben würde. Doch dann hatte sie einen langen Spaziergang durch Morsum unternommen, obwohl sich die Sonne nicht blicken ließ und ein ziemlich kühler Wind wehte. Gedankenverloren war sie am Hotel Hofgalerie vorbeigegangen und hatte ein Pärchen beobachtet, das eng umschlungen aus dem historischen Gebäude gekommen war und sich verliebt geküsst hatte. Die beiden waren allerdings nicht mehr ganz jung gewesen, sondern ähnlich alt wie sie selbst, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann Hinrich und sie sich zuletzt so nahe gewesen waren.
Ihr Weg hatte sie dann in Richtung Ortseingang geführt, vorbei am Malatelier Alte Schmiede, mit einem kleinen Schlenker zum urigen Hofladen des Bauernhofs Hoffmann und schließlich zum Eisboot, einer Fischerschute aus Holz, die vom Morsumer Kulturverein gestiftet und mit fünf lebensgroßen Holzfiguren ausgestattet worden war. Das Kunstwerk lockte viele Touristen an, wenn sie nach Morsum kamen, und war ein beliebtes Fotomotiv.
Ja, wir sitzen alle in einem Boot, hatte sie mit Blick auf die Ruderer des Dorfwahrzeichens gedacht und damit sich und das Team des Büchernests gemeint.
Auf dem Rückweg war sie an der heruntergekommenen Fassade des ehemaligen Traditionsgasthauses Kayser am Terpstich vorbeigekommen und hatte das Schild einer Immobilienfirma mit der Aufschrift Den Kayser wach küssen? gelesen. Nach der Schließung des Friesenpesels, des Nes Pük und der Fränkischen Weinstube gab es in Veros Heimatort nicht mehr viel, das an die alten Dorftraditionen erinnerte und wo Insulaner sich ungestört trafen. Doch nicht alles konnte wieder neu eröffnet oder wach geküsst werden, so bedauerlich dies auch war. Der Zahn der Zeit nagte nun mal auch an der Insel und veränderte das Gesicht Sylts, genau wie der stürmische Blanke Hans alles mit sich riss, wonach es ihn gerade gelüstete.
Kann man das Büchernest wach küssen und meine Ehe mit Hinrich?, hatte sie sich betrübt gefragt und beschlossen, ausnahmsweise einmal etwas zu tun, was keiner von ihr erwartete, am wenigsten sie selbst – nämlich das, wonach ihr gerade der Sinn stand.
Neunzig Minuten nach dem Friseurtermin bestaunte sie erneut ihr Spiegelbild in der Umkleidekabine einer Boutique mit dem klangvollen Namen Traumstück in der Friedrichstraße. Es war äußerst ungewohnt, in das Gesicht einer Frau zu blicken, deren mittelbraun gefärbte Haare zu einem Bob geschnitten waren, der ihr Kinn sanft umschmeichelte. Vero hatte am Morgen Wimperntusche und einen rosenholzfarbenen Lippenstift aufgetragen, was ebenfalls Kontur und Frische ins Gesicht zauberte. Da sie sich in den vergangenen Wochen viel an der frischen Luft und in der Sonne aufgehalten hatte, konnte sie getrost auf die getönte Tagescreme verzichten, die Nele ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte und die immer noch ungeöffnet im Badezimmerschrank lag.
»Gar nicht mal so übel«, murmelte Vero und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Wenn sie zusätzlich Gloss auftrug, würden diese ein wenig voller wirken, was bestimmt nicht schadete, auch wenn sie persönlich immer noch der Ansicht war, dass es in erster Linie auf die inneren Werte ankam.
»Ich finde auch, dass Ihnen dieses Oberteil und der Rock ausgezeichnet stehen«, stimmte die Verkäuferin ihr zu, die gerade mit weiteren Kleidungsstücken zu ihr in die Kabine gekommen war. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Vero bislang ausschließlich mit der Betrachtung ihres Gesichts und der neuen Frisur beschäftigt gewesen war und nicht mit dem, was sie gerade anhatte, oder mit den Outfits, die an den Bügeln in der Umkleide hingen und darauf warteten, anprobiert zu werden. Nach einer einstündigen Beratung und mit zweihundert Euro weniger im Portemonnaie verstaute Vero die Einkäufe im Auto und beschloss, noch etwas zu tun, wofür sie sich so gut wie nie Zeit nahm: ans Meer zu gehen.
Zuerst spazierte sie über die Westerländer Promenade, sah Urlauber in den Strandkörben sitzen und auf die Nordsee schauen und genoss die Sonnenstrahlen auf der Haut. Einige Touristen hielten Kaffeebecher in der Hand, andere eine Flasche Bier. Sie erblickte Freundinnen, die mit Aperol Spritz oder Hugo auf den Beginn des Urlaubs anstießen, und beobachtete beutehungrige Möwen, die über den Köpfen derjenigen kreisten, die sich gerade ein Fischbrötchen geholt hatten. Kitesurfer trugen ihre Boards ins Wasser, Meeresliebhaber wateten am Flutsaum barfuß durch die Nordsee, kleine Kinder formten mit Muscheln, Treibgut und Algen Muster auf dem hellen Sand oder schrieben mit Stöckchen krakelige Buchstaben. Mit einem Mal sah Vero Sylt mit den Augen derjenigen, die lange von einem Urlaub auf dieser Insel geträumt, ihn sich mühsam zusammengespart hatten oder als Tagesgäste gekommen waren, um sich wenigstens für einige Stunden das viel gerühmte Sylt-Gefühl zu gönnen und ihre Inselsehnsucht zu stillen. Gedankenverloren ging Vero weiter in Richtung Hotel Miramar und überlegte, wie es dort drinnen wohl aussah, denn sie kannte den Prachtbau, der 1903 für die ersten Gäste seine Pforten geöffnet hatte, lediglich von außen.
»Moin, Vero, was für ein Zufall«, sagte Adalbert, der plötzlich direkt neben ihr stand. »Wie kommt’s, dass du nicht arbeitest?«
Vero zuckte zusammen und war versucht, einen Arztbesuch oder eine Erledigung im Rathaus vorzuschützen, doch dann beschloss sie, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ich mache heute blau und erwäge gerade ernsthaft, das Miramar unter die Lupe zu nehmen. Warst du da schon mal drin?«
Erst jetzt schien Adalbert die Veränderung an Vero bemerkt zu haben, und er lächelte anerkennend. »Auch wenn man es kaum glauben mag, noch nie. Und so toll, wie du aussiehst, schreit förmlich alles danach, dass ich dich einlade, gemeinsam mit mir hier reinzugehen und auf deinen spontanen Kurzurlaub anzustoßen. Hast du Lust dazu, oder möchtest du lieber allein sein?«
Über diesen Vorschlag musste Vero keine Sekunde lang nachdenken, sie hakte sich bei Adalbert ein, und so schritten die beiden hoheitsvoll durch den Eingang des Nobelhotels.
Ans Foyer schloss sich die Bar an, die aussah wie aus einem Märchenbuch oder einem Schloss.
Ein freundlicher Kellner passte beide ab, und Adalbert fragte, ob es ausnahmsweise möglich sei, ein Getränk auf der Terrasse zu genießen, die den Hotelgästen vorbehalten war. Eine Minute später wurden beide nach draußen begleitet, und Vero war glücklich. Dieser schöne Ort war gleichzeitig so schlicht, dass sie sich weder unwohl noch deplatziert fühlte, wie sonst an den touristischen Hotspots auf Sylt, die sie tunlichst mied. Auf dem Rasen standen stylishe, aber gemütliche Korbmöbel unter ausladenden Sonnenschirmen. Runde Holztische luden dazu ein, es sich in Grüppchen gemütlich zu machen, und Strandkörbe dazu, vom Wind geschützt mit Blick auf die Nordsee zu sitzen und sich am Spiel der Wellen zu erfreuen. Eine halbhohe Hecke schirmte die Terrasse ab, Vero verliebte sich sofort in die hübschen Windlichter aus Bast, die überall verteilt worden waren, und freute sich, dass sie so unerwartet in den Genuss von Adalberts Gesellschaft gekommen war. Nachdem die beiden etwas zu trinken geordert hatten, wurde Vero neugierig. »Und was machst du heute in Westerland?«, wollte sie wissen und schaute verträumt aufs Meer.
»Ich war bei einem Immobilienmakler, weil ich mich nach einem neuen Standort für das Büchernest erkundigt habe«, erwiderte Adalbert. »Es wäre aber schön, wenn das erst mal unter uns bleiben würde, denn du weißt ja, wie Bea ist. Sie will sich um nichts in der Welt unter die Arme greifen lassen, und ehe ich nicht etwas Geeignetes gefunden habe, muss ich ja nun wahrlich nicht die Pferde scheu machen.«
»Allerdings«, murmelte Vero und staunte, als der Kellner eine Etagere an den Tisch brachte, auf der sich verschiedene Nusssorten, Chips und andere Leckereien befanden.
»Eine kleine Grundlage für Ihren Drink«, kommentierte er augenzwinkernd Veros fragenden Blick und stellte dann zwei Gläser mit perlendem Miramar- Sekt vor die beiden.
»Auf uns, das Leben und auf Feste, die man feiern sollte, wenn sich die Gelegenheit dafür bietet«, sagte Adalbert und hob das Glas.
»Darauf stoße ich ganz besonders gern an und auch darauf, dass Bea in dir einen so liebevollen, fürsorglichen und tollen Ehemann gefunden hat«, erwiderte Vero und blinzelte eine Träne weg, die sich in ihren Augenwinkel gestohlen hatte. Sie schalt sich innerlich dafür, dass sie ihre Ehe seit Neuestem häufig mit der von Bea und Adalbert verglich.
»Das dahinten ist doch dieser Starkoch Holger Hartwig, oder irre ich mich?«, hörte sie Adalbert fragen, und nun sah auch sie, dass der Mann, bei dem sie heute Abend zum Essen eingeladen war, drei Tische weiter mit zwei Herren zu Mittag aß. Den eher ernsten Mienen und den schicken Anzügen der Männer nach zu urteilen, handelte es sich um einen Business-Lunch. »Ja, das ist er, gemeinsam mit dem Makler, bei dem ich vorhin einen Termin hatte.«
Als spürte er, dass gerade über ihn gesprochen wurde, blickte Holger Hartwig von seinem Teller Suppe auf, taxierte Vero einen Moment, als sei er sich unschlüssig darüber, ob sie es auch wirklich war, und lächelte ihr dann unverwandt zu.
Vero spürte, wie schon wieder heiße Röte in ihre Wangen schoss, und hoffte, dass Adalbert dies nicht bemerkte. Sie lächelte freundlich zurück, aber nur so kurz, dass es nicht auffiel. Wenn Beas Mann wüsste, dass sie heute Abend eine Verabredung mit demjenigen hatte, der sich als ernsthafte Bedrohung für ihr Café erwies!
Ich treffe mich nur mit dem Feind, um für das Büchernest zu spionieren, rechtfertigte sie in Gedanken ihr Vorhaben.
Ich habe mich bloß deshalb so hübsch gemacht, weil ich mich verändern und für Neles Hochzeit in Form bringen will.
Außerdem hoffe ich, dass Hinrich mich dann endlich mal wieder als seine Frau wahrnimmt und nicht nur als eine, die verlässlich da ist, weil sie es nun mal immer schon war.
»Übrigens gibt es tatsächlich einige Immobilien, die als neuer Standort infrage kämen, magst du mal einen Blick auf die Exposés werfen?«, fragte Adalbert und öffnete die Mappe, die er unter dem Arm getragen hatte.
Vero fühlte sich hundsmiserabel, gleichzeitig aber auch ein bisschen verwegen. Sie saß auf der Terrasse eines Nobelhotels mit fantastischem Blick auf die Nordsee, trank köstlichen Sekt und ließ sich von den Unterlagen des Immobilienmaklers in Welten entführen, von denen sie kaum zu träumen wagte.
Lag es am Sekt, der ihr allmählich zu Kopf stieg, am neuen Styling oder schlicht daran, dass sie ausnahmsweise aus dem Alltagskarussell ausgestiegen war?
Vero hatte das Gefühl, dass es allerhöchste Zeit war, Dinge zu ändern und neue Wege zu gehen, auch wenn sie nicht mehr die Jüngste war. Oder womöglich gerade deshalb!