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Vero

N achdem Lissy sie abgesetzt hatte und mit Adalbert in Richtung Keitum weitergefahren war, stand Vero eine Weile unschlüssig vor der Haustür in Morsum und fragte sich, wie Hinrich wohl auf die Veränderung ihres Äußeren reagieren würde und was sie mehr schmerzen würde: eine spöttische Bemerkung oder dass er die Verwandlung gar nicht erst bemerkte. Sie bedauerte nicht zum ersten Mal, weder eine Rückzugsmöglichkeit noch ein eigenes Zimmer zu haben. Dennoch war es sinnlos, sich aus Sorge vor der Konfrontation mit Hinrich weiter im Eingang herumzudrücken, zudem blieb ihr nicht mehr viel Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Holger Hartwig in Keitum. Als ihr bewusst wurde, dass das Auto noch in Westerland parkte, wurde Vero heiß und kalt. Hätte sie vorhin in ihrem Übermut nicht mit Adalbert zwei Gläser Sekt getrunken, hätte sie jetzt den notwendigen fahrbaren Untersatz gehabt. Leider fuhren die Busse auf dieser Strecke nicht so häufig, daher streifte sie ganz kurz der Gedanke, sich ein Taxi zu gönnen. Doch sie verwarf ihn sofort wieder, denn was würden die Nachbarn und vor allem Hinrich sagen, wenn sie mitbekämen, dass Vero sich an einem gewöhnlichen Mittwochabend in ein Taxi setzte, noch dazu allein. In diesem Moment fiel ihr ein, dass sie sich noch eine kleine Notlüge zurechtlegen musste, falls Hinrich sie fragen würde, wo sie den Abend verbrachte. Sollte sie behaupten, ihr Wagen sei in der Werkstatt und sie müsste heute Abend Lissy mit den beiden Kindern zur Hand gehen? Vero hasste Unehrlichkeit, sie war dazu erzogen worden, geradeheraus zu sein und mit nichts hinter dem Berg zu halten.

»Wenn du etwas zu verheimlichen hast, dann bist du im Begriff, Unrechtes zu tun«, hatte ihr Vater ihr von klein auf eingebläut, und seine mahnenden Worte hatten sich tief in ihre Kinderseele eingebrannt. Je höher sich die Schwierigkeiten vor Vero auftürmten, desto unsicherer wurde sie. Feine Schweißperlen bildeten sich auf Stirn und Nase, die aufgekratzte Stimmung und die Freude darüber, etwas Ungewöhnliches zu tun: wie weggeblasen.

War sie denn wirklich die Frau, die noch eben auf der Terrasse des Nobelhotels gesessen und Holger Hartwig ein verstohlenes Lächeln geschenkt hatte, während am Meer das Watt allmählich trockenfiel und Sandbänke sichtbar wurden? Nach der Flut kommt Ebbe, das war schon immer so, dachte Vero betrübt, während ihre Finger mit dem Haustürschlüssel spielten. »Ich sage ab, denn ich mag keine Heimlichkeiten«, murmelte sie und öffnete die Tür. Im Haus war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Auf der Anrichte im Flur lag ein Zettel, auf den Hinrich die Worte Bin beim Skat gekritzelt hatte. Kein Gruß, keine lieben Wünsche, nur die schlichte Information. Vero atmete einmal tief durch, froh, ihrem Mann nicht in dieser Stimmung über den Weg laufen zu müssen. Sie schalt sich innerlich für ihre Gedanken und Empfindlichkeiten. Dahingeworfene Nachrichten wie diese hatten sie bis vor Kurzem kein bisschen gestört. Ganz im Gegenteil: Sie fand es schön, dass Hinrich sie wissen ließ, wo er war und mit wem er seine Zeit verbrachte. Dass er diese Notizen per Hand schrieb, war auch nicht selbstverständlich, denn seit einiger Zeit wurde er immer wieder von einem leichten Zittern heimgesucht, das Vero Sorgen bereitete. Das Tippen einer Nachricht ins Handy fiel Hinrich deutlich leichter, und dennoch wählte er den Weg, auf dem er ihr früher kleine Liebeserklärungen gemacht hatte, oftmals begleitet von einem Gruß aus der Natur.

Vero hatte die selbst gesammelten Kastanien, gepressten Herbstblätter, Frühjahrsblüten, Herzmuscheln und besonderen Vogelfedern aufbewahrt und betrachtete sie für gewöhnlich kurz vor Silvester, wenn sie ihre ganz persönliche Jahresrückschau hielt.

Hinrich ist weg, also könnte ich mich ja vielleicht doch mit Holger treffen, dachte Vero und zuckte schuldbewusst zusammen, als sie bemerkte, dass sie in Gedanken an den Hamburger Starkoch bereits den Nachnamen weggelassen, also die nötige Distanz zu ihm verloren hatte – und zudem sekündlich ihre innere Haltung änderte. Diese Erkenntnis alarmierte sie dermaßen, dass sie das Handy aus der Tasche nahm und schon eine Absage schreiben wollte, als sie sah, dass Hartwig eine Nachricht geschickt hatte. »Mein Fahrer holt Sie gern in Morsum ab, er muss ohnehin etwas im Hotel Hafengalerie abliefern«, stand da, als könnte Hartwig Gedanken lesen oder ihr Dilemma erahnen. Mist! Was nun? Vero überlegte hin und her. Hartwig hatte sie vorhin noch im Miramar gesehen, wusste also, dass sie gesund und munter war. Was könnte plötzlich so Dringendes dazwischengekommen sein, dass sie seine nette Einladung und den Fahrservice derart kurzfristig ausschlug? Und woher wusste Hartwig, wo sie wohnte? Hatte er extra im Telefonbuch nachgeschaut?

»Wer A sagt, muss auch B sagen«, hatte ihr Vater sie gelehrt. Also antwortete sie, dass sie in einer Stunde vor dem Eingang des Hotels sein und die Mitfahrgelegenheit sehr gern in Anspruch nehmen würde.

Bis dahin ist es dunkel, also wird mich hoffentlich keiner sehen, dachte Vero und schaltete das Radio an, um sich von ihren widerstreitenden Gefühlen und dem schlechten Gewissen abzulenken. Als die Songzeile Tanz, bis die Sonne wieder scheint, dreh dich durch die Nacht ertönte, begann wie durch Zauberhand erst der eine Fuß zu wippen, dann der andere. Die warme Stimme des Hamburger Sängers Stefan Gwildis erfüllte das Wohnzimmer, Vero spiegelte sich in der Panoramascheibe und fand mit einem Mal Gefallen daran, etwas zu tun, das sie zuletzt auf der Hochzeitsfeier von Bea und Adalbert getan hatte: sich um die eigene Achse zu drehen und dabei zuzuschauen, wie der Stoff des Tellerrocks um ihre Beine hüpfte wie ein aufgeregtes kleines Kind. Der fröhliche Song und die Erinnerung an einen traumhaften Konzertabend im Sylter Meerkabarett vor einigen Jahren knüpften wieder an die übermütige Aufbruchstimmung an, die sie nach dem Umstyling verspürt hatte, und plötzlich war sie wieder ganz oben auf der Achterbahn der Gefühle. Die Zeit verflog im Nu, Vero musste ihr Schritttempo deutlich erhöhen, um pünktlich am Hotel zu sein, als sie in der einsetzenden Dämmerung die Straße entlangging. Nachdem der sympathische Fahrer sie kurze Zeit später vor einem reetgedeckten Friesenhaus unweit des Grabhügels Tipkenhoog am Keitumer Watt abgesetzt hatte, pochte ihr Herz so laut gegen die Brust, dass sie befürchtete, man könne ihre Nervosität noch in Morsum hören und spüren.

»Guten Abend, schön, Sie zu sehen«, sagte Holger Hartwig zur Begrüßung. Vero fühlte sich wie ein junges Mädchen, als sie über die Schwelle trat und ihrem Gastgeber in das Wohnzimmer folgte. »Darf ich Ihnen einen Aperitif anbieten? Ich habe das Rezept und die Zutaten für einen hervorragenden Sanddorn Spritz da, kann aber auch gern die Klassiker mixen. Es sei denn, Sie möchten lieber da weitermachen, wo Sie vorhin aufgehört haben. Aber selbstverständlich gibt es auch Alkoholfreies.«

Seine Bemerkung zielte natürlich auf den Sekt ab, den sie vorhin mit Adalbert getrunken hatte, doch diese Anspielung störte Vero gerade überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil! Sie freute sich, dass Hartwig sie in Begleitung eines attraktiven Mannes beim Feiern gesehen hatte und nicht nur in spießiger Kochkleidung bei der Zubereitung des Essens im Café.

»Sanddorn klingt gut«, erwiderte sie, in Erinnerung daran, dass sie diesen Sommer häufiger auf den Restaurantterrassen einen Drink gesehen hatte, der gelblich orangefarben war, wie die Früchte des Sanddorns, auf Sylt allerdings ein seltenes Gewächs.

»Möchten Sie mir beim Mixen zusehen oder sich überraschen lassen?«, fragte Hartwig mit einem Augenzwinkern. »Wobei ich wahrscheinlich entspannter bin, wenn Sie mir nicht streng über die Schulter schauen.«

Vero wollte gerade fragen: »Ich und streng?«, konnte sich aber rechtzeitig bremsen. Es war gut, dass der Starkoch ihr Respekt zollte, und so sollte es auch bleiben. Schließlich war er in erster Linie immer noch ihr ärgster Konkurrent und der Grund für viele schlaflose Nächte, seit sein Foodtruck dem Café Gäste abspenstig machte. Also erwiderte sie: »Machen Sie ruhig mal, ich schaue mir währenddessen Ihre Bücher an, wenn ich darf.«

»Nur zu«, ermunterte Hartwig sie, einen Blick auf die vielen Titel in den prall gefüllten Regalen zu werfen. Wer hätte gedacht, dass sie beide nicht nur die Leidenschaft fürs Kochen und skandinavisches Design teilten, sondern auch für Bücher? Vero war erstaunt, als sie sah, welche Schätze sich hier verbargen. Echte Kochbuch-Raritäten, für die Sammler bereits viel Geld boten. Aber auch Backbücher, Bildbände über Tischdekoration, Sylt, Nordfriesland, Reisen und sogar Belletristik. Der Roman Zur See von Dörte Hansen erregte ihre besondere Aufmerksamkeit, denn sie hatte ihn bereits dreimal gelesen und träumte insgeheim davon, dass sich die gebürtige Husumerin einmal bereit erklären würde, eine Lesung für das Büchernest zu machen. Nicht im Laden, dazu lockte die Bestsellerautorin eindeutig zu viele Zuschauer an, aber vielleicht in Svens Hotel Strandkorbträume. Oder im Keitumer Friesensaal, der ebenfalls für Lesungen genutzt wurde. Versonnen strich Vero über den Rücken des Romans, der grafisch ausgesprochen schlicht, aber wunderschön gestaltet war, genau wie das Cover.

»Sie mögen Dörte Hansen?«, fragte sie Holger und ergriff das angebotene Glas mit dem Sanddorn-Mix aus Likör, Prosecco, einer Orangenzeste und einer Limettenscheibe.

»Seit Mittagsstunde, ja«, erwiderte er. »Mit Altes Land konnte ich nicht so viel anfangen, auch wenn ich mich sehr über die ironische Darstellung der Bewohner des Hamburger Stadtteils Ottensen amüsiert habe. Ich hatte bis vor drei Jahren dort ein Restaurant, aber irgendwie sollte das mit Ottensen und mir nicht sein.«

»Also mögen Sie die gesamte Region Nordfriesland, nicht nur Sylt?« Vero wurde warm ums Herz, als Holger nickte, wahrscheinlich auch, weil der köstliche Aperitif sie innerlich aufheizte. Wenn das hier so weiterging, würde sie ihre neue Strickjacke ausziehen müssen …

»Ich liebe fast alles, was mit der Nordsee zu tun hat. Mein Vater ist als Schiffskoch zur See gefahren, und ich durfte als kleiner Junge manchmal bei kürzeren Törns mit. Es hat mich zutiefst beeindruckt, dass mein Vater selbst bei größtem Seegang auf minimalem Raum einfache, aber äußerst schmackhafte Gerichte zubereiten konnte. Er sagte, dass ihn die Nordsee dazu inspirierte, denn er liebte sie genauso wie die hohen Himmel, den endlosen Horizont, meine Mutter und mich.«

»Darum der Foodtruck«, mutmaßte Vero und versuchte, die Flut von Emotionen zu unterdrücken, welche die Vorstellung von Holger als Jungen an der Seite eines Mannes, den er bewunderte, auf dem weiten Meer in ihr auslösten.

»Ganz genau. Die Küche darin bietet nur wenig Platz, und der Van ist mobil.« Holger flüsterte beinahe, als er fortfuhr: »Sie sind eine sehr einfühlsame Frau, das spürt man schon beim ersten Bissen der Gerichte, die Sie kochen, und der Backwaren, die ich liebe, obwohl ich sonst gar nicht besonders gern Süßes esse.«

»Woher wissen Sie, wie ich koche und backe?«, fragte Vero irritiert. Es gefiel ihr gar nicht, dass sie sich in Holgers Gegenwart fühlte wie eine Wachspuppe, die gleich zu schmelzen drohte.

»Ich war immer mal wieder zu Gast bei Ihnen im Café, als es noch in der Buchhandlung untergebracht war. Allerdings habe ich Sie nie persönlich zu Gesicht bekommen, weil ein junger Mann das Essen serviert hat.«

»Das war Olli«, erwiderte Vero und dachte mit leiser Wehmut an ihren guten Freund, der nach Hinrichs Herzinfarkt im Café eingesprungen war, während Vero sich um ihren Mann gekümmert hatte. »Er kocht jetzt im Restaurant Cox in der Langen Reihe in Hamburg und ist dort sehr, sehr glücklich. Aber wir vermissen ihn alle, denn er war unser kleiner Sonnenschein und immer optimistisch, wenn es mal nicht so lief.«

Holger Hartwig hob sein Glas und sagte: »Auf dass die Zeiten gut sind und gut bleiben. Und darauf, dass Sie hier sind. Es ist schön, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, denn ich muss Ihnen unbedingt eine wichtige Frage stellen.«