Nele
H ast du alles?« Sven stand neben Nele in ihrem Zimmer im Keitumer Kapitänshaus und betrachtete sie mit einem zärtlichen Lächeln. Das beruhigte sie zwar nicht vollends, gab ihr aber das schöne Gefühl, dass sie bei ihm gut aufgehoben war, egal, was auch geschah. »Und wenn nicht, auch kein Problem. Wir ziehen schließlich nicht von Sylt nach New York, sondern nur von Keitum nach List. Da ich ohnehin fast täglich hin- und herfahre, kann ich auch später noch alles holen, was du zusätzlich brauchst oder vergessen hast.«
»Mein größtes Problem ist eigentlich Schneeweißchen«, erwiderte Nele, die am Nachmittag einen Transportkorb besorgt und darin Leckerlis für das Kätzchen versteckt hatte, das sich jedoch partout nicht einfangen lassen wollte. Sosehr es sonst auch an Nele klebte, diesmal schien es zu spüren, dass etwas Großes bevorstand. Nele lockte Schneeweißchen erneut mit sanft gurrender Stimme, dann mit ihrem Lieblingsspielzeug und zuletzt, indem sie versuchte, das Kätzchen hochzuheben und in das Körbchen zu setzen. Doch dabei hatte sie die Rechnung ohne Schneeweißchen gemacht, die nicht im Traum daran dachte, auf Neles Tricks hereinzufallen, und ihr entwischte.
»Was hältst du davon, wenn wir erst mal losfahren, uns bei Ole einrichten und sie später holen?«, fragte Sven, der das Katz-und-Maus-Spiel amüsiert betrachtete und Nele einen Kuss gab. »Auf die paar Stunden kommt es doch auch nicht mehr an. Außerdem habe ich etwas geplant, das nur gelingt, wenn wir uns beeilen.«
»Du hast etwas geplant?« Nele liebte Überraschungen und begann sofort zu rätseln, was Sven am Abend des Tages vorhatte, der offiziell unter dem Motto stand: Wir ziehen zusammen und versuchen unser Glück . »Na, wenn das so ist, kann ich nur sagen: Nichts wie los! Tschüss, Schneeweißchen, du hast ja alles, was du brauchst, ich hole dich spätestens morgen.«
Das Kätzchen blieb gänzlich aus ihrem Blickwinkel verschwunden und gab zudem keinen Mucks von sich. Nele suchte das Zimmer und den Flur noch ein Weilchen ab, während Sven den letzten ihrer Koffer ins Auto brachte, doch schließlich gab sie seufzend auf. Sie ging nach draußen und schlüpfte auf den Beifahrersitz.
Aus dem Radio ertönte leise Musik, Nele legte ihren Kopf auf Svens Schulter, was diesen zum Glück nicht am Fahren hinderte. Sie liebte diese zarten Berührungen und konnte gar nicht genug davon bekommen: Sie hielt gern Händchen oder ging Arm in Arm mit Sven, wohingegen sie dies früher mit anderen Männern als lästig und sogar peinlich empfunden hatte.
Sie liebte unerwartete Küsse mitten in einem ernsthaften Gespräch, den Moment, wenn sich nachts ihre Füße zufällig berührten oder Sven im Schlaf den Arm um sie legte.
Für all das würden sie künftig Zeit und Gelegenheit im Überfluss haben, eine wunderschöne Vorstellung.
Als Sven auf die Straße Richtung List bog, wurde ihr noch deutlicher bewusst, dass in dieser Sekunde für sie beide ein neuer Lebensabschnitt begann: Sie würden zusammenziehen und von diesem Abend an einen großen Teil ihres Alltags miteinander teilen.
»Du bist so still«, sagte Sven. »Machst du dir noch Gedanken über Schneeweißchen?«
Nele schüttelte den Kopf und genoss den Anblick der grünlich schimmernden Nordsee und der sandigen Abschnitte neben der Fahrbahn. Nicht mehr lange, dann würde die Sonne untergehen und Sylt in eine Decke aus Purpur hüllen. Und nicht mehr lange, dann waren sie an dem Ort angekommen, an dem sie beide testen würden, ob das mit ihnen wirklich für immer war …
»Wohin fahren wir?«, fragte Nele erstaunt, als Sven, statt das Auto weiterhin geradeaus zu steuern, in Richtung Ellenbogen abbog und an der Mautstelle die Gebühr für das Befahren der Straße des Listlandes bezahlte, das in Privatbesitz war.
»Ich hatte dir doch eine Überraschung angekündigt, und ich halte meine Versprechen immer«, erwiderte Sven und fuhr bis zum Parkplatz am rot-weiß gestreiften Leuchtturm List-Ost.
»Bitte aussteigen, die Fahrt endet hier.«
Nele freute sich über den Anblick des Leuchtfeuers, ein beliebtes Postkarten- und Fotomotiv, eingebettet in den hohen Strandhafer, nur wenige Meter vom Wasser entfernt. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen, denn der Lister Ellenbogen lag ein wenig abgeschieden. Erstaunlicherweise war der Parkplatz so gut wie leer, aber man gelangte auch mit dem Fahrrad hierher oder zu Fuß, wenn man Freude an langen Märschen hatte. Nele stieg aus und knipste als Erstes ein Foto von dem dreieckigen Schild, das den Grenzverlauf zwischen Deutschland und Dänemark markierte und farblich wunderbar zum Leuchtfeuer passte. Sven öffnete währenddessen den Kofferraum. Seine Frage »Hast du Hunger und Lust auf ein Picknick?« war eher rhetorisch, denn er wusste genau, dass Nele ein Faible für Essen unter freiem Himmel hatte.
»Was für eine großartige Idee«, rief Nele begeistert und nahm die beiden Decken, die Sven zusammengerollt und mit einer Schleife versehen hatte. Er selbst trug den Picknickkorb, den sie ihm im Sommer zum Geburtstag geschenkt hatte. Voller Vorfreude auf die Ausläufer des Sonnenuntergangs, die sie beide gleich erwarteten, ging Nele mit raschen Schritten Richtung Deichkrone. Man musste zunächst eine Weile über graue Steine abwärtslaufen, bis man den Sandstrand unterhalb des Leuchtturms erreichte, aber das machte nichts, sofern man darauf achtete, nicht auszurutschen. Sobald sie unten angekommen waren und ein lauschiges Plätzchen gefunden hatten, bot sich ein schier atemberaubender Anblick: Vor ihnen rollten Wellen an den Strand, rechts überragte der rot-weiße Leuchtturm-West die Szenerie. Nele entdeckte im Sand einen Seestern, eine gestreifte Fasanenfeder und einen Strandseeigel und machte auch davon Fotos, während Sven die Picknickdecke ausbreitete und anschließend Teller, Besteck, Servietten und Gläser darauf platzierte.
»Na, das geht ja schon gut los mit der Aufgabenteilung. Ich mache hier die Arbeit, und Madame widmet sich in aller Seelenruhe dem Fotografieren.«
Nele wusste zuerst nicht, ob Sven dies ernst meinte oder einen Scherz machte, doch ein kurzer Blick auf sein schelmisches Lächeln genügte, um zu erkennen, dass alles in bester Ordnung war. »Ich übernehme nachher den Abwasch«, bot sie scheinbar großzügig an, wohl wissend, dass Ole eine Geschirrspülmaschine hatte, und steckte die Feder, den vertrockneten Seestern sowie den Seeigel in ihre Tasche. Liu würde sich bestimmt über diese Strandfunde freuen. »Und natürlich auch das Öffnen der Weinflasche«, ergänzte sie und entkorkte den weißen Sölviin, gekeltert aus Sylter Weintrauben. Diese Spezialität war nicht die einzige, die Sven aus dem Korb zauberte: Es gab knuspriges Brot, Krabbensalat, Käse und Weintrauben. Nele genoss jeden einzelnen Bissen und jeden Schluck des Weins, mit dem sie sich beide auf das Abenteuer Probewohnen zuprosteten, Sven trank jedoch nur einen kleinen Schluck, denn der Heimweg stand noch bevor.
Beide bestaunten wortlos den Flug der Möwen, die immer wieder ins Wasser stießen, um Beute zu machen, und sich mit anderen lärmend zankten. Sanderlinge tippelten aufgeregt am Flutsaum umher, der Wind trug die Rufe der Austernfischer und Seeschwalben über die Insel und trieb kleine Wattewolken über den Horizont. Zur Untermalung dieser perfekten Szenerie färbte sich der Himmel nach und nach, irgendwann ergoss sich die Abendröte schimmernd über den Strand, und das Leuchtfeuer-West sandte seine Leuchtstrahlen über das Meer. Den eigentlichen Sonnenuntergang konnte man hier nicht bestaunen, aber das machte nichts. Nele empfand das Farbenspiel der Abenddämmerung manchmal sogar als spannender und schmiegte sich noch enger an Sven, der längst eine Decke über sie beide gebreitet hatte und ihre Hand hielt.
»Ich wünsche mir, dass wir noch viele solcher Momente zusammen erleben«, murmelte sie und schloss kurz die Augen. »Und ich hoffe, dass wir immer hierbleiben können, denn Sylt ist der schönste Ort auf Erden.«
»Aber natürlich werden wir das«, erwiderte Sven und drückte ihre Hand ein kleines bisschen fester. »Auch ich habe diese Insel in mein Herz geschlossen und möchte dauerhaft hier mit dir leben. Alles andere ist längst keine Option mehr für mich.«
Nele wusste nicht, wie lange sie schon dort gesessen und das Naturschauspiel bewundert hatten, das seinesgleichen suchte. Doch irgendwann war auch der letzte Streifen Röte einem dunklen Nachtblau gewichen, und sie begann zu frösteln. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt heimfahren und uns gemütlich ins Bett kuscheln?«, schlug sie vor und spürte der Empfindung nach, die das Wort heim in ihr auslöste: Ja, es fühlte sich gut an, dies zu sagen, genau wie das Wir .
»Das klingt wunderbar«, erwiderte Sven, dann packten sie gemeinsam alles zusammen und gingen Hand in Hand hinauf zum Parkplatz am Leuchtturm.
Kurze Zeit später parkten sie vor Oles Haus auf der Düne nahe dem Ortseingang von List, und Nele kramte hektisch nach dem Schlüssel, der nicht wie sonst in der Innentasche war. Verdammt! Wo hatte sie ihn hingetan?
»Alles gut, oder müssen wir den Schlüsselnotdienst holen?«, fragte Sven, während Nele sich dafür verfluchte, zuweilen furchtbar schusselig zu sein und zudem eine Vorliebe für riesige Taschen zu haben. Die waren nicht nur unverhältnismäßig schwer, man fand auch nichts in ihnen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit gab sie schließlich auf und sagte zähneknirschend: »Der Notdienst ist eindeutig zu teuer, ich fürchte, wir müssen zurück nach Keitum. In der Aufregung um Schneeweißchen habe ich den Schlüssel wahrscheinlich auf der Kommode liegen lassen.«
»Alles klar, dann nichts wie los. Und wer weiß? Vielleicht hat das Kätzchen dich inzwischen so vermisst, dass es freiwillig in den Korb hüpft und sich diesmal mitnehmen lässt.«
»Woher nimmst du eigentlich deine Gelassenheit?«, fragte Nele, als sie wieder im Auto saßen und in Richtung Sylt-Ost fuhren. »Jeder andere wäre genervt gewesen, hätte eine Szene gemacht und mich als völlig verpeilt bezeichnet.«
»Solange du mich nicht vor dem Traualtar stehen lässt, weil du den Termin vergessen hast, ist doch alles gut«, erwiderte Sven lachend. »Und es gibt weiß Gott Schlimmeres.«
Kurz vor Keitum blinkte Neles Handy auf, das sie auf lautlos gestellt hatte, und sie sah, dass eine Nachricht von Vero eingegangen war. Vero schrieb nur äußerst selten am späten Abend, also musste es etwas Wichtiges sein. Und tatsächlich. Ihre Frage lautete: »Hast du zufällig einen Augenblick Zeit für mich? Wenn ja, komme ich zu dir«, was Nele sofort beunruhigte. Dennoch rang sie mit sich, da der Zeitpunkt kaum ungünstiger hätte sein können und sie Sven nicht enttäuschen wollte, zumal er sich solche Mühe mit dem romantischen Strandpicknick gemacht hatte. Allerdings bat Vero sonst nie um Hilfe und schien in Not zu sein. Das hatte definitiv Vorrang vor allem.
»Wäre es okay für dich, wenn ich mich gleich noch kurz mit Vero treffen würde?«, fragte sie, als Sven das Auto vor Beas Haus parkte. »Irgendetwas scheint passiert zu sein, sie hat allerdings nicht geschrieben, worum es geht.«
Sven runzelte die Stirn. »Das ist in der Tat ungewöhnlich, denn eigentlich gehen sie und Hinrich doch immer früh zu Bett. Natürlich solltest du sie treffen, wenn sie dich braucht, ich laufe ja nicht weg. Allerdings würde ich vorschlagen, dass wir den Umzug auf morgen verschieben, so schade ich es auch finde, dass wir nicht mehr zurück nach List fahren. Aber sonst wird es reichlich spät, und wir müssen ohnehin beide morgen früh wieder hier sein.«
Na super, das Projekt Probewohnen fängt ja gut an, dachte Nele und tippte eine rasche Antwort an Vero. Denn natürlich würde sie ihrer guten Freundin beistehen, egal, was passiert war, und egal, ob sie deshalb ihre eigenen Pläne über den Haufen werfen musste.
»Du bist der tollste Mann, den man sich nur wünschen kann«, sagte sie zum Abschied, gab Sven einen innigen Kuss und schaute ihm noch eine Weile bedauernd hinterher, als dieser in Richtung seiner Wohnung im Hotel Strandkorbträume fuhr.