Rieke
D a Bengt unaufhörlich durch ihre Träume gegeistert war und sie sich in den frühen Morgenstunden bei der Frage ertappt hatte, wie der Partyabend wohl verlaufen wäre, wenn es dieses hübsche Mädchen nicht gegeben hätte, beschloss Rieke, den Tag zu beginnen. »Mach dich nicht verrückt wegen eines Kerls«, schalt sie sich selbst und scrollte zur Ablenkung frühmorgens durch die Instagram-Accounts der Buchbloggerinnen und Buchblogger, Verlage und Influencer, die sich mit dem Thema Lesen beschäftigten. Jeder hatte seinen eigenen Stil und seine eigene Methode, um Follower für Literatur oder Unterhaltungsromane zu begeistern. Kein Wunder, dass seit Jahren Auszeichnungen für diese Plattformen verliehen wurden und viele davon träumten, den begehrten Buchblog-Award zu erhalten. Sie klickte auf ein Video und verfolgte mit Begeisterung ein Gespräch zwischen einer ihrer Lieblingsautorinnen und einem Buchhändler. Es war toll, dass man durch die Social-Media-Kanäle die Möglichkeit hatte, Lesungen auch online zu erleben und Interviews und Insta-Live-Auftritte gemütlich auf dem heimischen Sofa zu genießen. Auch Podcasts waren eine großartige Möglichkeit, sich zu informieren, beim Zuhören zu lachen, zu träumen und zu weinen. Doch nichts von alldem ersetzte die persönlichen Begegnungen bei Lesungen, auf Buchmessen oder Festivals.
Eines Tages würde sie auch in diesem Bereich mitmischen, dessen war Rieke sich gewiss. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg, denn sie hatte sich vorerst andere Ziele gesteckt.
Jetzt war es an der Zeit, aufzustehen, zu duschen und sich für den neuen Tag zurechtzumachen, auf den Rieke sich freute, weil ihr Beruf ihr die Möglichkeit eröffnete, das zu tun, was sie am liebsten mochte, und Zerstreuung vom Thema Bengt bot. Dennoch spazierten ihre Gedanken immer wieder zu ihm und dem romantischen Traum, in dem sie beide unter freiem Himmel am Strand geschlafen, mit dem Rad die Insel erkundet, ein Eis gegessen und gemeinsam einen Ausritt durchs Watt gemacht hatten.
Von irgendjemandem hatte sie gehört, dass Bengt oft in den frühen Morgenstunden am Strand von Westerland joggte. Plötzlich blitzte eine Idee in ihrem Kopf auf, und sie schaute auf die Uhr. Wenn sie sich beeilte, müsste sie es eigentlich schaffen, in einer knappen halben Stunde an der Promenade zu sein. Von dort oben hatte sie den Strand im Blick, und vielleicht …
Kurz darauf hatte sie sich zurechtgemacht und einen schnellen Kaffee getrunken. Für ein Frühstück war sie eindeutig zu nervös, denn wenn sie Bengt wirklich traf, würde sie mit ihm darüber sprechen müssen, was am späten Abend auf der Strandparty vorgefallen war, denn der unschöne Ausgang nagte immer noch an ihr und warf unzählige Fragen auf.
Während Rieke im Licht der Morgendämmerung in die Pedale trat, dachte sie daran, wie Bengt wiedergekommen war, nachdem er Ronny nach Kampen gebracht und sich vergewissert hatte, dass es ihm gut ging. Rieke hatte in Gedanken ein kleines Dankeschön an die Sternschnuppe geschickt, die ihren Wunsch, Bengt schnell wiederzusehen, erfüllt hatte. Während Emma und einige andere Mädchen versunken tanzten, hatten sie und Bengt sich ans Lagerfeuer gesetzt, gequatscht, Stockbrot und Marshmallows geröstet und sich ein Bier geteilt. Rieke war so aufgeregt gewesen wie schon lange nicht mehr und hatte sich nur eins gewünscht: dass er sie endlich in den Arm nahm und küsste.
»Arbeitest du nur als Rettungsschwimmer, oder hast du noch einen anderen Sommerjob?«, hatte sie gefragt und dabei die Augen kaum von seinen schön geschwungenen Lippen lassen können. Rechts darüber entdeckte sie eine kleine Narbe, die Bengt etwas Wildes, Verwegenes verlieh.
»Ich jobbe auch noch im Twisters in Wenningstedt«, erwiderte er, und ihre Blicke verfingen sich. Rieke konnte es nicht genau erkennen: Waren seine Augen meerblau oder eher meergrün? »Und du? Arbeitest du Vollzeit in der Buchhandlung, von der du eben erzählt hast, oder ist das ein Sommerjob, bevor das Studium beginnt?«
Als sie ihm die Bierflasche reichte, deren Inhalt sich allmählich dem Ende neigte, berührten sich ihre Hände, und es erschien Rieke, als gäbe es einen Funkenschlag. Bengt ging es offenbar ähnlich, denn er ließ die Flasche in den Sand fallen und beugte sich zu ihr vor. Sein Gesicht war jetzt dicht an ihrem, sie konnte seinen Atem riechen, der gar nicht nach Bier roch, sondern nach etwas unglaublich Köstlichem duftete, etwas, das sie magisch anzog. Sie schloss intuitiv die Augen und konnte es kaum erwarten zu erfahren, wie sich sein Mund auf ihrem anfühlen, wie er schmecken und wie er küssen würde.
Doch anstatt dass ihre Lippen miteinander verschmolzen, zischte plötzlich eine weibliche Stimme: »Was geht denn bitte hier ab?«, und Rieke öffnete sofort die Augen. Im Schein des Lagerfeuers sah sie ein bildhübsches Mädchen mit pechschwarzem Pagenkopf und einem Schlangentattoo am Hals, das die Hände in die Hüften gestemmt hatte, sie wütend anfunkelte und rief: »Pfoten weg von Bengt, der ist mit mir zusammen!«
Emma schien zu sehen, dass Rieke in einer misslichen Situation steckte, hörte auf zu tanzen und stellte sich neben sie.
»Lass es gut sein«, erwiderte Bengt, stand auf und zog die Wütende mit sich. Rieke hörte sie keifen und sah sie wild gestikulieren, dann wurden beide von der Dunkelheit verschluckt. Seitdem hatte Rieke nichts mehr von Bengt gesehen oder gehört.
Wenig später stand sie auf der Promenade, wo der kühle Wind ihr Tränen in die Augen trieb. Sie blinzelte ein paarmal und suchte den Strand nach Läufern ab, und da gab es etliche. Doch keiner von ihnen sah aus wie Bengt, und Rieke spürte Enttäuschung in sich aufsteigen. Er wusste, wo sie arbeitete, er hätte also ins Büchernest kommen und sich erklären können. Zudem hätte Rieke zu gern gewusst, ob es wirklich stimmte, dass die Schwarzhaarige seine Freundin war, oder ob nur sie selbst das dachte …
Weil ihr ein bisschen kühl wurde, ging Rieke mit strammen Schritten nach links zum Bohlenweg, begleitet von einer Silbermöwe, die sich offenbar Futter erhoffte. Der hübsche Vogel schaute sie mit großen, dunklen Augen an, tippelte jedoch bald davon, als klar wurde, dass bei dieser Spaziergängerin nichts zu holen war. Rieke ließ ihren Blick weiter über den hellen Sandstrand schweifen, der nach dem letzten großen Sturm im Januar an vielen Stellen hatte aufgeschüttet werden müssen. Sie konnte sich noch gut an die riesigen Baufahrzeuge erinnern, die dort gestanden und den idyllischen Eindruck stark getrübt hatten. Doch so war das nun mal auf Sylt: Es ging immer wieder sehr stürmisch zu. In der Natur, aber auch in den Herzen der Menschen, die hier lebten und liebten, und man tat gut daran, angesichts dieser Herausforderungen einen möglichst kühlen Kopf zu bewahren. Irgendwann beruhigten sich die Dinge ohnehin wieder. Stürme ließen nach und wurden zu lauen Lüftchen, große Hitze wich kühlen Temperaturen, aufgepeitschte Wogen glätteten sich zu einer sanften See, auf der noch nicht einmal Schaumkronen in der Sonne glitzerten. Rieke spürte, dass der Spätsommer eine gewisse Beruhigung mit sich brachte, eine Wohltat für diejenigen, die in der Saison viel zu viel gearbeitet und nur wenig freie Zeit gehabt hatten. Es standen längst nicht mehr so viele Strandkörbe am Meer, und mit den weniger werdenden Badegästen und Wanderern, die die Gefahren des Wattenmeeres unterschätzten, endete unweigerlich auch die Zeit, in der Rettungsschwimmer dafür engagiert waren, in Not Geratene zu bergen. Rettungsschwimmer, wie Bengt …
Der Anblick des auf Stelzen stehenden DLRG -Häuschens im Licht der stärker werdenden Sonne und die Erinnerung an den aufregenden Beinahe-Kuss ließen Riekes Herz wild pochen, und sie wusste, es war allerhöchste Zeit, wieder zur Vernunft zu kommen: Wenn Bengt wirklich etwas daran lag, sie wiederzusehen und ihr seinen Beziehungsstatus zu offenbaren, wusste er, wo er sie finden würde. Sie war nicht wie diese Mädchen aus den schlecht geschriebenen New-Romance-Büchern, die ewig einem Typen hinterherschmachteten, der entweder längst vergeben war oder erwartete, dass sie ihm hinterherliefen. Außerdem wollte sie nach der schmerzhaften Trennung von Keno keinen erneuten Liebeskummer riskieren. Wie oft kann ein Herz verletzt werden, bis es endgültig bricht und nicht mehr geheilt werden kann?, fragte sie sich, weil Bengt bereits viel zu viel Raum in ihrer Gefühlswelt einnahm. In diesem Moment kamen ihr Beas Worte über die stolzen Sylterinnen in den Sinn, mit denen sie zweifellos recht hatte. Also reckte Rieke das Kinn und machte kehrt. Denn sie wollte auf keinen Fall zu spät ins Büchernest kommen, nur weil Bengt sie kurzfristig aus der Fassung gebracht hatte!