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Lissy

S chatz, was ist los? Du wirkst immer noch so bedrückt.« Leon und Lissy gingen am Montagnachmittag mit den beiden Kleinen die Promenade von Hörnum entlang, wo im Hintergrund der rot-weiß gestreifte Leuchtturm aufragte, in dem sie beide getraut worden waren.

Liu hielt die Hand ihres Papas und summte fröhlich vor sich hin, Lissy hatte sich das Tragetuch mit Niels umgebunden. Das Ziel ihres Fußmarsches waren die Tetrapoden, die dem Küstenschutz dienten und eine geradezu magische Wirkung auf Liu ausübten. Sie nannte die vierarmigen Wellenbrecher aus Beton, die die Wucht des anbrandenden Wassers abmildern sollten, Kraken und liebte es, zwischen ihnen umherzuspringen und sich hinter den Kolossen zu verstecken.

»Wie ich dir heute Morgen schon gesagt habe, macht mich die Situation des Büchernests total fertig. Veros Kündigung, ihr Streit mit Nele und zu allem Überfluss auch noch Neles und mein ungeplantes Geständnis … Alles, was mir immer so viel bedeutet hat, bricht auseinander.«

»Ja, das tut es, und ich kann verstehen, dass dich das beunruhigt«, erwiderte Leon und ließ Lius Hand los, weil diese in Richtung Crêpe-Stand stürmen wollte, wo sie hin und wieder etwas vom Besitzer geschenkt bekam. »Aber das schafft auch Raum für Neues, für Entwicklungen … du siehst doch an Beas Reaktion, dass sie offenbar auch nicht mehr gewillt ist, zu kämpfen, sonst hätte sie euch bestimmt Dampf gemacht und versucht, euch dazu zu motivieren, durchzuhalten. Doch sie schreibt, wie du sagst, mit Feuereifer an ihrem zweiten Buch, Nele ist happy mit Sven und ihren Aufträgen als Kinderbuchillustratorin, und Vero kann ab Januar endlich das tun, wo sie wieder voll in ihrem Element ist: in der Küche herumwirbeln. Und für dich ist es doch auch wesentlich leichter, wenn du mehr Zeit für dich selbst und die Kleinen hast. Dann musst du dich nicht mehr ständig zwischen allen Fronten zerreiben und dir Sorgen machen, wenn Lius Tagesmutter mal ausfällt. Außerdem stelle ich es mir kuschelig vor, wenn wir im Winter alle vier zu Hause sind und es uns nett machen. Ich würde übrigens gern bald mit dir die Möbel für das Arbeitszimmer aussuchen und den Raum neu streichen. Wenn du willst, können wir auch die anderen Zimmer ein bisschen auf Vordermann bringen. Du blätterst doch so häufig in Wohnzeitschriften, vielleicht möchtest du ja etwas im Haus verändern.«

So verlockend das auch alles klang, sosehr spürte Lissy tief in ihrem Inneren, dass bei alldem etwas fehlte: nämlich ihr Platz im Leben, unabhängig von ihrer Mutterrolle, auch wenn diese für sie oberste Priorität hatte. Doch sie liebte es, mit Büchern zu tun zu haben, auch wenn sie ursprünglich eine Ausbildung zur Hotelkauffrau absolviert hatte. Sie mochte den Umgang und Austausch mit Menschen und die Abwechslung, welche die Tätigkeit im Büchernest stets mit sich brachte. Die Signierstunde hatte ihr großen Spaß gemacht, genau wie die Zusammenarbeit mit Rieke und deren Freundin Emma. Sollte das nun wirklich alles vorbei sein?

Bea hatte gestern Abend deutlich gemacht, dass sie das Büchernest zum Jahresende schließen würde, wenn alle damit einverstanden wären. Aber war sie das wirklich?

Womit würde sie sich beschäftigen, während ihre Freundinnen Tätigkeiten nachgingen, die sie glücklich machten und bei denen sie sich verwirklichen konnten?

Sollte sie sich in einer der Buchhandlungen in Westerland als Teilzeitkraft bewerben? Sie mochte Buchhändler Rolf Klaumann und seine Frau Sabine, die die Filiale der Badebuchhandlung in Wenningstedt leitete, sehr. Doch da wäre sie nur eine Angestellte und nicht mehr Mitinhaberin, was allerdings den Vorteil hätte, dass sie ein festes Einkommen hätte, im Gegensatz zu Leon, der sich gerade selbstständig machte.

»Wir müssen uns auf alle Fälle so bald wie möglich zu viert treffen, eruieren, wie man die Dinge positiver angehen und damit wieder in Ordnung bringen kann«, sagte sie, sah, wie Liu sich artig in die Schlange am Crêpe-Stand einreihte, und schmunzelte. Ihre Tochter war wirklich ein kleines Schleckermäulchen und liebte die Schokoladenfüllung in den hauchdünnen Pfannkuchen – vor allem, wenn die freundliche Mitarbeiterin ihr noch einen Smiley oder ein Herz aus Schokosoße auf die Crêpe malte.

Wahrscheinlich wäre es hilfreich, künftig etwas entspannter und spielerischer an alles heranzugehen, und nicht so verkopft.

»Habt ihr eigentlich Vero endlich erreicht?«, fragte Leon, der natürlich mittlerweile im Bilde war.

»Leider nein«, erwiderte Lissy. »Sie geht nicht ans Handy, beantwortet keine Textnachrichten und hat heute auch nicht das Café geöffnet, wie ich von Rieke weiß. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Besuch sie doch einfach, ich gehe gern solange mit den beiden Kleinen hier spazieren.«

»Wäre das wirklich okay?«, fragte Lissy, die schon mit diesem Gedanken geliebäugelt hatte. Doch sie bekam sofort ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Familie. Die Sonne strahlte heute mit voller Kraft vom Himmel, und sie hatten nicht häufig die Gelegenheit, an einem Nachmittag in der Woche etwas zu viert zu unternehmen.

»Aber natürlich, Schatz«, erwiderte Leon, gab ihr einen Kuss und nahm ihr das Tragetuch ab. »Sollte etwas mit Niels sein, bist du ja erreichbar. Ich drücke die Daumen, dass du Vero erwischst und ihr vielleicht gemeinsam etwas mehr Licht in diese verfahrene Situation bringt. Nimm ruhig das Auto, wir fahren dann nachher mit dem Bus zurück.«

Erleichtert darüber, dass Leon sie bestärkt hatte, verabschiedete Lissy sich und ging zurück zum Parkplatz in der Nähe des Hafens, wo gerade ein Ausflugsschiff ankam. Wenige Minuten später war sie auf dem Weg nach Morsum, denn wo sollte Vero sonst sein?

In der Tat musste Lissy nur einmal klingeln, dann öffnete Vero die Tür, offensichtlich erfreut, Lissy zu sehen. »Das ist ja eine schöne Überraschung, komm herein, wir gehen nach oben, ich möchte dir unbedingt etwas zeigen.«

»Du bist also gar nicht krank, sondern machst heute mal wieder blau«, stellte Lissy fest und folgte Vero in den ersten Stock. Diese öffnete die Tür des ehemaligen Gästezimmers, und Lissy staunte nicht schlecht, als sie sah, dass der Raum nun offensichtlich Veros Reich war.

»Das sieht ja traumhaft aus«, flüsterte sie beinahe ehrfürchtig. »Vor allem die Rosentapete. Und das Bett würde mir auch gefallen, dieser Landhausstil ist einfach zeitlos schön. Leider kann ich unser Schlafzimmer nicht so einrichten, weil Leon sich sonst unwohl fühlen würde.«

»Hinrich hat auch einen halben Anfall bekommen, vor allem, als dieses Schätzchen geliefert wurde, aber das war mir egal«, erwiderte Vero. Mit »Schätzchen« meinte sie den ausladenden Lesesessel, dessen Stoff ebenfalls ein üppiges Blumenmuster zierte. Auf Veros Lippen lag ein freches, selbstbewusstes Lächeln.

»Du scheinst ja so einiges in deinem Leben zu erneuern«, erwiderte Lissy, die schockverliebt in den umgestalteten Raum war. »Der neue Look, das neue Zimmer, der neue Job.«

»Ja, der neue Job«, wiederholte Vero, und ihr Lächeln war plötzlich wie weggeblasen.

»Magst du mir davon erzählen, oder nervt dich das eher?«, fragte Lissy, der nicht entging, dass Veros Stimmung mit einem Mal gewechselt hatte.

»Das mache ich sehr gern, denn du bist die Erste, die offenbar wirklich hören möchte, wie es dazu gekommen ist und wie es mir geht. Aber lass uns das nicht hier besprechen, sondern unten. Möchtest du Tee oder Kaffee? Ich habe heute Morgen Marmorkuchen gebacken, als hätte ich geahnt, dass du kommst.«

»Mhm, Marmorkuchen«, erwiderte Lissy und leckte sich voller Vorfreude die Lippen. »Ich hätte gern Tee, kann ihn aber auch selbst zubereiten.«

»Nichts da, das kommt gar nicht infrage«, protestierte Vero. »Mach es dir in der Stuv gemütlich, ich bin gleich bei dir.«

Lissy schaute im Wohnzimmer durch das Fenster auf die Terrasse und Veros riesengroßen Garten und wurde traurig. Sie dachte an unzählige Familienfeiern, Grillfeste, Sommerpartys, Kindergeburtstage und Taufen, die fast ausnahmslos mit der Großfamilie hier gefeiert worden waren. Würde das alles bald ebenso der Vergangenheit angehören wie die Zusammenarbeit im Büchernest? Wenn Vero und Hinrich getrennte Schlafzimmer hatten, war das ein mehr als deutliches Zeichen.

»Also, wie kam es zu dieser ganzen Sache?«, fragte Lissy Vero, als die beiden an der hübsch gedeckten Kaffeetafel saßen, die für zwei Personen viel zu groß war. Ein Tonkrug voll bunter Herbstblumen aus Veros Garten bildete den Mittelpunkt, der Raum wurde von den Strahlen der Herbstsonne erhellt, die das Zimmer förmlich durchfluteten.

Vero begann zu erzählen, und Lissy hörte aus jeder Silbe heraus, dass Vero sich nicht nur in eine reizvoll erscheinende Aufgabe verliebt hatte, sondern auch ein Stück weit in den Mann, der ihr offensichtlich die Chance auf einen Neuanfang bot – zumindest in beruflicher Hinsicht.

»Eigentlich wollte ich das ja alles in Ruhe mit Bea besprechen und sie nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen, aber dann ist plötzlich alles aus dem Ruder gelaufen, und es gab auch noch diesen schrecklichen Streit mit Nele …«

Bis eben hatte Vero aufgedreht und glücklich gewirkt, doch nun brach ihre Stimme. Lissy legte die Hand auf Veros Arm, und so fuhr Vero fort: »Beide haben herablassend reagiert und so getan, als sei ich nicht mehr in der Lage, einen Mann für mich zu interessieren, weder für mich als Frau noch als Mitarbeiterin.«

»So ein Unsinn«, platzte es aus Lissy heraus. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass vielleicht alles gar nicht so weit gekommen wäre, wenn beide etwas feinfühliger und vor allem besonnener mit Veros Wünschen und Gefühlen umgegangen wären. Doch das war leider weder Beas noch Neles Stärke. »Du bist eine tolle, sympathische, attraktive und sehr talentierte Frau«, widersprach sie energisch und fühlte Wut in sich aufsteigen. Sosehr sie ihre Tante und ihre Freundin auch liebte, waren beide aber leider gleichermaßen exaltiert, häufig zu ungeduldig und selbstbezogen. »Wieso hast du nicht als Erstes mit mir gesprochen? Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe und für dich da bin, wenn du mich brauchst.«

»Das weiß ich, Lissylein«, erwiderte Vero und streichelte ihre Hand. »Du wärst an sich auch meine erste Wahl gewesen, aber du darfst nicht vergessen, dass du Mitinhaberin des Büchernests bist. Nele erschien mir in dieser Situation eine neutralere Ratgeberin. Außerdem habe ich gehofft, dass sie am ehesten Verständnis für meine Pläne und Ideen haben würde, schließlich war sie sofort Feuer und Flamme, als es um das Umstyling ging.«

»Da gebe ich dir recht, aber vertragt euch bitte wieder. Es wäre doch jammerschade um diese jahrelange, schöne und innige Freundschaft.«

Mit einem Mal schimmerten Tränen in Veros Augen, was Lissy unendlich wehtat. Sie liebte diese Frau, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern gemeinsam mit Bea wie eine zweite Mutter für sie gewesen war. Vero war schon immer da gewesen, seit Lissy denken konnte. Sie hatte ihr so oft geholfen, war liebevoll im Umgang mit den Kleinen und eine Seele von Mensch. Aber wahrscheinlich brauchte Vero genau von alldem eine Pause.

»Ich weiß nicht, ob das wieder wird«, schniefte Vero. »Denn das setzt voraus, dass Bea und Nele verstehen, dass ich mich nach Veränderung sehne. Es tut unendlich gut, wertgeschätzt, gesehen zu werden und Neues auszuprobieren. Ich durfte gestern das Team des Restaurants kennenlernen, und ich freue mich auf den Neustart im Januar, obwohl ich ein wenig Muffensausen habe. Das ist alles sehr viel Verantwortung, und die Mitarbeiter sind ausnahmslos jung. Keine Ahnung, wie die es finden, mit mir alter Schachtel zusammenzuarbeiten und sich von mir auch etwas sagen lassen zu müssen. Sie sehen wahrscheinlich Merten aus Hamburg viel eher als ihren Chef an als mich.«

»Aber Hartwig hat sich ganz bestimmt etwas dabei gedacht, dir den Job zu geben und nicht diesem Merten. Wahrscheinlich möchte er deine langjährige Berufserfahrung und die Kenntnis des Sylter Publikums als Kontrapunkt zu den jungen Hipstern, die die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen haben. Ich sage ja immer: Der Mix macht’s, was sich bei uns ja im Fall von Rieke auch gezeigt hat. Sie hat das Signierevent super organisiert, ihre Social-Media-Aktivitäten zeigen allmählich Wirkung, aber …«

»Aber was?« Veros Tränen waren allmählich getrocknet, und sie lauschte Lissys Worten aufmerksam.

»Ihr fehlt manchmal die Kenntnis von Büchern für die etwas ältere Kundschaft. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Teenies meist nur gemeinsam mit den Eltern nach Sylt reisen, also geht es nicht in erster Linie darum, sich mit Titeln für diese Zielgruppe auszukennen. Das Gros unserer Kunden ist nun mal nicht mehr blutjung, das liegt in der Natur der Dinge. Aber zurück zu dir: Mach dir keinen Kopf und starte erst mal durch. Du wirst sehen, dass dich alle sehr schnell respektieren und lieben werden.«

»Du bist also nicht böse, dass ich gekündigt habe? Aber was wird dann aus dem Café?«

Die Antwort darauf schmerzte Lissy so sehr, dass sich ihre Kehle zuschnürte. »Es kann sein, dass wir das Büchernest zum Ende des Jahres schließen werden«, erwiderte sie, obgleich es ihr schwerfiel, dies laut auszusprechen. »Wir sind alle müde und sehen gerade keine Perspektive mehr … und das Büchernest ist ohne dich eh kein Büchernest mehr. Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen, Bea möchte, dass wir das zu viert entscheiden. Wir sind ein Team, und es passiert nichts, ohne dass sich das Team einig ist. Ich hoffe, du bist bereit, dich so bald wie möglich mit uns zusammenzusetzen. Bea und Nele tut es übrigens sehr leid, wie sie sich dir gegenüber verhalten haben. Nele hat dir sogar einen Brief geschrieben, der im Pavillon auf dich wartet. Beide schämen sich zutiefst, das solltest du wissen.«

Bevor Lissy weitersprechen konnte, kam Hinrich herein. Sein Gesicht hellte sich merklich auf, als er Lissy sah, und er begrüßte sie mit einem leichten Klopfer auf den Rücken. »Na, alles klar bei euch? Wie geht’s dem Lütten?«

Er war immer noch sehr stolz, dass Niels mit drittem Vornamen Hinrich hieß, und hatte den Kleinen vielleicht auch deshalb ganz besonders ins Herz geschlossen.

Lizzy erzählte begeistert, wie toll Niels sich entwickelte und dass Liu allmählich ihre Eifersucht ablegte.

»Hast du Fotos von ihm, die wir noch nicht kennen?«, wollte nun auch Vero wissen, und so beugten sich beide interessiert über Lissys Handy und bestaunten die neuesten Bilder des süßen Babyjungen.

Und Lissy freute sich sehr über das Wörtchen wir aus Veros Mund, das zwar klein, aber dessen Bedeutung letztendlich groß war.