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Jane Sternberg trug ihr schlechtes Gewissen in der Hosentasche, vorne rechts. Es drückte bei jedem Schritt, während sie den vertrauten Weg marschierte, vom Hauptbahnhof zum Rathausmarkt. Die Schaufenster der Mönckebergstraße leuchteten an diesem trüben Herbstmorgen wie Aquarien im Keller eines Zoos. Sie ließ alles links liegen, die Schmuckauslagen, die teuren Designerklamotten, die kunstvoll drapierten Schuhe, deren Kartons sie immer an die Treppchen eines Siegerpodests erinnerten.

Ihr schlechtes Gewissen war rechteckig geformt, und von Zeit zu Zeit piepte es, als wollte es sie erinnern: Vergiss nicht die ganzen Nachrichten von Susanne Mikula! Du weißt, dass etwas nicht stimmt mit ihr, dass sie in Gefahr sein kann. Du musst reagieren.

Aber was, bitte schön, hätte sie denn tun sollen? Susanne hatte ja keine Ahnung, dass sie selbst schon über die StageBau recherchiert, sogar mit den Eheleuten Weigel gesprochen und Frank von Leibringen eine exklusive Geschichte angeboten hatte. Doch mit fadenscheinigen Argumenten hatte der Chefredakteur sie abblitzen lassen – es waren fast wörtlich dieselben gewesen, die sie dann in ihrer Hilflosigkeit gegenüber Susanne im Abaton aufgewärmt hatte.

Ein paar Tage später hatte ein Kollege bei der Morgenkonferenz einen kritischen Bericht über die Praktiken der Omnor AG gegenüber ihren Mietern vorgeschlagen. Und plötzlich ließ ihr Chef den Mieterschützer raushängen und hob das Thema sofort ins Blatt. Keine Rede mehr davon, dass die Geschichte über einen Vermieter, der seine Kunden drangsaliert, so gewöhnlich sei wie die über einen Hund, der einen Briefträger beißt.

Offenbar verfügte die StageBau über lange Arme, die bis in ihre Redaktion griffen. Keine Ahnung, warum ihr Vorgesetzter sich zum Handlanger einer fiesen Immobilienfirma machte, obwohl deren Chef Heiner Stagemann für Boulevardschlagzeilen völlig unergiebig war: Er lebte skandalfrei und zurückgezogen, mied Promi-Partys, nicht mal Fotos von ihm gab es.

Wer die StageBau angriff, legte sich offenbar mit einem mächtigen Gegner an. Das hätte Jane schon ausgehalten, und auch ihrem Chefredakteur hätte sie nur zu gerne Kontra geboten. Aber sie war erpressbar, seit der Sache mit Michael. Was war er doch für ein Narr gewesen! Sie hatte Frank von Leibringen anflehen müssen, den Bericht zu canceln, sonst wäre ihr Mann mit einem bundesweiten Skandal aus seinem Amt als Gleichstellungsbeauftragter geflogen. Und sie hätte sich als Ehefrau zur Vollidiotin gemacht.

Zwar wäre der Bericht eine gerechte Strafe für ihn gewesen. Aber was hätte sich Ella auf dem Schulhof anhören müssen, wenn ihr Papa solche Schlagzeilen gemacht hätte? Mit neun Jahren versteht man so was nicht.

Als Jane diese Bilder ihres Mannes gesehen hatte – es war ein Schock gewesen! –, hatte er noch am selben Abend das Ehebett räumen und Quartier im Hobbyraum beziehen müssen. Nie wieder würde sie mit ihm schlafen. Nicht neben ihm. Und schon gar nicht mit ihm. Das hatte sie ihm an den Kopf gebrüllt. Und daran würde sie sich halten.

Im Abaton hatte Susanne sie gefragt: »Was bist du nur für eine Journalistin?« Die ehrliche Antwort wäre gewesen: »eine erpressbare«. Aber wer lief schon gern als zahnloser Tiger durch die Stadt?

Sie hasste es, harmlos zu sein, denn das war sie viel zu lang gewesen. Mit sechs Jahren war sie als ungestümes Mädchen einem Ball nachgerannt, von einem Auto angefahren worden und hatte ein halbes Jahr im Krankenhaus gelegen. Von dort war sie verschüchtert nach Hause gekommen: ein Mädchen, das sich hinter seine Mutter verkroch, sobald die eigenen Spielkameraden an der Tür klingelten. Ein Mädchen, das als Gymnasiastin nur einschlafen konnte, wenn die Tür des Kinderzimmers einen Spalt offen blieb und das einfallende Licht vom Flur versprach, dass die Nacht enden würde und ihre Eltern sie hörten. Ein Mädchen, das mit fünfzehn, wenn es allein zu Hause war, das Radio einschalten musste, um ihre Ängste zu vertreiben. Sie brauchte Stimmen um sich herum, das gab ihr Sicherheit, zumal sie als Mädchen selbst keine Stimme hatte, immer nur mitspielte, nur mitlief, nur nickte, nur Ja sagte, keine eigene Meinung hatte.

Um das zu verändern, hatte sie Journalistik studiert, eine Flucht nach vorne. Sie musste in diesem Beruf mit Menschen reden, Farbe bekennen, Widerstände aushalten. Als Redakteurin hatte sie endlich eine Stimme bekommen, war gehört worden und zur Ressortleiterin aufgestiegen. Aber war sie tatsächlich leitende Journalistin? Oder spielte sie nur eine Rolle, um ihre Ängste auszutricksen? Schließlich verschluckte sie beim Reden immer noch Satzenden, als würde sie auf halbem Weg der Mut verlassen, und pendelte beim Sprechen hin und her – das hatte ihr ein Kommunikationstrainer gespiegelt.

Und in ihrem Privatleben fühlte sie sich oft hilflos wie das Mädchen von einst. Hatte sie nicht längst gewusst, dass Michael sie betrog? Warum zog sie keinen Schlussstrich? War es wirklich nur die Rücksicht auf Ella – oder hatte sie Angst vor dem Konflikt und vor der Trennung? Michael kam ihr vor wie ein schlechtes Radioprogramm, das sie als Jugendliche ertragen hatte. Alles war besser als die Stille, das Alleinsein, das haltlose Stehen in einer Welt, die schwankte und voller Abgründe war.

Susanne war eine Frau, wie Jane es gern gewesen wäre: mutig, zupackend, vorpreschend. Voller Bewunderung hatte sie im Vorstellungsgespräch gehört, wie Susanne die Sprechblasen aufgab und Tacheles redete. Schon vorher hatte sie die alten Berichte über die Affäre in Reinstadt gelesen. Unglaublich, was Susanne dort geleistet hatte: einen alten Mordfall aufdecken, einen korrupten Verleger enthüllen und dann auch noch einen Kampf auf Leben und Tod gewinnen – das musste ihr erst mal jemand nachmachen.

Bei dem Gedanken, wie Susanne ihr Leben auf der Brücke gerettet hatte, erschauerte Jane: In der Zeitung war von »Fleischmaden« die Rede gewesen. Zufällig hatte Susanne eine Dose mit diesem lebenden Angelköder in der Tasche gehabt, als ihr muskulöser Chef sie über das Geländer einer Autobahnbrücke stoßen wollte. Und in letzter Sekunde steckte sie ihm die lebenden Krabbeltierchen ins Hemd. Der Verleger Hans-Otto Gleim, der einen Mord auf dem Gewissen hatte, war als Insektenphobiker sofort kampfunfähig, er hatte die Kontrolle über sich verloren und war dann rückwärts übers Geländer der Autobahnbrücke gestürzt.

Offenbar brachte Susanne das, was sie anfing, konsequent zu Ende. Aber was, wenn es mit der StageBau anders laufen würde: wenn das, was sie anfing, sie selbst ans Ende brachte – und sei es psychisch? Etwas schien mit ihr nicht in Ordnung zu sein, die letzten Nachrichten klangen merkwürdig. Erst hatte sie gefragt: »Kommt die StageBau-Geschichte nun ins Blatt?« Diese Frage war nachvollziehbar. Dann hatte sie geschrieben, sie müssten sich dringend über eine »unsanfte Begegnung im Keller« unterhalten. Und: »Nimmst du es mit mir auch bei Tageslicht auf?!« Wirres Zeug. Jane hatte keine Ahnung, wie sie antworten sollte. Nun waren einige Tage vergangen, fast zu spät, um noch zu reagieren. Deshalb fühlte sich ihr Handy in der Tasche wie ein schlechtes Gewissen an.

Heute war Jane im Rathaus zu einem »Hintergrundgespräch« verabredet, der Fraktionsvorsitzende Henning Kleinert hatte kurzfristig per SMS darum gebeten. »Hintergrundgespräch« bedeutete, dass ein Politiker Dinge sagte, die nicht jedermann wissen durfte. Zum Beispiel erfuhr sie vorab, wie eine Fraktion sich in einer Abstimmung verhalten würde. Oder dass ein Personalwechsel anstand. Oder welche Themen den kommenden Wahlkampf dominieren würden.

Der Rest der Welt musste sich überraschen lassen, aber sie wurde ins Boot geholt. Damit gab ihr der Politiker das Gefühl, ein Familienmitglied zu sein. Und entsprechend freundlich sollten ihre nächsten Berichte dann ausfallen. Das Spiel war leicht durchschaubar, aber offenbar nicht für alle Journalisten, sonst hätten die Politiker es längst eingestellt.

Henning Kleinert kam ihr schon in seinem Vorzimmer entgegengeeilt, verbeugte sich tief bei der Begrüßung und bat sie in sein Büro. Dann sagte er: »Ich habe eine heiße Nachricht für Sie, die noch nicht über den Ticker ist. Nichts über meine Fraktion, aber sehr relevant für die Stadt. Und ich dachte: Wenn es jemand verdient hat, das früher zu erfahren, dann Sie.«

Jane war sicher, dass er dieselben Schmeicheleien den Journalisten der Konkurrenzzeitungen schon um den Bart geschmiert hatte oder noch schmieren würde.

»Dann legen Sie mal los«, sagte sie. »Worum geht es?«

»Um ein Unglück, das sich heute Vormittag zugetragen hat, aber noch nicht offiziell ist.«

Eine Viertelstunde später, als er alles erzählt hatte, spürte Jane klarer als je zuvor: Sie hätte Susannes Nachrichten nicht ignorieren dürfen!