»Marion«, sagte ich – und mir fiel auf, dass meine Stimme nicht redete, sondern flehte –, »Marion, du musst mir erzählen, was passiert ist. Wann hast du zuletzt mit Heiner Stagemann gesprochen – und worüber? Hat er erwähnt, dass er sich bedroht fühlt, erzählt, dass ihn jemand verfolgt oder erpresst? Und wie arbeiten wir jetzt weiter, ohne ihn im Hintergrund?«
Ein sanftes Kopfnicken ermunterte mich zum Weitersprechen; sie spürte, wie viel mir auf dem Herzen lag. »Und was passiert jetzt in der Firma, wer profitiert von seinem Tod? Bekommt Patricia Stagemann Rechte eingeräumt, die sie vorher nicht hatte – welche genau? Wer wird dadurch befördert und bekommt mehr Einfluss? Und wie kann es sein, dass der Aktienkurs der StageBau nach oben schießt, obwohl er gestorben ist?«
Eine Antwort auf die letzte Frage ahnte ich schon. Mit Entsetzen hatte ich den Bericht in der Hamburger Allgemeinen gelesen, der Boulevard pinkelte dem Verunglückten ins Grab. Er wurde als »Pate« der StageBau dargestellt, als rücksichtsloser Exzentriker, der nichts mehr zur täglichen Führungsarbeit beigetragen, aber durch seine moralinsauren Zwischenrufe immer wieder für Chaos und Fehlentscheidungen gesorgt hätte. Ohne ihn sei die StageBau berechenbarer und effektiver.
Diesen Tenor hatten überregionale Medien aufgegriffen. Ein Porträt in einer großen Wirtschaftszeitung, »Der finstere Häuser-König«, war deutlich von dem Bericht der Hamburger Allgemeinen inspiriert. Gleichzeitig wurde Patricia gefeiert. Die Gewinne seien enorm gestiegen, seit ihr Bruder das Tagesgeschäft nicht mehr durchgehend, sondern nur noch teilweise behindert habe.
Klar, dass die Aktionäre die Champagnerkorken knallen ließen und den Tod Stagemanns feierten. Statt Aktien abzustoßen, wie sonst oft nach Unglücken, kauften sie eifrig nach – womit der Wert des Unternehmens an der Frankfurter Börse um über zehn Prozent nach oben geklettert war.
Aber vielleicht lag ich mit meiner Hypothese auch falsch. Vielleicht gab es ganz andere Gründe für die Explosion des Aktienkurses. All das konnte mir Marion sagen, sie kannte das Unternehmen, aber auch die Vorgänge an der Börse viel besser als ich.
Ein erneutes Nicken sorgte dafür, dass ich noch einmal ansetzte, diesmal leise und eindringlich: »Marion – sei vorsichtig! Mach nicht auf, wenn es klingelt. Renn weg, wenn sich jemand verdächtig nähert. Wir beide – wir können die Nächsten sein!«
»Jetzt ist gut, Kind«, flüsterte Tante Martha – sie hörte zu nicken auf und führte ihre Drachentasse an den Mund. Ich drückte den roten Hörer auf meinem Handy. Es war die fünfte Nachricht, die ich seit heute Morgen auf Marions Mailbox hinterlassen hatte.
»Wenn Sie sich melden will, dann wird sie sich jetzt gewisslich melden«, sagte Tante Martha und nahm einen Schluck Tee. Ihr vertrauter Duft aus Zitrone, Jasmin und Vanille stieg mir in die Nase. In letzter Zeit wirkte sie körperlich zerbrechlich, zog beim Gehen ein Bein nach. Am frühen Abend erwartete sie den Hausbesuch ihres Arztes Dr. Otten, dem einzigen Menschen, der außer ihr und mir den neuen Wohnungsschlüssel besaß. Zwar hatte ich ein flaues Gefühl dabei, keine Ahnung, warum. Aber wie hätte ich Martha davon abraten können? Nachdem der Schlüssel des Hausmeisters nun nicht mehr passte – wir hatten das Schloss eigenmächtig ausgetauscht –, musste doch wenigstens ihr Arzt im Notfall die Wohnung öffnen können.
Ihr letzter Satz gab mir zu denken: »Wenn sie will, meldet sie sich? Das klingt, als hätte sie Gründe, mich nicht anzurufen. Aber ich bin sicher: Sie wird es tun. Ich hab dir doch erzählt, wie schnell wir uns angefreundet haben. Es kommt mir so vor, als ob wir uns schon lange kennen.«
Martha streichelte den Griff ihrer Teetasse. »Mir fallen zuvörderst vier Gründe ein, warum sie sich nicht meldet.« Typisch Tante, sie war wieder mal sofort strukturiert im Kopf.
»Dann leg mal los«, sagte ich – und war gespannt, ob ein neuer Grund dabei war, denn seit dem Morgen zermarterte ich mir schon das Gehirn.
»Der erste Grund: dass sie ihre Nachrichten womöglich nicht abhört. Sie ist ja im Krankenstand und wird viele Anrufe aus der Firma bekommen. Eventuell ist es ihr unpässlich, sich damit auseinanderzusetzen.«
Diese Möglichkeit schien mir fast ausgeschlossen. Schließlich musste sie doch mit meinen Anrufen rechnen. Sie wusste, dass ich ihre Privatnummer nicht hatte.
»Der zweite Grund«, fuhr Tante Martha fort. »Sie hört deine Nachrichten ab, aber will mitnichten zurückrufen.«
Am liebsten hätte ich gerufen: »Warum sollte sie das tun? Sie weiß doch, wie sehr ich jetzt in der Luft hänge!« Aber ich beherrschte mich, denn ich wollte erst die anderen Gründe hören.
Sie führte die Drachentasse an den Mund, nahm einen Schluck und fuhr fort: »Der dritte Grund: Sie will mit dir sprechen, aber jemand hindert sie dran.«
Ja, genau! Was, wenn sie hilflos in ihrer Wohnung lag, mit Kabelbinder gefesselt? Was, wenn Laura Schmalstieg mich angelogen hatte, wenn es heute früh kein Telefonat gegeben hatte? Vielleicht hatte man Heiner Stagemann und sie zeitgleich ausgeschaltet. Dann war ich die letzte Mohikanerin – mit nicht allzu großer Lebenserwartung, fürchtete ich.
»Und der vierte Grund, Martha?«
»Das ist ein emotionaler Grund, Kind. Er hat fürwahr mit Liebe zu tun. Vielleicht kommst du selber darauf.«
Ich überlegte. Aber mir fiel nichts ein.
Sie streichelte zärtlich über den Tassendrachen. »Du hast mir Marion beschrieben, eine bezaubernde Frau, ein südländischer Typ, wohlfeil im Aussehen, sehr elegant. Fast möchte ich sagen: Du hast von ihr geschwärmt.«
Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte, und sie fuhr fort: »Weißt du, ob sie in einer Partnerschaft lebt?«
»Sie ist Single, schon seit etlichen Jahren, das hat sie mir erzählt.«
»Und jetzt legen wir mal eine andere Annahme zugrunde: dass sie jüngsthin doch in einer Beziehung gelebt hat – aber einer Beziehung, über die sie nicht so einfach sprechen konnte. Einer geheimen Beziehung. Weil ihr Partner prominent war.«
Der Gedanke durchfuhr mich wie ein Stromstoß. »Du meinst, Marion könnte die – könnte die Geliebte von Heiner Stagemann … « Ich wägte die Überlegung einen Moment lang ab. »Das würde vieles erklären: Darum hatte sie einen so engen Draht zu ihm. Darum konnte sie ihn jederzeit sehen. Darum hat sie so positiv über ihn gesprochen.«
»Dann weißt du gewisslich, was der vierte Grund ist – oder?« Martha sah mich lange an, und ihre Augen wirkten ein wenig glasig. Sie führte ihre Hand von der Drachentasse an die Brust. »Ein gebrochenes Herz und große Trauer.«