Es ist schon irgendwie toll, einen Freund zu haben, der ein eigenes Zimmer hat. Einen Freund zu haben, der ein eigenes Zimmer in einem Hotel hat und dessen Eltern nicht mal auf demselben Stockwerk wohnen, ist allerdings etwas ganz anderes. Klar bin ich gern mit Moritz allein. Na ja, zumindest bin ich gern mit ihm zusammen. Aber gleichzeitig macht es mich immer ein wenig nervös, so hotelzimmermäßig-allein mit ihm zu sein. Nett nervös und anstrengend nervös gleichermaßen. Es ist kompliziert. Und das macht mich am allernervösesten.
»Nun sitz doch mal still.«
Da sieht man’s mal wieder. Dabei sind wir im Augenblick nicht mal allein und auch nicht in seinem Zimmer: Umgeben von jeder Menge Menschen und hoffentlich doch einigermaßen verborgen, sitzen wir im hoteleigenen Café und versuchen, die Gäste unauffällig zu beobachten. Nicht alle natürlich. Wir warten auf Bia.
Das Café ist eigentlich die Bar, die wir ja sehr gut kennen: Hier hat uns Zelos erwischt, hier hat mein Vater das Zeitparadox geöffnet und hier habe ich meinen Großonkel Pluvius das letzte Mal gesehen, als ich halb blind und völlig durcheinander unter den Tischen und Stühlen herumgekrochen bin. Jetzt, nur ein paar Monate später, hat dieser Ort nichts mehr von seinem Schrecken. Liegt vielleicht daran, dass sie nachmittags die Flügeltüren zur Lobby öffnen, um die Bar in ein Café zu verwandeln. Morgens wird hier das Frühstück aufgebaut, hat Moritz erzählt. Aber ob Frühstücksraum oder Kuchenbuffet: Von hier aus hat man einen hervorragenden Blick auf alles, was in der Lobby passiert. Und bekommt auf seinem Beobachtungsposten noch dazu Eis serviert.
Eine Frau mit blonden Haaren geht zum Empfangstresen und ich ducke mich hinter meinen Rieseneisbecher mit extraviel Sahne und Maraschinokirsche. Nein, das war sie nicht. Zu alt, zu groß.
»Du tust es schon wieder.« Moritz hält nicht so viel vom Biabeobachten. Er beobachtet stattdessen mich über seinen Milchkaffee hinweg.
»Was tue ich?« Ich vermeide es, ihn anzusehen, und halte weiterhin die Lobby im Auge.
»Du zappelst.«
»Ich zappele nicht.«
»Doch, tust du.«
Ich verstoße gegen meine Beobachtungsgrundsätze und werfe Moritz einen Blick zu. Und werde prompt rot. »Was denn?«, frage ich gereizt, weil er mich so angrinst. So süß angrinst.
»Nichts. Ich sehe dich eben gern an.«
»Du hättest mich mal im Zwanzigerjahre-Look sehen sollen. Achtzehnhundertzwanzig. Mit Locken hier und hier.« Mit den Zeigefingern mache ich spiralförmige Bewegungen neben meinen Ohren.
»Du siehst bestimmt in allen Jahrhunderten gleich toll aus.«
»Das sagst du doch jeder Zeitreisenden.«
Wir müssen beide lachen. Dann werden wir schlagartig wieder ernst und sehen uns an. Mir wird ganz kribblig im Magen, als ich so in seine seeblauen Augen schaue, und ich frage mich, ob es unserer geheimen Aufklärungsmission wohl sehr schaden würde, wenn ich ihn jetzt einfach küssen …
»Was denkst du?«, fragt Moritz.
»Seeaugen«, sage ich prompt.
»Was?«
»Jetzt sieh mal, was ich im Auge habe«, lenke ich ab und wische hektisch daran herum. »Und außerdem sind wir nicht hier um … um …«
»Um was?«
»Um Eis zu essen. Wir wollen sehen, ob Bia hier irgendwo rumläuft. Und wenn möglich den Kerl von der Burg finden.« Ich stürze mich fest entschlossen auf meinen Eisbecher, die Lobby wieder im Blick. Auf keinen Fall werde ich mich noch mal durch Moritz ablenken lassen. Auch wenn er super aussieht. Und Seeaugen hat. Und Grübchen und so verdammt nah bei mir sitzt …
»Da!« Ich verschlucke mich und muss heftig husten. Jetzt tränen meine Augen wirklich. »Da«, japse ich und zeige mit dem langstieligen Löffel auf den Hotelpagen von der Burg. Er trägt zwar Zivil, aber er ist es. Eindeutig. »Los«, huste ich, »hin!« Ich selbst bin viel zu sehr damit beschäftigt, wieder Luft zu kriegen. Verschwommen sehe ich, wie Moritz zu dem Pagen eilt, mit ihm spricht, gestikuliert. Er deutet auf mich und ich winke mit dem Löffel.
Der Page sieht nicht gerade begeistert aus, lässt sich aber anscheinend bequatschen. Zumindest begleitet er Moritz zurück an unseren Tisch.
»Ich habe nicht viel Zeit«, sagt er anstelle einer Begrüßung. Dennoch zieht er einen Stuhl heran und setzt sich. »Die Herrschaften sehen es nicht gern, wenn wir uns nach getaner Arbeit mit den Reisenden einlassen.« So ganz schafft er es noch nicht, sich normal auszudrücken. Auch nach all der Zeit nicht.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, frage ich, nur so aus Neugier.
»Ist das wichtig?«
»Es würde mich interessieren.«
»Fast vier Jahre«, antwortet der Hotelpage und vergewissert sich, dass ihn auch niemand hört. Er ist ungefähr Mitte zwanzig, würde ich schätzen, mit kupferroten Haaren und Sommersprossen. »Ich bin noch vor der Belagerung gegangen. Als ich die Menschenmassen zur Burg strömen gesehen habe …« Er wird rot, was sich mit seiner Haarfarbe beißt. »Gut, ich gebe es zu. Ich bin geflohen. Ihr wisst sicher, wie es bei einer Belagerung zugeht.« Er wirft uns einen herausfordernden Blick zu.
Ich nicke. Das war wahrlich kein Vergnügen, damals. »Wir sind ja auch abgehauen. Und weiter?«
»Ich habe mich ein wenig im Wald herumgedrückt. Wusste nicht, wohin. Also habe ich versucht, etwas zu jagen, wenn auch ohne Erfolg. Ich war hungrig und hatte Angst. Und dann bin ich in diesen Zeittunnel gestolpert.«
Moritz und ich werfen uns einen kurzen Blick zu. Der Tunnel hätte gesichert sein müssen, nachdem wir dort durchgegangen sind. Vielleicht dauert es, bis sich das Passwort-Bild wieder installiert? Das Bild, das mein Vater davor errichtet hat? Aber nein, vier Jahre: Er ist mir gefolgt! Es war mein Sprung, der ihn hierhergebracht hat. Der Sprung, mit dem ich aus dem Mittelalter zu meinem Vater von vor vier Jahren gesprungen bin, um ihn zu Hilfe zu holen. Der war nicht gesichert. Ich habe diesen Mann hierhergebracht. Schon wieder werde ich rot, dieses Mal allerdings aus Scham. »Das muss … das muss schrecklich für Sie gewesen sein.«
»Sie machen sich keine Vorstellung! Aber dann kam jemand von der Gilde …«
»Der Gilde der Zeitreisenden?«
Nervös sieht der Mann sich um. »Von ebender. Und der half mir. Erklärte mir alles. In meine Zeit konnte ich nicht mehr zurück, dafür war ich schon zu lange hier gewesen, und eigentlich gefiel es mir auch ganz gut. Nach einer Eingewöhnungsphase von ein, zwei Jahren …« Der Kellner tritt an unseren Tisch, um eine Bestellung aufzunehmen, doch der Page winkt ab. »Nein danke, Karl. Ich bin gleich weg. Habe schon frei.«
»Wünschte, bei mir wäre es auch so weit«, seufzt der Barkellner und geht wieder.
»Wie gesagt: Wir sollen nicht mit den Gästen zusammen sein.« Der Page reibt sich nervös die Hände. »Ich hätte mich auch nicht zu erkennen gegeben, wenn ich nicht die gnädige Frau gesehen hätte. Ich dachte, sie wären alle tot. Und dann noch das herrschaftliche Fräulein …«
»Fräulein Bia.«
»Ebendie. Eine große Freude. Sie müssen demselben Weg gefolgt sein.«
»Äh, ja.« Oder so ähnlich. »Können Sie sich noch an die Zimmernummer von Bia hier im Hotel erinnern? Oder wie lange sie vorhatte zu bleiben?«
Das war wohl ein wenig zu direkt. Jetzt wird der Mann misstrauisch. »Nein, warum?«
Ich schlucke. »Nur so. Wäre doch nett, sich mit Bia über vergangene Zeiten zu unterhalten.«
Der Page schüttelt den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Fräulein Bia schätzt es nicht, erkannt zu werden.«
Das glaube ich aufs Wort.
»Und ich muss mich jetzt verabschieden.« Der Hotelpage erhebt sich. »Ich habe eine kleine Wohnung, eine Katze … Es geht mir gut. Ich bin froh, dass ich dieses neue Leben leben kann.« Er beugt sich zu uns herunter, seine Augen blitzen. »Diese Elektrizität ist fantastisch, nicht wahr? Ich habe sogar eine Heizdecke. Eine Heiz-Decke!«, betont er, lächelt uns noch einmal zu und verschwindet in seinen wohlverdienten Feierabend.
Moritz und ich sehen ihm nach.
»Du hast ihn verschreckt«, sagt Moritz.
»Ich habe ihm die ganze Sache überhaupt erst eingebrockt.«
»Na und? Er ist glücklich. Wenn ich die Wahl hätte zwischen Belagerung und Heizdecke, wüsste ich auch, was ich wählen würde.«
»Wenn du die Wahl hättest.« Das schlechte Gewissen nagt noch an mir. »Aber die hatte er nicht. Er ist nachgezogen worden, weil ich damals so unvorsichtig gewesen bin. Und jetzt hat er sich im besten Fall arrangiert.«
»Du hast ihn doch gehört«, versucht Moritz, mich zu trösten, und greift nach meiner Hand. »Er hat eine Heizdecke und eine Katze. Er ist auf jeden Fall glücklich hier.«
»Wer ist glücklich?«, fragt eine Stimme, bei der ich meine Hand automatisch zurückziehe.
»Niemand«, antworte ich schnell und sehe hoch zu Pluvius. »Wir reden nur.«
Mein vierzehnjähriger Großonkel setzt sich auf den Stuhl, der soeben frei geworden ist. Er sieht müde aus, abgespannt. Was ich schon daran erkennen kann, dass er sich die Stirn reibt, wie er es so oft zu tun pflegt.
»Was machst du denn hier, Pluvius?«, frage ich besorgt. »Wolltest du nicht zu deiner Mutter?«
»Ja, eben, Pluvius. Was machst du eigentlich hier?« Moritz’ Stimme klingt im Gegensatz zu meiner alles andere als mitfühlend.
»Ich bin auf dem Weg zu ihr.«
Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass das Hotel in der genau entgegengesetzten Richtung liegt, und trete Moritz unter dem Tisch, der schon den Mund geöffnet hat, um genau das zu sagen.
Der Kellner kommt noch einmal an unseren Tisch und nimmt Pluvius’ Bestellung auf.
Wenigstens die zu kommentieren kann Moritz sich nicht verkneifen: »Wasser. Mit Kohlensäure. Wow. Da machst du heute aber den Vogel bunt, was?«
»Den Vogel? Was für einen Vogel?« Pluvius sieht ihn verwirrt an.
An dem unterschiedlichen Sprachgebrauch der beiden kann man noch am ehesten merken, dass sie aus verschiedenen Zeiten stammen. Bei Pluvius ist es nicht so schlimm wie bei den Mittelalterleuten, aber noch zu spüren. Es gibt tatsächlich so etwas wie einen Dialekt. Einen Zeit-Dialekt.
»Auf den Putz hauen«, übersetzt Moritz.
Verständnisloser Blick von Pluvius.
»Einen draufmachen. Mann, was ist los mit dir, Alter? Irgendwie stehst du heute noch mehr auf dem Schlauch als eh schon.«
Pluvius sieht ihn bloß an.
Moritz wendet sich mir zu. »Okay«, stellt er fest, »das ist wirklich ein Alarmzeichen: Dein Großonkel redet nicht mehr.«
»Vielleicht versteht er dich nur nicht, Moritz. Pluvius«, wende ich mich ihm zu, »alles in Ordnung?« Natürlich ist es das nicht. Spätestens, wenn er beim Wort »Großonkel« nicht reagiert, ist so ziemlich nichts mehr in Ordnung.
Der Kellner bringt das Wasser.
Pluvius macht keine Anstalten, es zu trinken, hat sich anscheinend aber vorgenommen, jede einzelne Luftblase darin mit dem Strohhalm zu jagen und zu erstechen.
»Ergeben sie sich freiwillig«, fällt das auch Moritz auf, »oder haben sie vor, Widerstand zu leisten?«
»Nun lass ihn doch«, zische ich ihm zu.
»Ich lass ihn ja. Das war ein Musketier-Zitat.«
Natürlich, was sonst. Ich verdrehe die Augen.
»Aber vielleicht erinnert er sich ja mal daran, dass er sich zu uns gesetzt hat und nicht umgekehrt. Also«, wendet sich Moritz ungerührt an Pluvius, »was ist los?«
Keine Antwort. Pluvius starrt nur weiter in sein Wasser. Seine braun-grünen Augen sind dunkel.
»Ist es wegen deiner Mutter?«
Ich trete Moritz unterm Tisch.
»Was denn? Ich würde auch auf dem Schlauch stehen, wenn meine Mutter aus dem Mittelalter reingesponnen käme in mein Leben und nur Müll reden würde.«
»Sie redet keinen Müll«, sage ich mit einem vorsichtigen Blick zu Pluvius. »Sie kann sich wieder erinnern …«
»Erinnern?« Endlich sieht Pluvius hoch. »Woran denn erinnern? An meine ersten Schritte? Mein erstes Wort? Mein Lieblingsplüschtier war anscheinend ein Hamster von Steiff, den ich ›Naganaga‹ getauft habe. Dabei fällt mir stets nur diese Lokomotive ein, die ich hatte. Naganaga? Oh Mann. Über so etwas unterhalte ich mich mit meiner Mutter.« Er betont »Mutter«, als könne er sich nur schwer an das Wort gewöhnen.
»Echt? Du hattest echt einen Hamster mit Namen ›Naganaga‹? Aua, verdammt. Hör auf, mich ständig zu treten, Ariadne.«
Ich achte nicht weiter auf Moritz. »Das ist doch …«, mir fehlt das richtige Wort, »schön«, sage ich dann, »dass es wenigstens einige Erinnerungen …«
»Schön? Was soll denn daran schön sein?«, unterbricht Pluvius mich. »Wen interessiert denn so etwas?«
»Allerdings«, pflichtet Moritz ihm bei. »So ’nen Scheiß will man nun wirklich nicht von seiner Mutter hören. Hamster, also echt.«
Wenn die beiden sich einig sind, wird es meist gefährlich. »Ich meine doch nur. Das ist doch süß.«
»Süß«, stöhnen Pluvius und Moritz gleichzeitig.
Und wie sie sich einig sind. »Kannst du dich denn nicht an irgendetwas erinnern? Etwas, das sie betrifft?«
Pluvius lässt endlich den Strohhalm los und fällt zurück in den Stuhl. Er reibt sich die Stirn nun heftiger. »Das ist es ja. Das ist es ja, was sie hören will. Und ich zermartere mir auch das Hirn, um etwas zu finden, was ich ihr sagen kann. Irgendetwas. Aber mir fallen nur ihre Hände ein. Und ihre Haare. Und Kuchen.«
»Kuchen?«, kommt Moritz mir zuvor.
»Ja, Kuchen. Weiß auch nicht, warum. Aber alles, was ich immer mit ihr in Verbindung gebracht habe, weiß sie nicht mehr. Oder gehörte in Wirklichkeit zu jemand anders. Die Brosche, die ich vor Augen habe? Ist die von Tante Kassandra. Das Lied von den zehn kleinen Negerlein? Hat Penelope mir beigebracht.«
»Das sagt man nicht mehr.« Moritz stellt seine Cola ab. ›Negerlein‹ ist politisch unkorrekt, glaub mir, Mann. Heute sind das zehn kleine Spatzenkinder.«
»Spatzenkinder?«, protestiere ich. »Du spinnst ja. ›Fledermäuse‹ haben wir im Kindergarten gesungen.«
»Klar, Spatzenkinder. Flogen aus dem Nest und so.«
»Fledermäuse.«
»Spatzenkinder.«
»Könntet ihr mal aufhören mit dem Lied? Ist doch völlig unwichtig«, unterbricht Pluvius unsere Diskussion.
Nicht unbedingt. Unwichtig ist es, ob es Spatzenkinder oder Fledermäuse sind, das stimmt schon. Von Bedeutung allerdings ist, dass ich zumindest meine Mutter danach fragen könnte, und sie würde es wissen. Und Moritz’ Mutter auch. Sie gehören zu unserer Zeit. Kennen unsere Vergangenheit besser als wir selbst.
Ich überlege. »Es gibt also nur Kindheitserinnerungen …«
»… die nicht mal zusammenpassen«, stöhnt Pluvius. »Es ist nicht nur, als wäre eine völlig Fremde zurückgekommen: Sie nimmt mir auch noch die paar Erinnerungen an meine Mutter weg, die ich noch habe. Oder zu haben glaubte.«
Moritz und ich schweigen. Dazu fällt uns auch nichts mehr ein.
»Und wisst ihr, was echt blöd ist?«, fragt Moritz irgendwann in die Stille hinein.
»Was?« Pluvius und ich sehen ihn an.
»Wir haben diese Biasache völlig vergessen. Inzwischen hätten fünf von ihrer Sorte hier auftauchen und Spagat machen können: Wir hätten es nicht mitgekriegt.«
»Was für eine Biasache?«, will Pluvius wissen.
»Ach, weißt du, wir haben hier neben deinem Mutterkomplex noch ein paar andere Sachen laufen. Unwichtige Dinge wie zum Beispiel, dass Bia hier im Hotel herumlungert. So etwas.«
»Bia ist hier?«
Er weiß es nicht? Stimmt ja, ich hatte noch gar keine Gelegenheit, ihm das zu erzählen. Ich beeile mich, Pluvius ins Bild zu setzen.
»Das gibt es doch nicht.« Pluvius ist wenig begeistert. Er richtet sich auf. »Da wisst ihr, dass eine gefährliche Sammlerin hier im Haus ist, und habt nichts anderes zu tun, als euch gemütlich zum Eis zu treffen?«
»Wir müssen rausfinden, was sie vorhat. Warum sie hier ist.«
»Ist das nicht völlig klar?«
Also mir, ehrlich gesagt, nicht.
Und Moritz anscheinend auch nicht. »Dann klär uns doch mal auf, Alter.«
»Ich bin nicht dein Alter.«
»Nein, du bist nur fünfzig Jahre älter als ich.«
»Hatten wir das nicht schon?«
»Vielleicht eine Zeitschleife, Alter.«
»Eine Zeitschleife mit dir? Mann, so viel kann ich gar nicht vergessen, dass mir davon nicht schlecht wird.«
»Dir wird doch schlecht von allem, was mit Zeit zu tun hat.«
»Stopp.« Ich schlage mit dem Eislöffel ein paarmal gegen das Glas. Es drehen sich auch ein paar andere Gäste um, die anscheinend denken, ich will eine Rede halten. Ich lächele entschuldigend. »Aufhören«, sage ich leiser. »Genau das war’s. Genau deswegen hat Bia es geschafft, mich an euch vorbei in den Tunnel zu kriegen. Weil ihr euch streitet. Weil ihr dann nichts mehr mitkriegt von dem, was um euch herum passiert.« Wobei wir wieder bei dem Punkt wären, dass Bia in der Tat inzwischen ihr gesamtes Hab und Gut aus dem Hotel hätte tragen können, ohne dass wir davon etwas gemerkt hätten. Als Beobachter sind wir lausig. »Und ich muss jetzt auch los«, erkläre ich und krame nach dem Portemonnaie. »Abendessen mit den Perrevoorts.«
»Lass nur«, sagt Pluvius, »ich bezahle.« Vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen.
Während er das Geld auf den Tisch zählt, verabschieden Moritz und ich uns. »Aber du bist vorsichtig, ja?« Ich fürchte, dass er »diese Biasache«, wie er sie nennt, viel zu leicht nimmt.
»Ah. Da macht sich wohl jemand Sorgen um mich? Das tut gut.«
Von Pluvius kommt ein Schnauben.
»Ich passe schon auf.« Moritz küsst mich leicht auf den Mund. Schwerelos, wie ein Hauch. Dabei hält er meine Hand. »Wir sehen uns wieder, Dartagnon.« Letzteres sagt er natürlich zu Pluvius. Dann lässt er meine Hand los, lächelt noch einmal und zwinkert mir zu.
Meine Knie sind weich. »Bis morgen«, lächle ich zurück und sehe ihm nach. Als ich mich umdrehe, starre ich in das finstere Gesicht von Pluvius. »Was?«
Auf dem Rückweg habe ich die ganze Zeit das Fledermaus-Spatzenkinderlied im Kopf. Was wirklich nervt. Vor allem, wenn man nachdenken will, wirklich nachdenken. Und dabei meine ich nicht über den Kuss von Moritz und den Gesichtsausdruck von Pluvius dazu. Das verdränge ich lieber.
Also, die Beobachtungssache haben wir vergeigt. Der Frage, ob Bia noch im Hotel ist und was sie vorhat, sind wir keinen Schritt näher gekommen. Wenigstens der Lanzette sind wir auf der Spur: Pluvius wird gleich nachher seine Mutter danach fragen. Aber selbst das scheint im Augenblick ganz weit weg zu sein. Nein, mich beschäftigt, was Pluvius gesagt hat. Was war es noch gleich? Das mit den Erinnerungen, die ihm genommen werden.
»Was ist«, frage ich ihn, »wenn die Erinnerungen nicht verschwinden? Wenn sie sich nur anpassen?«
»Was?« Auch Pluvius neben mir ist tief in Gedanken versunken. Entweder das oder er ist mal wieder sauer auf mich. Zumindest hat er die letzten zehn Minuten kaum ein Wort gesprochen.
»Die Erinnerungen an deine Mutter. Die sind nicht falsch. Die müssen nur … zusammenwachsen.«
»Zusammenwachsen?«
»Ja. Wie in der Zeit. Es gab einen Sprung, peng, und deine Mutter war weg. Und jetzt, peng, ist sie wieder da. Jetzt versucht ihr, über einen so langen Zeitraum eine Brücke zu schlagen, indem ihr in den Erinnerungen nach Gemeinsamkeiten sucht. Aber vielleicht läuft das nicht so. Vielleicht läuft das wie mit der Zeit.«
»Mit der Zeit?«
»Ja. Die Zeit, die zusammenwächst. Und hör auf, mir alles nachzusprechen. Vielleicht«, ich gestikuliere heftig, um ihm das zu verdeutlichen, »musst du ihr erst einmal zuhören und sie dir. Und dann wächst die Erinnerung zusammen. Und aus dem Plüschtier, diesem Hamster wird …«
»Eine Hamsterlokomotive?« Er sieht mich zweifelnd an.
Ich zucke mit den Schultern. »So in etwa.«
Wir gehen wieder ein paar Schritte. Es ist ein schöner, sonniger Tag gewesen. Ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, und die Luft ist ganz lau. Weiß auch nicht, warum das mit einem Mal wichtig sein soll, aber es fühlt sich schön an. Die Luft und so. Hier mit Pluvius entlangzugehen, denke ich, und fühle mich gleich schuldig.
»Peng«, sagt Pluvius und schüttelt den Kopf. »Also wirklich.« Er lächelt mich schief an.
»Ich meine doch nur, du solltest ihr vielleicht noch eine Chance geben.«
»Ja. Eine Chance.«
»Du tust es schon wieder.«
»Was denn?«
»Mir alles nachsagen.«
»Liegt vielleicht daran, dass du richtig gute Sachen sagst. Wichtige Sachen.«
»Oh ja.«
»Oh ja.«
Ich boxe ihn vor die Brust.
Er lacht und hält meine Hand fest. Und weiter fest. Und immer noch. Es ist wirklich sehr warm für Oktober, richtig heiß sogar, und es wird irgendwie immer noch wärmer. Und ist es nicht auf einmal auch ganz stickig? Ich widerstehe dem Drang, mir Luft zuzufächeln, um den Moment zwischen uns nicht kaputt zu machen. Meine Hand liegt genau auf seinem Herzen. Ich kann es schlagen spüren.
»Ariadne?«, fragt Pluvius und seine Augen sind dunkles Grün.
»Was?«
Pluvius öffnet den Mund. Schließt ihn wieder. Lässt meine Hand los. »Ach nichts.«
Nichts? Ich starre ihn an. Wir standen so kurz vor einer entscheidenden Frage. Einer weltbewegenden Frage. Einer Frage, die den Lauf des Universums beeinflussen könnte, und jetzt – nichts?
»Oder doch. Du und Moritz«, er räuspert sich. »Mögt ihr euch? Ich meine, ich weiß, dass ihr das tut, aber so richtig. Ich meine … Du weißt schon, was ich meine.«
»Ich weiß nicht«, sagt der Wurm in mir. Was gelogen ist. Und auch wieder nicht, denn klar mag ich Moritz, sind wir befreundet, aber … nichts aber. Ich weiß genau, was er meint. »Ja. Irgendwie schon«, füge ich hinzu und frage scheinheilig: »Warum?«
»Ach, nichts. Nur so«, erwidert Pluvius und vergräbt seine Hände in den Taschen.
Denkwürdiges Gespräch, ehrlich. Das sollte man in Stein meißeln. Wir sehen uns nicht an, sondern laufen einfach weiter nebeneinanderher. Ich durchforste mein Hirn nach einem Gesprächsthema, von denen es viele gibt, aber es hapert am Übergang: »Ach übrigens, wir haben neben unserer Sprachlosigkeit ja noch das Bia-Problem«? Nein. Vielleicht: »Und da wir gerade dabei sind, wer wen mag: Bia mögen wir ja alle nicht«. Oder: »Nun mal zu etwas völlig anderem: Was machen wir eigentlich mit Bia?«. Nein, geht nicht. Geht alles nicht.
»Du, Pluvius …«
»Ariadne …«, beginnen wir schließlich gleichzeitig, als wir in unsere Straße einbiegen und es nur noch ein paar Schritte bis zum Haus sind.
»Du zuerst«, sagt er.
»Nein, du.« Der Klassiker.
Pluvius atmet einmal tief durch. »Der Sternfasser. Ich habe nachgesehen. Beziehungsweise meine Mutter hat das für mich getan: Er hat bei mir dasselbe Datum angezeigt wie bei ihr. Dieses Jahrtausend, Jahrhundert, dieses Jahr. Ich gehe nicht mehr zurück.«
Ich brauche ein wenig, um das zu begreifen. »Du meinst …, du meinst …«
»Meine Zeit hat sich geschlossen. Ich bleibe jetzt hier.«
Eine warme Gefühlswelle durchströmt mich, obwohl ich das irgendwie geahnt habe. Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen. »Und das ist gut oder schlecht?«
»Gut, finde ich«, sagt Pluvius mit einem Seitenblick auf mich.
Ich kann mich jetzt doch nicht beherrschen, muss lächeln.
»Und was wolltest du sagen?«
Wir sind an der Gartenpforte angekommen. Die Perrevoorts sind schon da: Ihr beigefarbener Kombi steht in der Einfahrt. Jetzt kommt es mir doch eher blöd vor, Pluvius das zu erzählen. Ich tue es trotzdem: »An der Geschichte mit Phineus kann etwas nicht stimmen.« Der Geschichte, die er immer als Grund vorschiebt, warum wir uns nicht … uns nicht … also, die er immer vorschiebt, halt. »Phineus kann sich nicht umgebracht haben, denn ich habe sein Grab gesehen. Er war auf einem ordentlichen Friedhof begraben, und so etwas machte man im Mittelalter nicht mit Selbstmördern. Die wurden damals irgendwo verscharrt und einen Grabstein haben sie auch nicht bekommen. Außerdem kannte deine Mutter diese ach so berühmte Geschichte gar nicht, wobei das aber vielleicht auch nur mit dem Zeitschleifengedächtnisverlust zusammenhängt.«
Zeitschleifengedächtnisverlust. Puh, was für ein Wort.
Pluvius sieht mich an. »Merkwürdig«, sagt er.
Ich nicke. »Allerdings merkwürdig.«
Und dann, ohne Vorwarnung, beugt sich Pluvius zu mir herunter. Und küsst mich. Auf den Mund. Fest, fast schon stürmisch. Und das ist dann mit einem Mal gar nicht mehr merkwürdig, sondern fühlt sich richtig an und … nichts und. Fühlt sich richtig an. Punkt.
Zumindest so lange, bis Pluvius sich so schnell von mir löst, dass er mich fast wegstößt. Ich muss mich am Zaun festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Entgeistert starre ich ihn an.
Er sieht erschrocken aus. Verzieht verzweifelt das Gesicht. »Das … das war falsch von mir. Es tut mir leid.«
»Falsch?«
Pluvius antwortet nicht. Reibt sich nur die Stirn und schüttelt dann den Kopf. »Es … es tut mir leid«, wiederholt er. Abrupt dreht er sich um und läuft davon.
Das alles ging so schnell, dass ich glauben könnte, ich hätte geträumt. Wäre da nicht dieses Gefühl. Diese brennende Leere in meiner Brust, als hätte mir jemand bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen.