Die Perrevoorts haben wie immer wenig zu erzählen. Sie sitzen schweigend am Tisch und überlassen uns die Rolle der Alleinunterhalter. Ich bin in Gedanken allerdings immer noch bei Pluvius und kann mich nur schwer konzentrieren. Mama muss sich um Aella kümmern. Also bleibt es an Alex hängen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Was sie mit diebischem Vergnügen tut.
»Und, Justus, wie läuft es in der Schule?«, fragt sie unseren Großcousin. Sie hat sich für das Essen richtig in Schale geworfen, trägt zum schwarzen T-Shirt und schwarzen Rock eine immerhin dunkelblaue Weste und hat sich die Haare aus dem Gesicht gekämmt. Ihre blauen Augen strahlen. Für ihre Verhältnisse wirkt sie fast schon überschwänglich. Und ich kann mir irgendwie vorstellen, dass nicht die Perrevoorts der Grund dafür sind, sondern die Mail von ihrem Freund, die sie gerade eben bekommen und so lange gelesen hat, bis Mama ihr gedroht hat, ihr das Handy wegzunehmen.
Justus ihr gegenüber blickt erschrocken von seinem Teller hoch, auf dem er eben noch lustlos herumgestochert hat. Er sieht aus wie Onkel Theodor in klein: Dieselbe hakige Nase, die blassblauen Augen, schmale Lippen mit einer Andeutung von Hasenzähnen. Natürlich hat er nicht den Schnurrbart seines Vaters, aber das kommt bestimmt noch.
»Was?« Er hatte schon immer Angst vor Alex, auch wenn er nichts von ihrem Hexending weiß. Ist wohl mehr eine instinktive Ahnung oder so.
»Die Schule. Du gehst doch zur Schule, oder?«
»Klar gehe ich.«
»Und wie läuft es so?«
»Scheiße.« Diese ehrliche Antwort macht ihn mir fast schon wieder sympathisch.
»Justus, mein Schatz, achte auf deine Wortwahl«, mahnt Tante Regina, die ebenso wie ihr Sohn im Essen herumpickt. »Außerdem stimmt das doch gar nicht. Du bist sehr gut in der Schule. Nur eben ein wenig … minimalistisch.«
»Minimalistisch?« Das Wort lässt sogar meine Mutter hochsehen, die Aella gerade eine Kartoffel klein schneidet.
»Er tut nur das Nötigste«, übersetzt Onkel Theodor und wirft seinem Sohn einen strengen Blick zu.
»Gar nicht«, murmelt Justus, allerdings wenig überzeugend. Er scheint nicht mal sonderlich interessiert an dem, was um ihn herum passiert. Nur Alex behält er wachsam im Auge.
»Und welches Fach magst du am liebsten, Justus?« Alex schneidet ihr Fleisch in winzig kleine Stücke, während Justus jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgt.
»Bio«, antwortet er.
»Ah, Biologie.« Sie spießt ein Fleischstück mit der Gabel auf, hält es sich vor die Augen und dreht und wendet es, als müsse sie es erst von jeder Seite her prüfen. »Das ist auch eines meiner Lieblingsfächer.« Sie steckt es sich in den Mund.
Justus wird es anscheinend heiß. Er zupft sich am Kragen.
Ich werfe Alex einen prüfenden Blick zu, kann aber nicht erkennen, ob sie daran schuld ist oder nicht. Normalerweise verengen sich ihre Augen, wenn sie etwas ankokeln will. Und normalerweise muss sie dazu auch wirklich wütend sein. Aber was ist schon normal in diesem Fall?
Mama scheint auch misstrauisch in Bezug auf Alex zu sein. »Äh, Alex, warum erzählst du Theodor und Regina nicht von dem Sportfest bei euch in der Schule?«, versucht sie abzulenken.
Alex hört auf zu kauen und starrt meine Mutter an. Sie schluckt. »Vom Sportfest?«
»Ja. Vielleicht möchten die beiden auch kommen.«
Jetzt starren auch Onkel Theodor und Tante Regina unsere Mutter an.
Alex wendet sich demonstrativ freundlich an die beiden. »Also, da ist nächste Woche ein Sportfest bei uns an der Schule. Und ihr wollt ganz sicher nicht kommen, weil diese zweitklassigen Tanzaufführungen nichts für schwache Nerven sind.«
Onkel Theodor und Tante Regina nicken erleichtert.
»Doch nicht wegen der Tanzvorführungen.« Mama schiebt Aella Kartoffelbröckchen hin, die diese mit den Fingern zusammenquetscht und dann in den Mund steckt. »Aber es gibt ein Spiel. Ein wichtiges.«
Alex verzieht das Gesicht. »Es wird auch Hockey gespielt.«
»Die besten Teams des Landes treten im Hockey gegeneinander an«, ergänzt Mama, »und Alex ist in der Auswahlmannschaft.« Sie klingt stolz, und ich kann es ihr nicht mal verübeln, dass sie damit angibt: Unsere schulischen Leistungen sind normalerweise nicht gerade das Thema, das man beim Abendessend mit Verwandten freiwillig anschneidet. Und Mama musste sich über die Jahre weiß Gott viele Geschichten über Justus anhören.
»Aber das ist ja wunderbar«, sagt Onkel Theodor in einem Tonfall, als würde er die Verkehrsnachrichten vorlesen.
»Ja, wirklich«, pflichtet ihm Tante Regina ebenso enthusiastisch bei.
Alex grummelt irgendwas und blickt wieder auf ihren Teller.
Justus, der nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses steht, entspannt sich sichtlich.
Ich beobachte ihn von der Seite her und versuche rauszufinden, was für ein Hexending er hat. Sein Großvater konnte die Uhrzeit auf die Sekunde bestimmen, was sich jetzt nicht so weltbewegend anhört, aber doch recht nützlich sein kann. Vor allem, wenn man in fremden Zeiten unterwegs ist. Also warte ich, bis seine Eltern und meine Mutter in ein Gespräch verwickelt sind, und raune ihm dann zu: »Wie spät ist es?«
»Hä?« Er macht fast einen Hüpfer vor Schreck darüber, dass ich ihn angesprochen habe.
»Wie spät?«
Justus reckt den Hals, um auf die Uhr auf der Kommode sehen zu können.
»Nein, so ganz spontan. Nur so schätzen.«
Justus reibt sich die Nase. »So sieben?«
Okay, das war nichts. Zeit ansagen ist nicht so sein Ding. Dann Teil zwei. Ich warte, bis er sich wieder seinem Essen widmet, drehe mich dann blitzschnell um und rufe »buh«, während ich ihm gleichzeitig in die Seite boxe.
Dieses Mal macht er einen Hüpfer, und was für einen. Und er verschluckt sich dabei. Was bei den übrigen Familienmitgliedern am Tisch gar nicht gut ankommt.
»Was sollte denn das?«, fragt Mama entgeistert, während Tante Regina um den Tisch herumkommt, um ihrem Sohn auf den Rücken zu klopfen.
»Er hatte einen Schluckauf«, verteidige ich mich.
»Hatte. Ich. Nicht«, hustet Justus. Tränen laufen ihm das gerötete Gesicht herunter.
»Ich wollte ihm nur helfen«, behaupte ich weiterhin. Als ich meine Gabel wieder aufnehme, begegnet mir der Blick von Onkel Theodor. Dieser wissende, unheimliche Blick, mit dem er mich andauernd betrachtet. Ich senke den Kopf und lasse mein Haar so fallen, dass er mein Gesicht nicht mehr sehen kann. Und ich seines nicht.
Justus weiß die Uhrzeit nicht und es passiert auch nichts, wenn man ihn erschreckt. Und in die Zukunft sehen kann er auch nicht, sonst könnte man ihn ja gar nicht erst erschrecken. Also nichts. Ich bin fast bereit zu glauben, dass mein Cousin zweiten Grades kein Hexending geerbt hat. Bis ich plötzlich, und zwar ganz kurz nur, das Gefühl habe, dass er grinst.
Ich drehe mich halb um, um ihm ins Gesicht zu sehen, doch er hustet immer noch, während seine Mutter auf ihn einredet und ihm Wasser holen will.
Nein, da bilde ich mir etwas ein. Onkel Theodor guckt nicht komisch und Justus grinst nicht: Die ganze Familie Perrevoort hat null Komma null Fähigkeiten, die man als außergewöhnlich bezeichnen könnte. Außer der vielleicht, außergewöhnlich langweilig zu sein.
»Und was gibt’s als Nachtisch?«, fragt Onkel Theodor, nachdem sein Sohn sich beruhigt hat und man wieder sein eigenes Wort verstehen kann.
»Rote Grütze«, erwidert meine Mutter, was wohl für niemanden eine Überraschung ist: In der Beziehung können wir nämlich alle in die Zukunft sehen. Mama kauft immer mehrere Plastikeimer davon im Supermarkt und serviert dazu Vanillesoße aus der Tüte. Falls meine Mutter jemals ein Hexending hatte, hatte es ganz eindeutig nichts mit dem Auf-den-Tisch-Zaubern von Mahlzeiten zu tun. Wir fragen sie nicht mehr danach. Nach ihrem Hexending, meine ich. Es ist ihr wohl abhandengekommen, zumindest wird sie immer fürchterlich traurig, wenn wir sie darüber aushorchen wollen, also lassen wir es inzwischen bleiben.
Tante Regina setzt sich wieder auf ihren Platz und beginnt übergangslos, mit ihrem Sohn anzugeben. Wahrscheinlich steckt ihr der Schreck über Alex’ Hockeyleistung noch in den Knochen. »Justus musste in der Schule seinen Stammbaum aufzeichnen und hat eine Zwei plus bekommen, nicht wahr, Schatz?«
»Mmh«, macht Justus, der jetzt abwechselnd mir und Alex misstrauische Blicke zuwirft.
»Er hätte beinahe eine Eins bekommen, aber anscheinend gibt es in eurem Stammbaum einige Unklarheiten, liebe Theresa.«
»Unklarheiten?« Meine Mutter ist abgelenkt. Aella ist nämlich satt, und dann kann es passieren, dass sie eindöst. Und wenn sie eindöst, hat sie ihr Hexending noch weniger unter Kontrolle und verschwindet manchmal, wird blass oder durchscheinend, was echt gruselig aussieht. Mama versucht, sie mit Roter Grütze wach zu halten.
»Lass doch, Regina«, sagt Onkel Theodor.
»Nein, warum denn? Ich habe doch nur gesagt, dass Justus eine gute Zensur bekommen hat, weil in meiner Familie alles in Ordnung ist.«
»Wir sind auch in Ordnung«, protestiert Alex.
»Nun ja.« Tante Regina schabt mit ihrem Löffel im Glas. »Es gibt da wohl einige Lücken.«
»Lücken? Was für Lücken?«, fragt meine Mutter, die nicht richtig zugehört hat.
»Nicht nur, dass euer Ur-ur-ur-Großvater seine eigene Nichte geheiratet hat …«
»Phineus?«, frage ich atemlos: Der Phineus, dessen Grab wir gefunden haben, der den Sternenfasser erfunden und der sich allem Anschein nach nicht umgebracht hat?
»Ja, genau.« Tante Regina sieht mich an und nickt fast unmerklich. »Du interessierst dich auch für deinen Familienstammbaum?«
»Und wie. Was war denn mit Phineus?«
»Nicht nur, dass er seine eigene Nichte geheiratet hat: Sein Bruder Prosperus ist anscheinend verschwunden. Und von diesem Zeitpunkt an gibt es nichts mehr, keine Aufzeichnungen eure Sippschaft betreffend. Und du warst mir da ja auch keine große Hilfe, Theodor.«
Onkel Theodor macht den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch ich komme ihm zuvor. »Phineus hat Andromeda geheiratet?«
»Ja, aber das war wohl damals auch nicht unüblich, dass man eine Verwandte heiratete. Heutzutage ginge das natürlich nicht mehr und in meiner Familie ist es auch nicht vorgekommen. Wir stammen immerhin von den Weizenbruchs ab, einer ganz alten Familie, die schon im Jahr …«
Ich höre nicht weiter zu. Die Gedanken schwirren in meinem Kopf. Phineus hat sich nicht umgebracht. Er hat geheiratet, und zwar Andromeda. Die Geschichte, die sie Pluvius und mir aufgetischt haben, stimmt vorne und hinten nicht!
»… und setzt dann erst wieder ein mit Theodors Oma Kassandra.«
Ich versuche, mich wieder auf die Ausführungen von Tante Regina zu konzentrieren.
»Und auch da gibt es ein einziges Kuddelmuddel, wenn man sich mal diesen adoptierten Onkel von euch genauer ansieht. Da kann ja wohl auch etwas nicht stimmen. Ich habe nämlich herausgefunden, dass …«
»Es reicht, Regina«, unterbricht Onkel Theodor sie und schlägt mit der Faust auf den Tisch.
Tante Regina wird blass. Außerdem ist es totenstill am Tisch.
Onkel Theodor räuspert sich, was seinen Schnurrbart zittern lässt. »Ich meine, es interessiert sich sicher niemand für diese alten Geschichten, Liebes, deinen Ehrgeiz in allen Ehren«, versucht er abzuschwächen.
»Ich interessiere mich dafür«, wende ich ein.
»Ich auch«, sagt Alex und selbst Justus sieht neugierig zu seinem Vater hinüber.
»Ich sagte, es reicht. Es war ein Schulprojekt und Justus hat eine Zwei bekommen. Eine gute Zwei. Nur darauf kommt es doch an.«
Ich will protestieren, neugierig, was Tante Regina in Bezug auf Pluvius herausgefunden hat, als mein Blick auf meine Mutter fällt. Sie sitzt da, reglos, den Löffel in der Hand, von dem die Rote Grütze wie dickflüssiges Blut heruntertropft. Sie sieht Onkel Theodor an. Hilfe suchend, verloren. Und dann flüstert sie etwas und ihr Cousin scheint zu nicken: Es geht blitzschnell und, mit einem Mal ist alles … wie vorher – anders kann ich es nicht ausdrücken.
»Habe ich euch schon erzählt, dass Justus eine Zwei plus in der Schule bekommen hat?«, fragt Tante Regina plötzlich wieder sehr munter und taucht ihren Löffel in die Grütze vor ihr. »In Englisch war es doch, oder Liebling? Oder war es Mathe?«
Justus starrt sie an.
»Ach ja, Deutsch, jetzt fällt es mir wieder ein.« Tante Regina zeigt mit dem Löffel in Richtung ihres Sohnes. »Ihr musstet irgendwas zeichnen, nicht wahr? Ist ja auch egal. Eine Zwei plus: Ich fand das bemerkenswert.« Sie isst weiter.
Bemerkenswert, in der Tat. Ich starre zu Alex, die mich ebenso fassungslos ansieht. Dann bemerke ich, dass Onkel Theodor uns beobachtet, und senke den Blick. Kann sein, dass ich nichts über Justus’ Hexending herausgefunden habe. Aber ich weiß, ich bin etwas anderem, viel Größerem auf der Spur. Und dass Onkel Theodor davon besser nichts mitbekommen sollte.
»Hast du das mitbekommen?«, fragt Alex entgeistert.
Wir haben uns, so schnell es ging, die Hunde geschnappt, nachdem die Perrevoorts sich verabschiedet hatten. Mama bringt Aella ins Bett, während wir noch eine letzte Runde mit Rufus und Kaspar drehen. Oder besser gesagt: Sie mit uns.
»Das mit Tante Regina? Das war so …« Unheimlich wollte ich sagen, komme aber nicht mehr dazu, weil Rufus stehen geblieben ist, um zu schnüffeln, und ich mir fast den Arm auskugele. »Unheimlich«, sage ich erst dann, als ich unseren Bernhardinermischling weitergezogen habe und wieder neben meiner Schwester auftauche.
»Ja, nicht wahr? Sie wusste anscheinend gar nicht mehr, dass sie uns das mit Justus’ Note gerade eine Minute vorher schon einmal erzählt hat.« Wir bleiben beide stehen, während Rufus und Kaspar abwechselnd einen Laternenpfahl bepinkeln.
»Wie kann das sein?«
»Keine Ahnung. Meinst du, das war Onkel Theodor?« Kaspar zieht Alex weiter.
»Nun los, komm schon, Rufus«, zerre ich an Rufus. »Nein, nicht Onkel Theodor«, erwidere ich, nachdem ich sie eingeholt habe. »Ich fürchte, das war … Mama.«
»Mama?« Alex bleibt stehen, was ihr nicht viel nutzt, denn Kaspar mag es gar nicht, wenn er hinter Rufus gehen muss. Mit ein, zwei Sprüngen ist der große Wolfshund wieder an uns vorbei und Alex’ Arm sicher ein paar Zentimeter länger. »Was meinst du damit?«, ruft sie über ihre Schulter.
»Ihr Hexending. Mamas Hexending. Sie hat Tante Reginas Gedächtnis beeinflusst.«
»Kann nicht sein. Jetzt. Mal. Halt!« Alex lässt sich nach hinten fallen und reißt an der Leine. Kaspar bleibt stehen.
»Doch, ich fürchte schon. Sitz, Rufus. Sitz!« Ich drücke auf sein Hinterteil, bis er sich setzt. Beide Hunde hecheln uns vorwurfsvoll an.
»Aber das wäre ja … ja …«
»Unheimlich«, ergänze ich. Sachen ankokeln, unsichtbar werden, in der Zeit reisen: schön und gut. Aber das Gedächtnis von Menschen beeinflussen zu können? Das ist doch wohl etwas ganz anderes. Kein Wunder, dass sie nicht mit uns über ihr Hexending sprechen will.
»Hast du das schon einmal an ihr bemerkt? Dass sie so etwas macht?«
Ich habe mich das auch schon gefragt und mein Gedächtnis durchforstet, aber nein, nichts. Also schüttele ich den Kopf. »Nein. Nie.«
»Ich auch nicht.« Alex wird still. Nur das Hecheln der Hunde ist zu hören. Kaspar fängt zudem an, ungeduldig zu fiepen. »Meinst du«, fragt sie schließlich, »sie hat das auch schon mal bei uns gemacht? Dass das der Grund ist, dass wir das nicht mehr wissen? Und dass wir deswegen nie so genau nachfragen, was mit ihrem Hexending passiert ist?«
Ein Schauer läuft mir über den Rücken. »Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Ich denke nicht, dass sie diese Gedächtnissache gern macht.«
»Aber sie könnte.«
»Ja, das könnte sie wohl.«
Wir haben beide wahrscheinlich ähnliche Gedanken. Es ist nicht auszuschließen, dass, falls unsere Mutter diese Fähigkeit wirklich besitzt, sie auch unser Gedächtnis beeinflusst hat. Was fürchterlich wäre. Viel schlimmer, als wenn sie unsere geheimen Tagebücher lesen würde, die wir ja gar nicht führen. Viel schlimmer als alles, was ich mir vorstellen könnte.
»Nein«, schüttele ich entschieden den Kopf. »Das würde sie nie machen.«
»Aber heute hat sie es getan. Und warum? Was hat Tante Regina denn so Schreckliches erzählt?«
Jetzt stimmt auch Rufus in das Gefiepe ein und steht auf. Ich halte ihn kurz. »Sie hat etwas rausgefunden. Als sie den Stammbaum für Justus gemacht hat.« Und ich denke nicht, dass sie bloß verhindern wollte, dass wir erfahren, dass Tante Regina für ihren Sohn die Schularbeiten macht.
»Und was?« Kaspar ist nicht mehr zu halten. Er fängt an zu schnüffeln und zieht Alex dabei unaufhörlich ein Stückchen weiter.
Natürlich setzt Rufus ihm sofort nach, derselben unsichtbaren Spur folgend.
Ich versuche, mich genau an das zu erinnern, was Tante Regina gesagt hat: Phineus hat Andromeda geheiratet. Phineus’ Bruder ist verschwunden. Es existiert seitdem eine riesige Lücke in unserem Stammbaum, der erst bei Uroma Kassandra wieder einsetzt. Doch selbst da gibt es ein, wie hat Tante Regina es noch einmal ausgedrückt? Ach ja, ein Kuddelmuddel. Und das mit Pluvius, da stimmt auch irgendwas nicht. Aber was? Vielleicht hat sie nur herausgefunden, dass Pluvius nicht Kassandras leiblicher Sohn war: Gut, das wissen wir längst. Oder sie hat entdeckt, dass Pluvius verschwunden ist, als er vierzehn war. Dass er nie wieder in seine alte Zeit zurückkehrt, wissen wir jetzt auch: Der Sternfasser hat es verraten. Noch etwas? Gibt es etwa noch ein Geheimnis um Pluvius?
»Nun kommt endlich«, ruft Alex, die mit Kaspar schon ein ganzes Stück die Straße runter ist.
»Sag das mal ihm«, erwidere ich und ziehe an Rufus, den das nicht im Geringsten zu stören scheint. Irgendetwas an dem, was Tante Regina herausgefunden hat, war es meiner Mutter wert, ihr Hexending anzuwenden. Was sie meines Wissens noch nie oder zumindest längere Zeit nicht mehr getan hat. Es muss etwas Wichtiges sein. Aber ich kann mir noch so sehr das Gehirn zermartern, ich komme nicht darauf, was es sein könnte.
Es ist frustrierend, einem Gedanken nachzuhängen und ihn nicht zu packen zu kriegen. Als würde etwas genau hinter deinem Bewusstsein kauern, ohne dass du es erreichen kannst, während es dir die Zunge rausstreckt und »Ätschbätsch« ruft oder so. Folglich habe ich die letzte Nacht schlecht geschlafen. Folglich habe ich miese Laune.
Zumindest so lange, bis ich beim Frühstück Pluvius treffe. Sofort fällt mir alles wieder ein. Nein, nicht die Sachen, die Tante Regina erzählt hat: der Kuss. Seine Lippen auf meinen. Sein Geruch, seine Augen … prompt sind die Schmetterlinge wieder in meinem Magen unterwegs. Und die Enttäuschung. Begleitet von ihrer Freundin, dem schlechten Gewissen, weil ich gleichzeitig an Moritz denken muss. Miese Laune, Schmetterlinge, Enttäuschung und schlechtes Gewissen sind definitiv zu viele Gefühle auf nüchternen Magen.
Ich murmele daher nur eine Art »Guten Morgen« und verschanze mich hinter der Cornflakespackung.
Pluvius erwidert etwas ähnlich Unverständliches und setzt sich mit einem Kaffee an den Tisch.
Alex sieht von mir zu Pluvius und wieder zurück. »Mann. Seid ihr beide Morgenmuffel.«
»Ich nicht«, murmele ich.
»Ich auch nicht«, nuschelt Pluvius in seine Tasse.
»Na dann«, sagt Alex.
Ich konzentriere mich auf die Entstehung der Cornflakes, deren spannende Geschichte hinten auf der Packung abgedruckt ist.
Alex fragt Pluvius nach dem Abend mit seiner Mutter und Pluvius erzählt, er sei in Ordnung gewesen. Die beiden haben Karten gespielt.
»Ach übrigens, Ariadne: Meine Mutter hatte die Lanzette«, sagt er so nebenbei, »die ganze Zeit über.«
Mein Kopf ruckt hinter der Cornflakespackung hervor.
Er beobachtet mich über den Rand seiner Tasse hinweg. Seine grün-braunen Augen blicken ernst. »Die Lanzette befand sich die ganze Zeit über in ihrem Nähzeug. Sie hielt sie wohl für eine etwas zu lang geratene Nadel.«
»Und jetzt? Wo ist sie jetzt?«
»Sie ist immer noch da. Ich wollte Pando …, meine Mutter nicht misstrauisch machen, also habe ich nicht zu viel nachgefragt. Aber sie sagt, sie würde mir bei Gelegenheit erklären, wie man sie benutzt. Wie sie ihre Zeitschleife angelegt hat, weiß ich schon jetzt: Sie hat das Ding auf ihre Füße gerichtet und ›Halt‹ gerufen. Das hat schon genügt.«
»Du machst Witze.«
»Nein, ehrlich gesagt ist mir überhaupt nicht danach, Witze zu machen.«
Wir starren uns an. Ich gewinne.
Pluvius schlägt die Augen nieder und erzählt weiter. »Auf die Füße zeigen und ›Halt‹ rufen. Das hat sie gesagt. Es gibt nicht viele Zeitreisende, die das schon einmal ausprobiert haben. Und danach darüber berichten konnten.«
So einfach ist das? Dann sollte es doch auch nicht so kompliziert sein, damit einen Zeittunnel anzulegen, oder? Pluvius fragt nach unserem Abend mit den Perrevoorts und ich ziehe mich wieder hinter die Cornflakes zurück und überlasse Alex die Antwort. Meine Schwester lästert über Onkel Theodor und beschreibt ihm in allen Einzelheiten, wie man Justus zum Schwitzen bringen kann. Kein Wort über Mamas Hexending. Unseren Verdacht. Unseren merkwürdigen Stammbaum.
Pluvius wirft mir ab und an einen vorsichtigen Blick zu.
Den ich ignoriere. Ich versuche, mich auf Moritz zu konzentrieren, den ich nachher in der Schule wiedersehen werde und von dem ich gerade nicht weiß, wie ich ihm nach der Sache mit Pluvius noch unter die Augen treten soll.
Das Problem wird mir abgenommen, denn Moritz taucht gar nicht erst in der Schule auf. Er ist in meiner Parallelklasse und zunächst bin ich sogar etwas erleichtert darüber, dass er schwänzt. Oder verschlafen hat. Nach der großen Pause allerdings mache ich mir Sorgen. Er hat gestern nichts davon gesagt, dass er heute nicht kommt. Ob er etwas von mir und Pluvius ahnt? Quatsch. So langsam leide ich unter Verfolgungswahn.
Bei mir fallen die letzten beiden Stunden Englisch aus und ich flitze, so schnell ich kann, nach Hause. Immer noch keine Nachricht von Moritz: Ich habe gleich auf meinem Handy nachgesehen, das ich nicht mit zur Schule nehmen darf. Ich versuche, ihn anzurufen, doch sein Handy ist abgeschaltet. Ich rufe sogar im Hotel an, obwohl mir das total peinlich ist, und lasse mich zu seinem Zimmer durchstellen. Nichts. Jetzt beginne ich doch, mir Sorgen zu machen. Er hat von dem Kuss von Pluvius erfahren: Es gibt gar keine andere Erklärung. Vielleicht ist er mir vom Hotel aus gefolgt? Aber warum sollte er das tun? Weil ich was vergessen habe. Genau, so muss es sein. Was denn? Den Schlüssel. Er hat schließlich noch den Schlüssel zur Zeitkarte. Und den wollte er mir bringen. Warum gestern Abend? Warum nicht einfach heute in der Schule? Nein, das kann alles nicht stimmen und es bringt auch nichts, wenn ich mir alles Mögliche einbilde. Ich versuche noch mal, ihn zu erreichen. Abgeschaltet. Immer noch.
Den Nachmittag über lenke ich mich ab, so gut es geht. Mache Hausaufgaben. Wasche freiwillig ab. Spiele mit Kaspar und Rufus. Gehe Pluvius aus dem Weg, was nicht schwer ist, weil der sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Gehe Alex aus dem Weg, weil ich nicht über Mama und Hexendinge und vor allem nicht über Mamas Hexending reden will. Gehe Mama aus dem Weg, weil die eine Freiwillige für den Einkauf sucht. Lese ein Buch. Lege es wieder weg. Nehme es wieder hoch, lese weiter, zumindest zwinge ich mich zu ein paar Seiten.
Dann, gegen Abend, klingelt endlich das Telefon. Ich stürze in den Flur und halb die Treppe runter, aber Mama hat schon abgenommen. »Nein«, höre ich, »aber ich kann sie ja mal fragen.« Sie hält eine Hand über den Hörer und sieht hoch zu mir. »Das ist die Mutter von Moritz. Sie fragt, ob du vielleicht weißt, wo er steckt.«
Mir wird schlecht. Ich schüttele den Kopf, dann setze ich mich auf die Stufe.
»Nein, auch nicht«, spricht meine Mutter ins Telefon. »Davon wüsste ich … Nein, habe ich auch noch nie. Aber Ariadne ist jetzt da. Ich frage sie schnell.« Wieder hält sie den Hörer weg. »Habt ihr so eine Art Spiel gespielt?«
»Ein Spiel?«
»Ja. Schnitzeljagd oder so?«
»Nein. Warum?«
»Es wurde ein Zettel an der Rezeption abgegeben. Darauf steht: ›Für Ariadne von Moritz‹, und dann ein paar Zahlen.«
»Zahlen?« Ich flüstere fast.
»Ja, eine Kombination oder so. Du weißt auch nicht, was das bedeuten kann?«
Wieder schüttele ich stumm den Kopf.
Meine Mutter mustert mich prüfend, dann nimmt sie wieder den Hörer hoch. »Nein, Frau Haußmann, sie hat keine Ahnung. Wollen Sie vielleicht selbst mit ihr … Nein, klar. Sie ruft Sie natürlich an, sobald sie etwas hört. Was sind das denn für Zahlen?« Sie schreibt sie auf. »Vielleicht fällt uns dazu was ein. … Ja, natürlich frage ich sie. Viel Glück.« Sie drückt auf »Aus« und stellt den Hörer auf die Ladestation zurück. »Moritz’ Mutter ruft jetzt die Polizei.« Meine Mutter kaut gedankenverloren an ihrer Unterlippe, dann sieht sie zu mir hoch. »Du bist dir sicher, dass du nichts darüber weißt?«
»Ganz sicher«, beteuere ich mit einigermaßen fester Stimme.
»Auch nichts über diese Zahlen?«
»Welche Zahlen denn?«
Meine Mutter nimmt den Zettel hoch. »Zwei, neun und eins und dann zwei Zahlenpärchen: achtzehn und dreiundzwanzig.«
Zum dritten Mal schüttele ich den Kopf, weil ich den Mund nicht mehr aufmachen kann. Mein Innerstes hat sich in Eis verwandelt. »Keine Ahnung«, bringe ich gerade noch heraus. Ich weiß nicht, warum ich es so schnell begriffen habe, es ist aber auch nicht besonders kompliziert. Soll es auch nicht sein, denn schließlich ist es eine Botschaft für mich: Die ersten drei Zahlen stehen stellvertretend für Buchstaben des Alphabets und lauten B-I-A. Und die Zahlenpärchen sind keine Kombination, es ist eine Jahreszahl. Es ist das Jahr, in dem Moritz sich aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Augenblick befindet.