3
Emmerich verließ das Polizeigebäude und starrte in den Himmel.
»Der Wetterbericht hat angekündigt, dass es heute wieder hochsommerlich werden wird.« Winter trat gemeinsam mit seinem Vorgesetzten auf die Rossauer Lände.
»Es ist schon jetzt unerträglich.« Emmerich zog sein Jackett aus, klemmte es sich unter den Arm und lockerte seine Krawatte. »Nicht mal acht Uhr und die gelbe Sau heizt schon wieder ein, als würde es kein Morgen geben.« Er deutete hinauf in das wolkenlose Blau, das nur von der gnadenlos herunterbrennenden Sonne durchbrochen wurde. »Diese verdammte Hitze treibt die ganze Stadt in den Wahnsinn. Kein Wunder, dass sich die Leute gegenseitig umbringen. Apropos … Womit haben wir es zu tun?«
»Drei tote Frauen in der Brigittenau«, erklärte Winter und blickte auf den Zettel, auf dem er sich die Adresse notiert hatte. »In der Jägerstraße.«
»In der Hochburg des Lumpenproletariats.« Emmerich zündete sich eine Zigarette an und musterte seinen Assistenten, der trotz der vorherrschenden Temperaturen einen Dreiteiler aus Tweed, ein gestärktes Baumwollhemd und eine perfekt gebundene Krawatte trug. »Feine Herrschaften werden wohl ohne Schweißdrüsen geboren.«
»Doch, die haben wir schon, aber halt auch Disziplin.«
Emmerich zog eine Augenbraue hoch und blickte Winter von der Seite an. Dann blies er Rauchkringel in die Luft, als wolle er damit die Sonne vernebeln, und marschierte los.
Schweigend folgten die beiden Kriminalbeamten dem Donaukanal bis zur Brigittabrücke. Obwohl es noch so früh war, herrschte dort bereits reges Treiben. Die Stadt bereitete sich auf einen weiteren Hundstag vor: Schiffsleute und Uferarbeiter versuchten, so gut es ging die Stunden vor der großen Mittagshitze zu nutzen, um die anstrengendsten Tätigkeiten zu verrichten. Angler spannten alte, löchrige Regenschirme auf, die ihnen Schatten spenden sollten, während sie darauf warteten, dass einer anbiss. Obdachlose kletterten die Böschung hinunter, um erst sich selbst und anschließend ihre Kleidung – oder wie man es auch immer nennen mochte – in dem leise dahinplätschernden Wasserlauf zu waschen.
Emmerich und Winter überquerten die Brücke, die den 9. mit dem 20. Bezirk verband, und liefen an blankgefahrenen Straßenbahnschienen entlang. Immer weiter drangen sie in die Brigittenau vor, wo von den eng aneinandergebauten Mietskasernen jene Wärme abstrahlte, die sich seit Tagen in ihren Mauern angereichert hatte.
»Von oben, von unten, von links und von rechts. Ein Backofen ist nichts dagegen.« Emmerich blieb vor einem großen Zinshaus stehen, öffnete die obersten Knöpfe seines Hemds, krempelte die Ärmel hoch und rieb sich mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken. Die Tatsache, dass sein Assistent noch immer wie aus dem Ei gepellt aussah, entlockte ihm ein ungläubiges Kopfschütteln. »Das kann doch nicht gesund sein«, murmelte er und drückte gegen die Eingangstür, die sich problemlos öffnen ließ.
Es war nicht schwer, den Tatort zu lokalisieren. Aufgeregtes Stimmengewirr wies den beiden Polizisten den Weg durch einen heruntergekommenen Innenhof bis ins Hinterhaus. Ausgetretene Stufen führten in den Halbstock, das sogenannte Mezzanin. In dem Zwischengeschoss fanden sie einen langen, schmalen Flur vor, in dem sich eine Tür an die nächste reihte.
»Ach du Schande«, murmelte Winter, als er durch einen offenen Türspalt spähte, hinter dem sich das Elend der Wohnanlage schonungslos offenbarte.
»Was hast du erwartet?«, fragte Emmerich.
»Nicht so was.« Ungläubig warf sein Assistent einen erneuten Blick in das stickige Loch, das nicht einmal über ein Fenster verfügte. Die Unterkunft bestand aus nur einem einzigen Raum, in dem alle Tätigkeiten verrichtet wurden: Kochen, Waschen, Wohnen und Schlafen.
»Komm«, beschied Emmerich und ging weiter, dem Lärm der Stimmen entgegen.
»Man kann die Leichen schon riechen.« Winter hielt sich eine Hand vor Mund und Nase.
»Der Gestank kommt nicht von den Leichen. Das ist das Aroma der Armut.« Emmerich sah sich um und wies auf eine klapprige kleine Tür am Anfang des Flurs. »Es gibt nur eine Toilette für die gesamte Etage, wahrscheinlich ein Plumpsklo. Bei solchen Temperaturen kann keine Abdeckung der Welt den Gestank davon abhalten, sich im ganzen Haus zu verteilen.«
»Das ist schrecklich. Ich habe gelesen, dass die Hygieniker …«
»Sie müssen die Herren von der Kieberei sein«, wurde Winter von einem alten Mann unterbrochen, der nicht mehr als eine sehr kurze Hose trug.
»Na, von der Philharmonie sind wir jedenfalls nicht.« Emmerich zückte seine Dienstmarke und blickte geradeaus, wo eine Menschentraube den Flur verstopfte .
Die Leute sprachen und gestikulierten wild durcheinander, während eine Horde kleiner Kinder zwischen ihnen Fangen spielte.
»Also mich wundert’s nicht«, sagte eine Frau, während sie versuchte, ihre kleine Tochter einzufangen, die auf Kollisionskurs mit Emmerichs Beinen war.
»Meine Red. Wer si mit Hunden ins Bett legt, derf sie net wundern, wenn er mit Flöh’ aufwacht.« Ein dicker Mann, dessen schmutziges, völlig ausgeleiertes Unterhemd gerade mal die Hälfte seines Bauchs bedeckte, lachte dreckig.
Hinter dem Pulk konnte Emmerich eine offene Tür erkennen, die von einem uniformierten Schutzpolizisten bewacht wurde.
Der junge Mann hatte alle Mühe, die Meute im Zaum zu halten. »Wie oft soll ich es wiederholen?«, schimpfte er, als sich eine weißhaarige Frau an ihm vorbeischleichen wollte. »Kein Zutritt.«
Völlig ungerührt zwängte sich Emmerich durch den Menschenauflauf und ignorierte die Fragen, die wie Trommelfeuer auf ihn einprasselten. »Worauf wartest du?«, wandte er sich an seinen Assistenten, als dieser ihm nicht folgte.
»Entschuldigung«, murmelte Winter und bedeutete den Hausbewohnern, einen Schritt zur Seite zu treten. »Ent-schul-di-gung!«, wiederholte er mit etwas mehr Nachdruck, doch sie ignorierten ihn einfach.
»Komm endlich«, rief Emmerich und sah seinem Assistenten nicht ohne Schadenfreude dabei zu, wie er sich in seinem feinen Zwirn durch die verschwitzten Leiber schlängelte, peinlich darauf bedacht, den Umstehenden nicht auf ihre bloßen Füße zu steigen. Als er sich an einer verhärmten Frau mit dunklen Ringen unter den Augen und schreiendem Säugling im Arm vorbeidrängte, holte sie eine Brust aus der Bluse, um ihr Kind zu stillen. Winter lief rot an und legte endlich einen Zahn zu.
»Waren die Kollegen von der Spurensicherung schon da?«, wandte Emmerich sich an den Uniformierten.
Der Angesprochene nickte. »Sind gerade gegangen. Sie müssen sich knapp verpasst haben.«
»Gerichtsmedizin?«
»Schon unterwegs. Sollte jeden Moment eintreffen.«
»Wer hat die Toten gefunden?«
Noch ehe der Uniformierte antworten konnte, riss eine ältere Frau mit roten Backen einen Arm in die Höhe. »Hier. I!«, rief sie und trat zu ihnen. Strähnen ihres grau melierten Haars klebten an ihrem runden Gesicht, auf ihrer knielangen Kittelschürze zeichneten sich unter den Achseln und am Brustbein große Schweißflecken ab. Eine säuerliche Ausdünstung umwehte sie.
»Und Sie sind?«
»Roswitha Benisch, die Hausbesorgerin.«
»Sie bleiben hier.« Emmerich wandte sich dem Menschenauflauf zu. »Alle anderen zurück in ihre Wohnungen!«, befahl er. »Halten Sie sich dort zu unserer Verfügung.«
Die Leute hörten zwar auf zu reden, doch sie folgten der Aufforderung nicht, stattdessen sahen sie einander verhalten an. Sie hatten wohl keine Lust, in ihre dunklen, stickigen Löcher zurückzukehren.
Emmerich konnte es ihnen nicht verdenken. »Ab in die Wohnungen!«, befahl er erneut, dieses Mal um einiges lauter. Zur Untermauerung seiner Worte hob er seine Marke in die Höhe. »Oder soll ich Sie abführen lassen?«
Nur widerwillig gehorchten die Schaulustigen .
»Gemma! Geht scho!« Emmerich klatschte in die Hände und drehte sich schließlich zu Frau Benisch um. »Erzählen Sie mir alles.«
»Die Tür war offen«, sagte sie, sichtlich erfreut darüber, endlich das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. »Erst hab i ma nix dabei gedacht, aber dann hab i das gesehen.« Sie deutete auf eine blutige Schliere am Türrahmen. »I hab den Kopf in die Wohnung gesteckt und es sofort g’rochen. Hat g’stunken wie beim Schlachter.«
»Haben Sie den Tatort betreten?«
»No na ned. Hab ja schauen müssen, was genau da los is. Ned sche, ned sche. So viel kann i Ihnen schon amal verraten.« Die alte Benisch stemmte die Hände in die Hüften. »Wer soll das denn jetzt alles putzen? I mach das nämlich sicher ned.«
»Haben Sie etwas angefasst?«, lenkte Emmerich das Gespräch zurück auf das eigentliche Thema.
»Natürlich ned«, beteuerte sie. »I hab gleich nach der Polizei schicken lassen.«
»So ein Rotzbub ist gegen sieben in die Wachstube in der Othmargasse gestürmt«, erklärte der Uniformierte. »Der Kleine schrie Zeter und Mordio, hat irgendwas von Blut und Umbringen gefaselt. Also bin ich ihm hierher gefolgt. Als ich gesehen habe, was los ist, habe ich sofort in der Polizeizentrale angerufen. Ich hoffe, das entspricht dem Protokoll.«
»Alles richtig gemacht.« Emmerich klopfte ihm auf die Schulter. »Dann wollen wir mal sehen, womit wir es hier genau zu tun haben.« Er betrat die finstere Küche, die direkt hinter der Eingangstür lag. Nach einem Lichtschalter tastete er vergeblich, doch er brauchte keine Beleuchtung: Der Geruch verriet ihm auch so, was er wissen musste. Hat g’stunken wie beim Schlachter. Damit hatte die Hausbesorgerin recht gehabt. Der unverwechselbare Gestank des Todes hing schwer und metallisch in der Luft.
Blut, Angstschweiß und drückende Hitze. Das war eine Kombination, die Emmerich nur zu gut kannte. Damals, an der Front, hatte er sie öfter erlebt, als ihm lieb gewesen war. Er hielt inne. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder im Schützengraben, hörte das Donnern der Granaten, spürte das Vibrieren ihrer Einschläge, sah die Leichenteile und die Fratzen der Männer, die vor lauter Grauen den Verstand verloren hatten. Mit einem Mal tauchte Luises Antlitz auf. Ihre Lippen waren blass, ihr Blick voller Wehmut. Er schloss die Augen, versuchte die Erinnerungen zu verscheuchen. »Gehen wir’s an«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Winter, und durchschritt die Küche.
Sein Assistent blieb dicht hinter ihm.
Das angrenzende Zimmer war ungefähr fünfzehn Quadratmeter groß und hatte ein schmales Fenster, das in den Innenhof mündete. Es war stickig und düster, obwohl draußen die Sonne strahlte.
Emmerich blieb in der Tür stehen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und er das Chaos, das sich vor ihm ausbreitete, erfassen konnte: ein umgestürzter Schrank, aus dem Kleider und Schuhe quollen, zerbrochenes Geschirr und aufgeschlitzte Matratzen. Mittendrin zwei tote Frauen. Eine lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, um ihren Kopf eine dunkle Lache aus getrocknetem Blut. Die andere saß in einer Ecke, das Kinn auf die Brust gesunken, die Beine ausgestreckt – wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren.
»Sieht aus, als wären sie erschlagen worden«, sagte Emmerich .
Winter hatte seinem Vorgesetzten über die Schulter geschaut. »Herr im Himmel«, murmelte er. Seine Stimme war gedämpft, da er sich ein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. »Dieser Gestank …«
»Wie oft soll ich es dir noch sagen?« Emmerich zog seinem Assistenten das Taschentuch vom Gesicht. »Wenn du bei Leib und Leben Karriere machen möchtest, dann musst du dich abhärten. Wie war das nochmal gleich mit dem Adel und der Disziplin?«
Winter würgte leise, während er angestrengt nickte. »Ist das die dritte?« Er deutete auf einen Vorhang, der aus der Halterung über dem Fensterrahmen gerissen worden war. Darunter zeichnete sich eine Silhouette ab.
»Welche dritte?«
»In der Meldung, die ich von Fräulein Grete erhalten habe, war von drei Opfern die Rede.« Winter wies auf den Boden. »Außerdem gibt es drei Matratzen und drei Garnituren Bettwäsche.«
»Tatsächlich.« Emmerich stieg vorsichtig über einen zersplitterten Stuhl und hob den Vorhang in die Höhe. Darunter entdeckte er ein zerbeultes Grammophon, aber keine weitere Leiche. »Die dritte Bewohnerin ist nicht hier.« Er sah sich um. Überall lagen Schallplatten und farbenfrohe Kleider verstreut, an den Wänden hingen Postkarten und Plakate. »Bunt und lebenslustig«, murmelte er und betrachtete das wilde Durcheinander. »Die jungen Dinger haben sich nicht kampflos ihrem Schicksal ergeben.«
Gefolgt von Winter verließ Emmerich den Raum, ging durch die Küche und trat zurück auf den Hausflur. »Die Wände sind dünn hier. Irgendwer muss doch gehört haben, was passiert ist. Warum hat denn keiner was gemacht? Warum hat ihnen keiner geholfen? «
Die alte Benisch, die die ganze Zeit neugierig an dem Uniformierten vorbei in die Wohnung gespäht hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn i mi wegen jedem Bahö aufregen würd, hätt i schon längst einen Herzkasperl kriegt. Hier im Haus ist’s fast immer laut. Auch in der Nacht. Eheleut streiten, Gschroppen plärren, Hundsviecher bellen … Die drei Luder waren auch ned immer die Ruhigsten. Die ham gern g’feiert und g’lacht und no ganz andere Sachen.« Sie nickte wissend. »I wohn direkt d’runter. Dauernd hat es g’rumpelt und g’pumpelt.«
»Und heute Nacht?«, fragte Emmerich ungeduldig. »Hat es da auch gerumpelt und gepumpelt?«
»Eh«, sagte sie. »Wie so oft halt. I hab drum mim Besen gegen die Decke klopft und kurz aufebrüllt, dann war a Ruh. I hab ja ned wissen können, dass …« Sie deutete in die Wohnung.
»Wann war das ungefähr?«
Sie überlegte. »Zwei? Drei? Jedenfalls zu einer unheiligen Zeit.« Ihr Blick blieb an der blutigen Schliere hängen. »Wer soll denn das jetzt bloß alles putzen?«, fragte sie erneut.
»Putzen?«, mischte Winter sich ein. »Halten Sie es für angemessen, in der gegebenen Situation …«
»Jetzt sag i Ihnen amal was, Sie feiner Herr.« Die Hausbesorgerin bedachte Winter mit einem abfälligen Blick. »Die gegebene Situation schaut so aus: Unsereins rackert sich von früh bis spät ab, und keinen interessiert’s, ob das angemessen is.« Sie schnaubte. »Die Sauerei da drin, die bleibt am End sicher wieder an mir hängen. Weil die drei werden ja schwer selber sauber machen können. Immer …«
»Der feine Herr hier neben mir ist immer noch ein Kriminalinspektor, und Sie sind jetzt einmal schön ruhig«, ging Emmerich dazwischen. »Es sind übrigens nur zwei Leichen. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo das dritte Fräulein sein könnte?«
»Nur zwei?« Roswitha Benisch kratzte sich am Kinn. »Wenn i mi recht entsinn, lag am Boden die Mizzi Proll. An der Wand lehnt die Traude Rechberger, und unter dem Vorhang …«
»… lag ein Grammophon«, vollendete Winter den Satz.
Benischs Miene hellte sich auf.
Emmerich vermutete, dass ihre Entzückung weniger dem Überleben der jungen Frau geschuldet war, als mehr der Tatsache, dass es nun doch jemanden gab, der die Wohnung putzen würde.
»Die Irina Novotny fehlt«, erklärte sie.
»Und?« Emmerich sah sie erwartungsvoll an. »Irgendeine Ahnung, warum diese Irina nicht hier ist? Irgendeine Ahnung, wo sie sein könnte? Irgendeine Ahnung, warum jemand die beiden anderen Fräulein umgebracht hat?«
»Woher soll i denn des alles wissen? Sie san doch von der Kieberei.«
»Erinnern Sie sich noch einmal an heute Nacht«, hakte Winter nach. »Jedes Detail kann hilfreich sein. Haben die Damen vielleicht etwas gerufen? Namen zum Beispiel.«
Die Hausbesorgerin wischte sich Schweißtropfen von der Oberlippe und überlegte. »I bin aufg’wacht wegen dem Gepolter«, erzählte sie. »I war no völlig verschlafen. Sie wissen eh: Der Kreislauf bei dera Hitz …« Als wolle sie ihre Worte untermauern, nahm sie den Stoff ihrer Kittelschürze und fächelte ihren stämmigen Beinen damit Luft zu. »I hab an die Decke ’klopft und aufe g’schrie’n, dann war a Ruh. Also bin i wieder eing’schlaf’n.«
»Das ist alles?«, ließ Winter nicht locker. »Zwei Frauen wurden brutal ermordet, eine dritte ist spurlos verschwunden.«
»Fragen S’ die Traxlers. Die wohnen direkt daneben.« Sie deutete auf eine Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Dahinter bewegten sich Schatten.
»Die sind als Nächstes dran«, sagte Emmerich laut. »Was waren die Opfer für Frauen?«, wandte er sich wieder an die Benisch. »Sie bezeichneten Sie vorhin als Luder.«
»Najo, wissen S’ eh. Jung, fesch, ledig. Immer aufg’mascherlt. Haben viel Parfüm und Schminke ’tragen, aber dafür umso weniger G’wand. Die haben die Wohnung am Nachmittag verlassen und sind oft erst in den frühen Morgenstunden heim’kommen. Manchmal ham s’ an Herrenbesuch dabeig’habt. In einer Fabrik oder einem Büro ham die sicher ned g’arbeitet.«
Emmerich verstand. Mehr Frauen als je zuvor mussten sich heutzutage als Prostituierte verdingen. Der Krieg hatte vielen Familien den Ernährer geraubt, und so sahen sich Tausende von Frauen aus allen Schichten und Milieus genötigt, das Geldverdienen zu übernehmen. Aus Mangel an Alternativen boten sich die meisten von ihnen auf den Gassen feil, oder sie arbeiteten in einschlägigen Lokalen. Selbst Beamtinnen, Offiziersgattinnen und verarmte Baronessen mussten ihre Körper verkaufen, um über die Runden zu kommen. »Haben die drei Fräulein auf der Straße gearbeitet oder in einem Etablissement?«
»Woher soll i das wissen? I bin eine anständige Frau. Mit so was hab i nix zu tun.«
Emmerich sah ein, dass er wohl nicht mehr aus der alten Benisch herausbekommen würde. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung«, wies er sie an und ging zur Tür der Familie Traxler .
Noch bevor er anklopfen konnte, wurde diese aufgerissen, und die verhärmte Frau von vorhin, jene mit dem Säugling, erschien im Türrahmen. Mittlerweile hatte sie ihren Busen wieder eingepackt und eine Schürze umgebunden. Hinter ihr standen, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, sechs weitere Kinder, die die beiden Polizisten mit großen Augen anstarrten. »Ich hab auch nix gehört«, sagte sie und gähnte demonstrativ. »Wissen Sie, wie anstrengend die G’fraster sein können?« Sie deutete auf die Kinderschar. »Wenn endlich alle a Ruh’ geben, schlaf ich so fest, dass man das Haus um mich herum abreißen könnt’, und ich würd’s nicht merken.«
»Da drüben wurden zwei Frauen ermordet. Es gab ganz offensichtlich einen Kampf«, begann Winter. »Sie können mir doch nicht erzählen, dass …«
»Warte, bis du Kinder hast«, unterbrach ihn Emmerich.
»Ich hab’ was gehört«, platzte es aus dem ältesten Kind heraus, einem etwa sechsjährigen Jungen mit strubbeligen roten Haaren.
»Ach ja?« Emmerich beugte sich zu ihm hinunter.
Der Junge nickte ernst. »Du depperte Fut.«
Winter riss die Augen auf, aber Emmerich tätschelte dem Kleinen ungerührt das Haar. »Das hast du dir aber gut gemerkt.«
Der Kleine strahlte.
»Die drei haben übrigens im La Belle gearbeitet«, sagte Frau Traxler, die das Lokal deutsch aussprach und jede Silbe einzeln betonte. »Drüben im Ersten, in der Naglergasse. Das waren eigentlich ganz nette Mädels. Manchmal ein bissl überdreht, aber als Nachbarinnen recht angenehm. Die Irina hat sogar ab und zu auf die Kleinen aufgepasst.«
»Irina Novotny. Wissen Sie vielleicht, wo sie abgeblieben ist? «
»Keine Ahnung.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich versteh das alles nicht. Die waren noch halberte Kinder. Die haben halt einfach von einem besseren Leben geträumt. Die wollten sicher niemandem was Böses. Die …«
»Kriminalinspektor Winter, adrett wie immer«, tönte da plötzlich die Stimme von Doktor Hirschkron durch den Flur. Der Gerichtsmediziner trug seine Arbeitskleidung, ein gestärktes Hemd, am Kragen eine Fliege, darüber einen dünnen weißen Arbeitsmantel. »Und Kriminalinspektor Emmerich.« Er ließ seinen Blick über Emmerich wandern, unter dessen Achseln sich mittlerweile tellergroße Schweißflecken gebildet hatten. »Auch wie immer.« Hirschkron lächelte und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Wie schön, dass zumindest manche Sachen in dieser schnelllebigen Zeit Bestand haben.«
Emmerich vermutete, dass der Gerichtsmediziner auf die neue Regierung unter Johann Schober anspielte. Unwillkürlich musste er an die unangenehme Begegnung mit dem jetzigen Bundeskanzler bei dessen Abschiedsfeier denken, die mittlerweile drei Wochen zurücklag. »Den beiden Fräulein da drin wäre es wohl auch lieber gewesen, alles wäre beim Alten geblieben«, lenkte er seine Gedanken wieder auf den Fall.
Er verabschiedete sich von Hirschkron, nickte der Nachbarin und deren Kindern zu und wandte sich anschließend an Winter. »Gehen wir’s an«, sagte er. »Wir haben einen Fall zu lösen.«