16
Als Winter auf die Straße trat, war er aufgekratzt und beunruhigt zugleich. Aufgekratzt, weil die Ermittlung endlich in Fahrt gekommen war. Beunruhigt, weil er nicht wusste, wie er die bevorstehende Befragung angehen sollte.
Die Luft flirrte, während er vom Polizeigebäude in Richtung Parlament ging. Kaffeehäuser und Konditoreien warben mit Eisbier und anderen Erfrischungen, denn wer in diesen Tagen nichts Kaltes anbieten konnte, der bekam von den Gästen die kalte Schulter gezeigt.
Winter ging den Ring entlang und versuchte der prallen Sonne auszuweichen, indem er im Schatten der Bäume blieb, die den Straßenrand säumten. Er passierte den mächtigen Universitätsbau und wenig später das Rathaus, hinter dem auch schon das Parlament zu erkennen war. Universität – Rathaus – Parlament, drei aus Stein gebaute Symbole, die für Gelehrsamkeit, bürgerliche Autonomie und Demokratie standen. Im Elend, das seit dem Großen Krieg herrschte, wirkten sie ein wenig aus der Zeit gefallen, denn sie repräsentierten ironischerweise den architektonischen Höhepunkt eines Kaiserreichs, das längst untergegangen war.
Einer, der genau wie Winter ein Relikt dieser Epoche darstellte, war Otto von Zabanyi, ein wichtiger Mann von altem Adel. Winter kannte ihn von früher. Der ehemalige Baron, der jetzt als politischer Berater seinen Lebensunterhalt
verdiente, war ein Freund seines verstorbenen Onkels gewesen.
Winter hatte Zabanyi als streng und elitär in Erinnerung, als einen stolzen Mann mit Prinzipien – umso schwerer fiel es ihm, ihn gleich mit dem zu konfrontieren, was Fräulein Gretes Kollegin in dem Notizbuch entdeckt hatte.
Als er sich der Auffahrt des Parlaments näherte, hörte er laute Rufe. »Uns, was uns gehört!«, skandierte eine Menschenmenge. »Wir haben geblutet, wir haben gelitten.« Ein hagerer Mann reckte seine Faust in die Höhe. »Und nun wollt ihr uns das Wenige vorenthalten, das uns zugestanden wurde«, brüllte er.
»Hier.« Eine junge Frau mit sonnenverbranntem Gesicht drückte Winter ein Flugblatt in die Hand. »Westungarn wurde uns Österreichern zugesprochen. Worauf wartet unsere verdammte Regierung denn noch? Uns, was uns gehört!«, schrie sie, und sofort fiel der Rest der Protestler mit ein.
Tatsächlich hatte der Friedensvertrag von Trianon festgelegt, dass der deutschsprachige Teil Ungarns an Österreich fallen sollte. Ungarn, das insgesamt fast zweiundsiebzig Prozent seines Staatsgebietes und rund fünfundsechzig Prozent seiner Bevölkerung an umliegende Staaten verloren hatte, zierte sich aber. Freischärler, die von ungarischen Aristokraten finanziert wurden, hielten das Gebiet besetzt und erwehrten sich jeglicher Versuche einer Landnahme durch Österreich.
Winter war Westungarn gerade ziemlich egal. Alles, woran er denken konnte, war Otto von Zabanyi. Achtlos steckte er das Flugblatt ein, drängte sich zwischen den Demonstranten hindurch und schritt an einem mächtigen Brunnen vorbei, in dem die steinerne Pallas Athene thronte
.
Abgesehen von der griechischen Göttin und der Hühnerarmee saß im Parlament nur eine Handvoll Frauen. Eine davon, die Nationalratsabgeordnete Adelheit Rupert, verließ gerade das Gebäude und wurde sofort von Protestlern umringt. Ein Wachmann wollte ihr zu Hilfe eilen, aber sie wies ihn ab und suchte stattdessen das Gespräch mit der aufgebrachten Menge.
Auch dafür hatte Winter gerade keine Augen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schritt er durch die große Eingangspforte und fand sich im Oberen Vestibül wieder. Die Verkleidung aus Stein- und Marmorplatten auf dem Boden sowie an den Wänden senkte die Temperatur spürbar, und die sieben Meter hohen Säulen aus Trientiner Marmor verliehen dem Raum etwas Sakrales. In Nischen über den Treppen standen Statuen griechischer Götter, die nach antiken Vorbildern angefertigt worden waren. Unter den strengen Blicken von Zeus und Poseidon trat Winter zum Portier.
»Entschuldigen Sie, ich müsste dringend mit Herrn Baron von Zabanyi sprechen.«
»Baron gibt’s nimmer und von schon gar ned«, murmelte der alte Mann. »Hams noch nie vom Adelsaufhebungsgesetz gehört?«
»Verzeihung.« Winter räusperte sich. »Ich muss dringend mit Herrn Zabanyi sprechen.«
»Geht’s ein bissl genauer? Hier geht es zu wie in einem Bienenstock, sehen S’ eh, wie viele Leute da raus und reingehen.«
»Ich weiß nur, dass Herr von … dass Herr Zabanyi als politischer Berater der Christlichsozialen Partei fungiert und laut Auskunft seiner Haushälterin heute hier sein soll.«
»Ah, jetzt weiß ich, wen Sie meinen. Der müsste im Plenarsaal sein.« Der Portier deutete auf ein großes Buch. »
Wenn Sie sich bitte ausweisen und hier eintragen würden, Herr …?«
»Winter. Ferdinand Winter.« Er präsentierte seine Marke. »Haben Sie vielen Dank.« Er orientierte sich kurz, durchschritt das Vestibül und das anschließende Atrium bis zu einer großen Tür, über der sich ein Friesgemälde befand, das die thronende Austria darstellte. Krieger schworen ihr kniend die Treue, Frauen brachten Opfergaben dar.
»Gut und Blut fürs Vaterland«, murmelte Winter und betrat das Herzstück des Gebäudes, einen lang gestreckten Zentralraum, dessen Glasdach von vierundzwanzig Marmorsäulen getragen wurde. Der Architekt des Parlaments, Theophil Hansen, hatte die imposante Halle als einen Ort der Begegnung geplant – und genau zu dem hatte sie sich auch gemausert.
Eine Vielzahl von Männern stand in kleinen Grüppchen zusammen, hitzige Diskussionen vermischten sich zu einem aufgeregten Stimmengewirr. Wahrscheinlich war gerade eine Nationalratssitzung zu Ende gegangen, und Winter konnte sich vorstellen, dass die Arbeitslast dieser Tage besonders groß war, da die Sommerpause kurz bevorstand.
»Finanzausschuss«, schnappte er auf, »Preisstaffelungsgesetz«, »Vertrag von Trianon«. Als ein englischer Akzent an sein Ohr drang, fühlte er sich für einen kurzen Moment ins
La Belle
zurückversetzt.
Fragend sah er sich um, und endlich entdeckte er den Ausländer. Er war Anfang fünfzig und sprach mit keinem Geringeren als Bundeskanzler Johann Schober höchstpersönlich. Winter kannte sein Bild aus der Zeitung: Es war Arthur Hugh Frazier, der gegenwärtige Kommissär der Vereinigten Staaten in Wien. Er hatte den Habitus eines »
American Sportsman«. Frazier wirkte kühl und gemessen und besaß eine Statur, die auf Leibesübungen schließen ließ. Die Hornbrille, die er trug, verlieh ihm intelligente Züge und einen durchdringenden Blick.
»Frazier«, zischte eine Stimme. »Die verdammten Alliierten sollen sich endlich aus unseren Angelegenheiten heraushalten.«
»Genau«, erwiderte ein anderer. »Die Amerikaner sind nicht besser als die Franzosen und Italiener. Die sind bloß hier in Wien, um es sich mit ihren kaufkräftigen Devisen gut gehen zu lassen. Wie die Maden im Speck leben sie. Die sind schlimmer als die Schleichhändler und Schieber und das ganze zwielichtige Gesindel.«
Als wäre der letzte Begriff ein Stichwort gewesen, tauchte direkt vor ihm ein bekanntes Gesicht auf. Winter erkannte ihn sofort an seinem haifischartigen Grinsen. Veit Kolja.
»Was tust du denn hier?« Kolja legte den Kopf schief und musterte ihn, dabei blieb sein Blick an Winters Manschetten hängen, die dieser notdürftig mit je einem Gummiband und zwei Büroklammern verschlossen hatte.
Schnell verschränkte Winter die Arme hinter dem Rücken. »Dasselbe könnte ich Sie auch fragen.«
»Ich tue das, was ich immer tue.« Koljas Grinsen wurde noch breiter. »Ich kümmere mich um das Land und seine Menschen.«
Winter riss die Augen auf. »Sagen Sie nicht, dass Sie im Nationalrat sitzen?«
Kolja ignorierte die Frage und blickte über Winters Schulter. »Ausnahmsweise mal ganz ohne Kindermädchen unterwegs?« Demonstrativ sah er sich um. »Oder haben sie ihn nicht hereingelassen wegen der Sache mit Schober. Ach nein.« Theatralisch klatscht er sich gegen die Stirn. »Jetzt
fällt es mir wieder ein.« Er konnte seine Belustigung kaum verbergen. »Emmerich muss ja wieder die Schulbank drücken.«
»Woher …«
»Solche Dinge machen die Runde. Also, was machst du hier?« Kolja hörte auf zu grinsen und betrachtete Winter mit demselben abschätzigen Blick, wie es gestern der Impresario im
La Belle
getan hatte.
»Ich …«, setzte Winter an, hielt dann aber inne. »Wissen Sie was?«, sagte er. »Ich schulde Ihnen keine Erklärung. Ich bin kein dummer Junge, sondern ein Staatsdiener.«
»Genauso wie ich. Wie du bereits richtig geraten hast, bin ich seit Kurzem Nationalratsabgeordneter.« Kolja weidete sich an Winters konsterniertem Gesichtsausdruck.
»Was sind das nur für Zeiten«, seufzte der. »Verbrecher lenken den Staat.«
Kolja grinste wieder sein Haifischgrinsen. »Das war doch schon immer so. Der einzige Unterschied zu früher ist der, dass es damals lauter blaublütige Verbrecher waren. Sind wir doch mal ehrlich: Das, was euch feine Pinkel am Allermeisten stört, ist die Tatsache, dass Männer wie ich Männern wie dir den Rang abgelaufen haben. Ihr könnt es nicht ertragen, dass es heutzutage um Talent geht und nicht mehr nur um Herkunft.«
»Ich würde Skrupellosigkeit nicht als Talent bezeichnen.«
»Darüber lässt sich streiten.« Kolja runzelte die Stirn. »Du kleiner Moralapostel bist aber sicher nicht hergekommen, um mir einen Vortrag zu halten.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich wette, du bist hier, um jemanden zu verhaften oder zumindest zu befragen.«
»Das geht Sie …«, setzte Winter an, doch Kolja ließ ihn nicht ausreden
.
»Einer von meinen werten Herrn Kollegen hat etwas ausgefressen.« Sein Gesicht begann zu leuchten. »Raus mit der Sprache. Wer ist es?«
Winter unterdrückte den Drang, sich zu erklären. Stattdessen schüttelte er den Kopf und ließ Kolja einfach stehen.
»Die Männer sind alle Verbrecher«, sang Kolja ihm leise hinterher. »Ihr Herz ist ein finsteres Loch. Die Männer sind alle Verbrecher, aber lieb, aber lieb sind sie doch.«
Sein Lachen hallte noch in Winters Ohren, während er sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren versuchte.
Er ging durch die Menge und schaffte es endlich, Zabanyi auszumachen. Er erkannte ihn sofort an seinem Backenbart, der eine frappierende Ähnlichkeit mit jenem von Kaiser Franz Josef I. aufwies. »Verzeihung«, sprach ihn Winter an. »Ich müsste kurz mit Ihnen reden.«
»Ja bitte, Herr …?«
Winters Körper straffte sich. »Ferdinand …« Er zögerte kurz. »Ferdinand von Winter. Sicher erinnern Sie sich an meinen Onkel Leopold, möge Gott seiner Seele gnädig sein.«
»Der kleine Ferdinand.« Zabanyis Gesicht hellte sich auf. »Natürlich erinnere ich mich. Das mit deinem Onkel tut mir sehr leid. Die Spanische Grippe im letzten Kriegsjahr, nicht wahr? Was führt dich zu mir?«
Winter war erleichtert, der Anfang war gemacht. Er sah sich um und senkte die Stimme. »Das würde ich gerne unter vier Augen besprechen.«
Zabanyi zögerte, als ein Mann, der eine Dokumentenmappe in der Hand hielt, beflissen auf ihn zukam.
»Herr Doktor Zabanyi, es wäre dann alles für die Unterredung vorbereitet.
«
Zabanyi wandte sich an Winter. »Es tut mir sehr leid, Ferdinand.« Er deutete nach links, auf die Tür, die in das Vorzimmer des Sitzungssaals führte. »Vielleicht ein anderes Mal.« Er wandte sich zum Gehen.
Winters Herzschlag beschleunigte sich, er musste etwas tun, und zwar hier und jetzt und schnell. Mit wenigen Schritten war er wieder bei Zabanyi. »Es ist dringend.« Er präsentierte seine Polizeimarke. »Es geht um Fräulein Novotny. Irina Novotny.«
Zabanyis Blick blieb an der Marke hängen. »Novotny? Kenne ich nicht. Du musst mich mit jemandem verwechseln. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest.«
Winter wurde unsicher. Was, wenn er sich irrte? Es war kein Kavaliersdelikt, einen ehrenhaften Mann solcher Dinge zu beschuldigen, wie er es tun musste – zumindest nicht in seiner Welt. Emmerich sähe das sicher ganz anders, doch Emmerich war nicht hier.
Er sprach sich selbst Mut zu und eilte Zabanyi hinterher. »Sie hat alles festgehalten«, sagte er und zog das Notizbuch aus seiner Jacke. »19210615 0700a Priv OvZ Aupe StiLe«, las er wahllos einen Eintrag vor. »Das steht für 15. Juni 1921, 7 Uhr abends. Privat. OvZ, steht für Sie: Otto von Zabanyi.«
»OvZ kann für vieles stehen.«
Damit hatte er wohl recht, doch Grete und ihre Kolleginnen hatten ganze Arbeit geleistet. Von Emmerich lapidar als »Hühnerarmee« bezeichnet, waren die emsigen Fräuleins es, die den Betrieb bei der Polizei aufrechterhielten. Sie waren ein kleiner Ameisenstaat, der Tag und Nacht Informationen sammelte, sie ordnete und an die richtigen Stellen weitergab.
Einer Sekretärin aus der Sitte waren die Abkürzungen in dem Notizbuch bekannt vorgekommen. Mit ihrer Hilfe war
es ein Leichtes gewesen, den Code zu knacken. »Priv« stand für »privat«, »LB« für das »La Belle« und »Par« für eine Örtlichkeit namens »Paradies«. Bei der nächsten Spalte handelte es sich um die Initialen von Irinas Kunden. Die Fräuleins aus dem Meldeamt hatten Übermenschliches geleistet und innerhalb kürzester Zeit sämtliche potenziellen Kandidaten herausgefiltert. Die Vielzahl von Namen hatten sie nach Alter, Geschlecht und geschätztem Einkommen geordnet. Bei den anderen Anfangsbuchstaben kamen einige Herren infrage – unter anderem ein Chefredakteur, ein Bankdirektor und ein Richter –, doch OvZ ließ nur einen sinnvollen Rückschluss zu: Otto von Zabanyi.
»In der Spalte daneben«, ging Winter nicht auf Zabanyis Einwand ein, »hat Irina Novotny aufgeschrieben, welche sexuellen Handlungen sie durchgeführt hat«. Allein der Gedanke daran trieb ihm die Röte ins Gesicht. Kein Wunder, dass Fräulein Grete vor Scham beinahe im Boden versunken war.
Winter hatte bis heute nie darüber nachgedacht, womit sich die Hühnerarmee tagtäglich beschäftigen musste. Die meisten von ihnen waren junge, unschuldige Frauen – oft sogar höhere Töchter –, die frisch von der Sekretärinnen-Schule kamen. Es war sicher schwer für sie, mit den Abscheulichkeiten klarzukommen, denen sie beim Abtippen von Zeugenaussagen, Gerichtsprotokollen und Obduktionsbescheiden ausgesetzt waren.
Er stockte kurz, dann überwand er sich und flüsterte: »Aupe und StiLe«, er zögerte und bekam heiße Ohren. »Das steht für Auspeitschen und Stiefellecken.« Erleichtert atmete er auf, als ihm die Worte endlich über die Lippen gekommen waren.
»Was fällt dir ein?«, zischte Zabanyi und sah sich hektisch
um. »Ich werde mich bei deinem Vorgesetzten beschweren.« Sein Gesicht war knallrot angelaufen, die Adern an seiner Schläfe schwollen an.
»Herr Doktor Zabanyi, die Unterredung«, drängte der Mann mit der Dokumentenmappe.
»Einen Augenblick, jetzt urgieren Sie doch nicht so! Ich muss hier noch etwas klären.« Zabanyis Tonfall war ungehalten, fast schon aggressiv. Er zog Winter zur Seite. »Gib mir das«, forderte er und streckte seine Hand nach dem Notizbuch aus.
»Das ist ein Beweisstück.« Winter hielt es aus Zabanyis Reichweite. »Wo waren Sie in der Nacht von Montag auf Dienstag?«
»Jedenfalls nicht bei Irina. Wir haben uns nur zweimal im Monat gesehen. Am ersten und am fünfzehnten.«
»Das weiß ich bereits. Über Ihre Zusammenkünfte steht alles da drinnen.« Winter hatte seine liebe Mühe, nicht das Attribut »pervers« in den Mund zu nehmen. »Also, wo waren Sie?«
»Daheim.« Erneut streckte Zabanyi seine Hand aus. »Gib mir das. Wenn das publik wird …« Seine Wut war jetzt Verzweiflung gewichen. »Ich bin politischer Berater, ein Mann von Ehre. Das wäre ein Skandal, nicht auszumalen.«
»Hat Irina Sie erpresst? Sie und die anderen?« Winter dachte an die Liste aus dem Meldeamt, die potenziellen Kandidaten. Männer von Rang. Männer mit Familien. Männer, die wahrscheinlich sehr daran interessiert waren, dass ihre Vorlieben nie an die Öffentlichkeit gelangten.
»Mich zumindest nicht. Sie ist ja nicht blöd und vergrault sich die Kundschaft. Sie verdient genug mit ihren Diensten.« Zabanyi starrte auf das Notizbuch. »Woher hast du das überhaupt?
«
»Ich darf nicht über eine laufende Ermittlung reden. Erzählen Sie mir alles, was Sie über Irina und ihre Mitbewohnerinnen wissen.«
Zabanyi zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich über die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. »Über Irina weiß ich so gut wie nichts. Ich habe sie ja nicht getroffen, um mit ihr zu reden.«
»Und ihre Mitbewohnerinnen? Mizzi Proll und Traude Rechberger?«
»Noch nie gehört. Ich wusste bis jetzt noch nicht mal, dass sie Mitbewohnerinnen hat.« Zabanyi schien sich wieder halbwegs gefangen zu haben. »Was ist denn eigentlich los?«
»Wie bereits gesagt, ich darf nicht über eine laufende Erm …«
Plötzlich riss Zabanyi die Augen auf. »Geht es etwa um die beiden ermordeten Frauen in der Brigittenau? Ich habe in der Zeitung darüber gelesen. Wurde Irina auch …«
»Nein. Irina ist verschwunden. Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wo sie sein könnte?«
Zabanyi schüttelte den Kopf. »Die haben zu dritt gelebt«, überlegte er laut. »Die beiden Mitbewohnerinnen wurden umgebracht, und Irina hat sich in Luft aufgelöst.«
»Lassen Sie die Ermittlung meine Sorge sein.«
»Solange das da«, Zabanyi zeigte auf das Notizbuch in Winters Hand, »solange das da nicht vernichtet wird, ist es auch meine Sorge. Wem hast du von der Sache erzählt? Wer außer dir weiß noch davon?«
»Mein Vorgesetzter … Ach, vergessen Sie’s«, winkte Winter ab. »Hören Sie. Die Informationen sind bei mir in guten Händen. Ich verspreche, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um Ihr drecki … Ihr Geheimnis und das der
anderen Männer zu wahren.« Um sein Versprechen zu unterstreichen, steckte er das Notizbuch ein.
Zabanyi blähte die Nasenflügel und schnaubte.
»Herr Zabanyi«, quengelte der Mann mit der Dokumentenmappe noch einmal. »Ihre Unterredung.« Demonstrativ hielt er seine Taschenuhr in die Höhe.
»Sofort«, rief Zabanyi und wandte sich noch einmal an Winter. Er schien mit sich zu ringen, schien etwas abzuwägen. »Wegen Irina …«, sagte er schließlich. »Versuch’s im
Paradies
. Wenn Sie sich irgendwo verborgen hält, dann dort. Weißt du, wie man hinkommt?«
Winter schüttelte den Kopf.
»Das wundert mich nicht.« Zabanyi erklärte ihm den Weg. Offenbar lag dieses »Paradies« außerhalb der Stadt, in der Nähe des Hameau, einer Anhöhe mitten im Wienerwald.
»Das klingt reichlich mysteriös«, sagte Winter.
Zabanyi wirkte plötzlich wieder besser gelaunt. »In der Tat, Ferdinand, in der Tat. Das
Paradies
ist ein Ort voller Spektakel und Wunder. Viel Glück.« Er eilte davon, blieb nach ein paar Schritten aber stehen und kam noch einmal zurück. »Es gibt zwei Losungen«, erklärte er. »Die erste lautet: Panem et circenses.«
»Brot und Spiele«, erinnerte sich Winter zurück an den Lateinunterricht. »Und das zweite?«
»Memento mori.« Zabanyi klopfte Winter auf die Schulter, drehte sich um und verschwand im Vorzimmer des Sitzungssaals.
»Memento mori«, murmelte Winter und blickte ihm hinterher. »Bedenke, dass du sterblich bist.«