32
Emmerich und Winter eilten die Rampe hinauf, die zum Eingang des Parlaments führte. Als sie das prunkvolle Vestibül betraten, wurden sie von zwei uniformierten Wachmännern aufgehalten, die einer Gruppe von Abgeordneten vorangingen.
Emmerich erkannte den Bundeskanzler, der gerade in ein Gespräch vertieft war. »Herr Schober«, zischte er, winkte und machte einen Schritt.
Sofort packten ihn die Wachebeamten an den Oberarmen und hielten ihn fest.
Auf Emmerichs Schläfen schwollen die Adern. »Lassen Sie mich durch, ich muss mit ihm reden!«
»Mit ihm? Mit Herrn Schober?« Der Uniformierte schnaubte. »Das heißt immer noch Herr Bundeskanzler.« Sein Griff wurde stärker, und der zweite Mann fasste an sein Holster.
»Österreich und seine Titelmanie«, grummelte Emmerich. »Kommen wir denn nie darüber hinweg?«
»Sie können den Herrn Bundeskanzler jedenfalls nicht einfach so ansprechen. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«
Die Gespräche unter den Abgeordneten verstummten, alle Augen richteten sich auf die beiden Polizisten.
»Worum geht es denn?«, fragte einer der Politiker.
»Ähm, also …«, stammelte Winter .
»Ich brauche eine Wohnung!«, rief Emmerich. »Es kann ja wohl nicht sein, dass ein treuer Staatsdiener bald mit drei kleinen Kindern auf der Straße sitzt.«
Jetzt war auch Schober auf ihn aufmerksam geworden, seine Miene wurde ernst. »Schon gut«, wies er die Wachbeamten an. »Lassen Sie ihn durch.« Er murmelte etwas von wegen »Volksnähe« und wandte sich an die Gruppe. »Meine Herren, wir diskutieren später weiter. In punkto Gewerbeinspektion ist das letzte Wort sicherlich noch nicht gesprochen.«
Die Männer verabschiedeten sich und verließen das Gebäude, nur die beiden Uniformierten blieben einige Meter von Schober entfernt stehen.
»Ich habe etwas über das Attentat herausgefunden«, flüsterte Emmerich. »Wir müssen sofort handeln.«
Schober sah sich um und deutete auf eine der großen Säulen vor dem Eingang des Parlamentsgebäudes. »Ich verstehe Ihr Problem«, sagte er laut. »Das Thema Wohnraum ist tatsächlich ein äußerst dringliches.« Als er sicher war, dass niemand sie belauschte, senkte er seine Stimme. »Richard Loos ist tot. Ich habe es schon vernommen. Waren Sie es, der den Mörder verhaftet hat?«
Emmerich nickte. »Es stecken aber noch mehr Leute dahinter. Und es geht nicht nur um Ihren Tod, es geht um viel mehr. Und zwar um Karl Habsburg«, fackelte er nicht lange. »Unser ehemaliger Kaiser will erneut versuchen, den Thron zu besteigen.«
Schober schien ehrlich überrascht. »Sind Sie sicher? Das Evidenzbüro hat einen Maulwurf in Habsburgs Schweizer Haushalt, der seine gesamte Korrespondenz überwacht. Soweit ich informiert bin, gab es seit dem letzten Restaurationsversuch keine auffälligen Nachrichten. «
Winter, der den beiden gefolgt war, hielt Schober die Zeitungen hin. »Die Beteiligten haben sich über chiffrierte Inserate unterhalten.«
Schober nahm die Zeitungen, zog eine Augenbraue hoch und musterte Emmerich. »Es stimmt also tatsächlich, was man über Sie sagt. Sie sind so effizient wie ungehobelt.« Er schlug den Anzeigenteil auf und betrachtete die Zahlenreihen. »Sie konnten den Code entschlüsseln?«
»Ja, also, in erster Linie mein Kollege hier.« Emmerich zeigte auf seinen Assistenten. »Und wenn wir die Botschaften richtig gedeutet haben, sollen Sie ermordet werden, und zwar morgen. Reichsverweser Horthy drüben in Budapest soll wahrscheinlich Ihr Schicksal teilen. Wir glauben, dass die Verschwörer das daraus entstehende Chaos nutzen wollen, um mithilfe der westungarischen Freischärler die Monarchie zu reinstallieren.«
Schober schnaubte verächtlich. Es war das erste Mal, dass er seine Fassade kurz fallenließ und eine echte menschliche Regung zeigte. »Wer steckt dahinter?«
»Höchstwahrscheinlich Zabanyi. Otto Zabanyi aus dem Beraterstab der Christlichsozialen. Ein ehemaliger Baron mit guten Verbindungen nach Ungarn.«
»Zabanyi«, presste Schober hervor.
Emmerich holte seine Zigaretten aus der Hosentasche und zündete eine davon an. »Zabanyi stammt aus hohem Adel und weint wahrscheinlich seinen Privilegien hinterher.« Er nahm einen Zug und ließ den Rauch durch die Nase entweichen. »Der Kerl hat wohl an der Italienfront im Edelweißkorps unter Karl Habsburg gedient und ist ihm deshalb noch immer sehr verbunden.«
Schober winkte einen der beiden Uniformierten, die sie nach wie vor beobachteten, zu sich. »Schauen Sie, ob Heeresminister Reinmann noch hier ist. Wenn ja, holen Sie ihn.«
»Reinmann?« Der Mann schien überrascht.
»Ja, Sie wissen schon. Wohnungsnot, Kasernen als Unterkünfte und so weiter.«
Emmerich wartete, bis der Mann im Inneren des Parlaments verschwunden war. »Wir wissen nicht, wie viele Menschen an der Verschwörung beteiligt sind«, flüsterte er. »Wir haben auch keine Ahnung, wie und wo genau die Sie töten wollen. Alles, was wir wissen, ist, dass es morgen passieren soll. Bis dahin seien Sie auf der Hut. Am besten, Sie ziehen sich an einen sicheren Ort zurück und teilen niemandem mit, wo Sie sich aufhalten.«
»Ich kann mich doch nicht verstecken wie ein feiger Hund. Was sendet das für ein Signal?«
»Dass Sie am Leben hängen.«
»Hören Sie, Inspektor Emmerich, ich war im Krieg. Ich habe an der Front gedient, wo Millionen von Männern das höchste Opfer für das Vaterland gebracht haben. Und jetzt soll ich mitten in wichtigen Verhandlungen einfach von der Bildfläche verschwinden? Wie ein mieser Feigling?«
»Sie sind inzwischen Bundeskanzler, Sie sind dem Volk und der Demokratie verpflichtet. Das Land braucht Sie, und zwar lebend.«
Schober schüttelte energisch den Kopf. »Wenn ich mich verstecke, haben die Verräter schon gewonnen. Es muss eine andere Lösung geben. Ich werde Horthy warnen und meinen Personenschutz aufstocken. Finden Sie in der Zwischenzeit die Verschwörer und nehmen Sie sie fest.«
»Wie soll ich das anstellen? Wir können niemanden einweihen, und Beweise haben wir auch keine. Alles, was wir haben, sind vier Zeitungen, eine alte Aktentasche und eine Vermutung. «
»Was ist mit dem Mann, der Loos ermordet hat? Diesem Pötzlein?«
»Der Kerl schweigt wie ein Grab.« Emmerich sah Schober eindringlich an. »Um dieses Problem zu lösen, gäbe es aber Mittel und Wege«, machte er eine kryptische Andeutung. »Wenn Sie mir die Erlaubnis erteilen …«
Schober schüttelte energisch den Kopf. »Haben Sie denn in dem Kurs gar nichts gelernt?«
»Ich fürchte nicht«, murmelte Winter aus dem Hintergrund.
»Dann lassen Sie es mich Ihnen erklären.« Schober zwirbelte die Enden seines Schnurrbarts. »Es ist eine neue Zeit angebrochen. Dinge haben anständig abzulaufen, wir halten uns an Regeln und Gesetze.« Er wurde lauter. »Alles muss seine Richtigkeit haben – besonders in dieser Angelegenheit, da wir uns nicht sicher sein können, dass Zabanyi wirklich dahintersteckt. Haben Sie verstanden? Ich verbiete Ihnen jegliche Übertretung des Gesetzes. Wenn ich etwas Illegales autorisiere und meine politischen Gegner bringen das irgendwann ans Tageslicht, dann sind ich und mein Amt für immer schwer beschädigt.«
»Wenn wir die Attentäter nicht finden, sind Sie das morgen auch. Vielleicht nicht moralisch, aber körperlich auf jeden Fall.«
Schober schüttelte den Kopf. »Es bleibt dabei.«
»Da soll noch einmal jemand sagen, ich sei stur.« Emmerich nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf den Stummel auf den Boden. »Wie Sie meinen. Es ist Ihr Leben.« Er wandte sich zum Gehen. »Genau das ist es, was ich damals im Juni meinte …«, murmelte er in Richtung Winter.
»Halt«, stoppte Schober ihn. »Was meinten Sie damals? «
»Ach nichts«, winkte Emmerich ab. »Ich habe weder Lust noch Zeit, schon wieder zu einem Disziplinarkursus verdonnert zu werden.«
Schober schnaubte. »Bleiben Sie stehen: raus mit der Sprache.«
»Wie Sie meinen.« Emmerich trat nahe an Schober heran. »Sie handeln völlig unpraktisch und weltfremd. Ihr Leben steht auf dem Spiel, die Zukunft der Republik – und Sie wollen, dass ich mich an Gesetze und Vorschriften halte.«
»Diese Gesetze und Vorschriften, die Sie so verabscheuen, sind wichtig. Wenn wir sie einfach ignorieren, können wir gleich die Seite wechseln. Dann sind wir um nichts besser als die kriminellen Subjekte, die gerade mir und Horthy und damit der Demokratie den Todesstoß versetzen wollen. Außerdem ist Zabanyis Schuld nicht bewiesen. Solange Sie nicht mit konkreten Beweisen auftauchen, gilt für Sie der Grundsatz des Strafrechts, und der lautet nun mal: in dubio pro reo
Bevor Emmerich widersprechen konnte, trat plötzlich Reinmann zu ihnen. »Du hast nach mir geschickt, Johann?«
Schober setzte an, etwas zu sagen, doch Emmerich nahm ihn zur Seite. »Können Sie ihm trauen?«, flüsterte er.
Ungeduld sprach aus Schobers Augen. »Hören Sie endlich auf, andauernd meine Kompetenz infrage zu stellen.« Er machte sich los, ging zu Reinmann und begrüßte ihn mit Handschlag.
Reinmann musterte Emmerich. »Kann es sein, dass wir uns kennen? Ich habe Sie doch schon irgendwo einmal gesehen.«
Emmerich zuckte zusammen. Er hatte überhaupt keine Lust, dem Minister zu gestehen, dass er einer der Männer aus dem Disziplinarkursus war, den Reinmann ja kurz besucht hatte. »Ach, das passiert mir dauernd«, sagte er leichthin. »Wahrscheinlich habe ich ein Allerweltsgesicht.«
»Hör zu, Jodok.« Schober senkte die Stimme. »Wir haben ein ernsthaftes Problem. Wie es aussieht, will Karl Habsburg einen erneuten Restaurationsversuch unternehmen. Die Monarchisten wollen morgen Horthy und mich ausschalten und das Chaos nutzen, um ihn wieder auf dem Thron zu installieren.«
»Was?!« Reinmann schüttelte den Kopf. »Das ist ja völliger Wahnsinn. Geben diese Irren denn nie auf? Weißt du schon, wer dahintersteckt?«
Schober nickte und legte eine Hand auf Reinmanns Schulter. »Höchstwahrscheinlich Otto Zabanyi.«
»Zabanyi?« Reinmann sah ihn entgeistert an und rang nach Worten. »Das kann nicht sein. Nie und nimmer. Wer setzt denn solch infame Gerüchte in die Welt?« Empört sah er Emmerich an, der den Blick mit einem Schulterzucken erwiderte. »Zabanyi ist ein guter Mann, einer meiner engsten Vertrauten«, sagte er zu ihm. »Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer. Kennen Sie überhaupt seine Verdienste um die Industrie und um Österreichs Geschäfte mit Ungarn?«
»Wissen Sie auch, welchen Umgang er privat pflegt, außerhalb der Dienstzeiten? In welchen Etablissements er verkehrt?«
»Was geht mich Zabanyis Privatleben an?«, empörte sich Reinmann. »Beruflich habe ich jedenfalls nie schlechte Erfahrungen mit ihm …«
»Das mag schon sein«, unterbrach Schober ihn. »Aber die Beweise sprechen eine andere Sprache.«
Reinmann schwieg und nestelte an seiner Krawatte herum. »Normalerweise bin ich ein Menschenkenner«, grübelte er laut .
»Wahrscheinlich hat der Kerl dir bewusst etwas vorgemacht. Gut möglich, dass alles von langer Hand geplant war.« Schober klopfte Reinmann mit der Hand auf die Schulter. »Außerdem ist es nicht zu einhundert Prozent sicher.«
»Aber zu neunundneunzig«, brachte Winter sich in das Gespräch ein.
»Inspektor Emmerich und sein Assistent werden versuchen, ihre Theorie zu beweisen, die Identitäten sämtlicher Attentäter zu eruieren und sie unschädlich zu machen. Bitte sei so gut und unterstütze sie, wo auch immer es dir möglich ist. Zabanyi vertraut dir. Mit deiner Hilfe können sie es schaffen.«
»Inspektor Emmerich.« Reinmann musterte ihn erneut. Mit einem Mal trat ein spöttisches Lächeln auf seine Lippen. »Jetzt fällt mir ein, woher wir uns kennen. Sie waren im Disziplinarkursus in der Schwarzenbergkaserne. Sie sind der Kerl, der Johann bei der Abschiedsfeier beleidigt hat.« Er wandte sich an Schober. »Wie kommst du ausgerechnet auf ihn?«
»Lange Geschichte«, winkte der Bundeskanzler ab. »Jedenfalls ist er vertrauenswürdig und effizient. Einer der Besten. Dafür können wir über den Vorfall im Juni hinwegsehen.«
Reinmann überlegte, dann ging er einen Schritt auf Emmerich zu. »Wie viele Männer brauchen Sie?«, fragte er. »Ich kann Ihnen meine besten …«
Emmerich schüttelte den Kopf. »Wir dürfen niemandem vertrauen. Wenn die Verschwörer gewarnt werden, könnten sie sämtliche Beweise vernichten, oder, was noch schlimmer wäre, vorzeitig zuschlagen.«
»Haben Sie einen Plan? «
»Wir müssen unauffällig vorgehen.« Emmerich überlegte. »Verschaffen Sie mir Zutritt zu Zabanyis Haus. Wenn ich mich dort umsehen kann, finde ich vielleicht irgendwelche stichhaltigen Beweise.«
Reinmann lächelte und sah auf seine Uhr. »Nichts leichter als das.« Er musterte Emmerich und Winter. »Der junge Mann kann so bleiben, aber Sie … Sie werden sich umziehen müssen.«