Nach weniger als einer Meile verfluchte ich meine eigene Dummheit und stoppte.
Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten uns alle Arten von Wetter beschert – von Schnee und Regen in den Bergen bis zu trockener Hitze, die uns hier begrüßte, als wir im Camp ankamen. Die ganze Nacht über wehte ein heftiger Wind, der an den Seiten unseres Zeltes zerrte, und als ich aufstand, war die Temperatur niedriger als je bei einem Start.
Mir machte das zu schaffen. Ich hatte mich auf den Tag gefreut, weil ich wusste, dass es nun flacher und heißer werden würde. Stattdessen fand ich mich bibbernd an der Startlinie wieder. Während die anderen Läufer ihre routinemäßigen Vorbereitungen für das Rennen trafen, warf ich meinen Rucksack ab, wühlte darin herum und zog meine leichte Jacke heraus, womit ich meinen präzise und sorgfältig vorbereiteten Start über den Haufen warf.
Und erneut ging es los. Nach wenigen Minuten kam die Sonne hervor, und die Temperatur stieg an. Ich hätte froh darüber sein sollen, aber ich merkte schon, wie ich mich in dem feuchten Regenzeug überhitzte. Es lag ein fünf Stunden langer harter Langlauf vor mir. Ich hatte also keine andere Wahl. Ich musste stoppen.
Als ich mit den Reißverschlüssen und Plastikclips beschäftigt war und die Jacke wieder verpackte, sah ich Tommy, Julian und zwei weitere Teilnehmer vorbeilaufen und die Führung übernehmen.
Dann tauchte noch ein Läufer auf, und ich musste lächeln.
»Hey, Gobi«, sagte ich und nannte sie bei dem Namen, den ich ihr am Abend zuvor gegeben hatte. »Du hast es dir wohl anders überlegt, was?«
Sie hatte die Nacht eingerollt an meiner Seite verbracht, aber als ich mich am Morgen zur Startlinie begab, war sie in der Menge der Läufer verschwunden. Ich war zu sehr mit den Witterungsverhältnissen beschäftigt, um mich um sie zu kümmern. Außerdem hatten mich die letzten vierundzwanzig Stunden gelehrt, dass sie ein zu allem entschlossenes kleines Ding war. Und wenn sie sich für den Tag etwas anderes vorgenommen hatte, wer war ich denn, sie davon abzuhalten?
Aber Gobi war da, sah zu mir hinauf, wie ich meinen Rucksack umschnallte, blickte auf meine gelben Überschuhe und war startbereit. Und das war ich auch.
Ich legte mich ordentlich ins Zeug, um zur Spitzengruppe aufzuschließen, und bald war ich an ihnen dran. Ich wusste, dass es einen langen Abschnitt des Rennens gab, der durch eine Strecke führte, die mit dicken Felsbrocken übersät war, und erinnerte mich daran, wie flink Julian gewesen war, als wir am ersten Tag auf ein ähnliches Terrain trafen. Ich hatte keine Lust, ihn erneut davonziehen zu sehen, und so legte ich einen Zahn zu, zog am Vierten und Dritten vorbei und überholte dann Julian und Tommy.
Es fühlte sich gut an, wieder vorne zu liegen. Ich spürte die Stärke in den Beinen und hielt den Kopf oben. Ich konnte hören, wie mein Vorsprung vor den anderen Läufern mit jeder Minute größer wurde. Ich war gerüstet, eine harte Gangart zu gehen, und wann immer ich zu schwächeln drohte, brauchte ich bloß einen kurzen Blick hinunter auf Gobi zu werfen. Sie hatte keine Ahnung von Lauftechnik oder der Strategie eines Rennens. Sie wusste nicht einmal, wie weit ich an diesem Tag zu laufen hatte. Sie lief unbeschwert. Sie lief, weil sie dafür geschaffen war.
Ich folgte den rosafarbenen Streckenmarkierungen auf dem Weg zum Abschnitt mit den Felsbrocken. Der ebene Pfad bog rechts ab, aber die Markierungen zeigten geradeaus über große Steine hinweg, die aussahen, als böten sie keinen Halt, und es damit nahezu unmöglich machten, irgendein Tempo aufzunehmen. Aus dem Weg gehen konnte man ihnen jedoch nicht, und so kletterte ich drauflos, wobei ich merkte, wie die kleineren Steine unter meinen Füßen wegrutschten, wenn ich auf sie trat. Ich hoffte, dass ich mir nicht einen Knöchel verdrehte, und beneidete Gobi um ihre Fähigkeit, mühelos über die Hindernisse zu springen.
Ich wusste, dass Julian auf diesem Abschnitt schneller war als ich, und als wir uns der Anhöhe näherten, hörte ich, dass er hinter mir aufschloss. Als ich schließlich den höchsten Punkt erreicht hatte, blieb ich wie versteinert stehen, statt mich weiter voranzutreiben, um Julian so lange auf Abstand zu halten, wie ich konnte.
Von dort oben sah ich alles. Der Kontrollpunkt lag in einiger Entfernung, davor ein kleines Dorf, das wir passieren mussten. Ich sah, wie der felsige Abschnitt vor uns noch ungefähr dreihundert Meter weit abfiel. Die rosa Fähnchen wiesen den Kurs, der auf den ebenen Weg zurückkehrte, der zum Dorf und danach zum Kontrollpunkt führte.
Aber all das war es nicht, was ich mir anschaute.
Mein Blick, ebenso wie Julians und der von zwei weiteren Läufern, die an seine Seite aufgerückt waren, war auf eine einsame Gestalt gerichtet, die rechts vor uns lief.
Es war Tommy.
»Whoa«, sagte Julian. »Nicht in Ordnung.«
Offensichtlich hatte sich Tommy den steinigen Weg geschenkt und so ein bisschen Zeit gewonnen. Nach meiner Rechnung hatte er zehn Minuten auf uns gutgemacht.
Wir alle vier waren aufgebracht, doch Tommy war zu weit weg, als dass er uns hätte hören können, wenn wir gerufen hätten. So setzten wir als Gruppe und mit neu entfachtem Feuer unseren Weg fort, entschlossen, Tommy wieder einzufangen.
Wir sahen Tommy am Kontrollpunkt, als wir durch das Dorf kamen, aber als wir in der Zwischenstation ankamen, war er schon hinter einer Anhöhe etwa hundert Meter weiter verschwunden.
Ich beschloss, den Zwischenstopp so lange auszudehnen, dass ich Alarm schlagen und sichergehen konnte, dass jemand zu Protokoll nahm, was sich ereignet hatte. Bei meinem ersten Erklärungsversuch schaute die Frau von der Rennleitung mich an, als wäre ich nicht ganz dicht.
»Könnten Sie das wohl noch mal sagen?«, sagte sie.
»Tommy Chen hat den felsigen Abschnitt da hinten buchstäblich umgangen. Das ist Betrug und muss eine Bestrafung zur Folge haben.«
Sie ließ mich abblitzen. »Wir kümmern uns später darum«, meinte sie nur.
»Tommy mogelt«, sagte Zeng, der bei uns gewesen war und alles gesehen hatte. »Nicht richtig.«
Auch das interessierte sie nicht, und wir hatten den Checkpoint bald wieder verlassen und waren zurück auf der Piste, um Tommy einzuholen. Die knappe Meile unwegsamen Geländes, die wir in den Knochen hatten, war er uns im Vorteil. Dafür hatte ich die Wut in mir auf meiner Seite. Ich forcierte das Tempo auf sechseinhalb Minuten pro Meile und gedachte, so aufzuholen. Julian und die anderen blieben etwas zurück, aber das machte mir nichts aus. Ich war in einer Mission unterwegs.
Der Pfad schlängelte sich, und es gab nur wenig Gelegenheit, Tommy deutlich zu sehen. Irgendwann, als nur noch eine halbe Meile zwischen uns lag, drehte er sich um und sah, wie ich ihm auf den Pelz rückte. Er schaute wieder nach vorn und sprintete davon, so schnell er vermochte.
Ich konnte es nicht glauben.
Es gibt bei diesen Wettbewerben eine Etikette. Wenn du merkst, dass du dir auf unfaire Weise einen Vorteil einem Konkurrenten gegenüber verschafft hast, lässt du dich zurückfallen und erlaubst dem anderen, dich einzuholen, sodass die gebührende Ordnung wiederhergestellt ist. Wenn du auf frischer Tat ertappt wurdest, wie es bei Tommy der Fall war, wäre es anständig, sich auf der Stelle zu entschuldigen und ein wenig Demut zu zeigen.
Das Einzige, was Tommy zeigte, waren seine Hacken.
Ich war weiter hinter ihm her, aber wegen der Anstrengung, den Abstand zwischen uns zu verringern, und weil ich mich von meinem Zorn hatte mitreißen lassen, wurde ich schnell müde. Ich hörte Schritte, dann überholte mich Julian. Es wurde heißer, die Strecke verlief auf einer ebenen Landstraße, die sich über Meilen in der Ferne verlor. Ich fühlte mich gelangweilt und wurde unzufrieden mit mir.
Frühere Erfahrungen haben mich gelehrt, dass derlei Gefühle reines Gift sind. Sie haben mich aber auch gelehrt, wie man damit umgeht.
Bei meinem ersten Ultramarathon – die volle Marathondistanz plus eine Runde von sechs Meilen am Ende – begann ich, bei der Zwanzigmeilenmarke müde zu werden. Als ich bei Meile sechsundzwanzig ankam, war ich fertig. Mir machte das Laufen keinen Spaß mehr, und ich hatte es satt, von Männern und Frauen überholt zu werden, die deutlich älter waren als ich. Ich hatte das auf mich genommen, um Lucja Gesellschaft zu leisten, und obgleich ich dabei war, die 26,2 Meilen in achtbaren drei Stunden und dreißig Minuten zu laufen, gab ich innerlich auf. Ich ging von der Strecke und begab mich zurück zum Wagen, wo ich darauf wartete, dass Lucja ankam.
Es dauerte Stunden.
Ich saß im Auto und beobachtete, wie der Rest des Feldes die Strapazen auf sich nahm, vor denen ich kapituliert hatte. Bei mir erwachte das Gefühl, ich hatte mich hängen gelassen.
Das Feld hatte sich ausgedünnt. Die Einzigen, die noch liefen, waren Leute von der Sorte, denen man ansah, dass es ihnen um den Erfolg ihres Lebens ging. Lucja war fitter, schneller und stärker als alle anderen, und ich begann, mir Gedanken darüber zu machen, was passiert sein könnte. Schließlich stieg ich aus dem Auto aus und marschierte die letzte Meile der Strecke zurück, um nach ihr zu sehen. Ich fand sie bald, wie sie langsam neben einem Mann herlief, der offensichtlich eine ernsthafte Beinverletzung hatte. Lucja hatte sich mit ihrer Erschöpfung bis zum Ende des Laufs durchgekämpft, aber sie hatte ihn tapfer durchgestanden.
Ich sah, wie sie die Ziellinie passierte, und merkte, wie es mir die Kehle zuschnürte. Die mentale Stärke und das Mitgefühl, das Lucja an diesem Tag gezeigt hatte, blieben mir seitdem stets gegenwärtig. Oft, wenn ich an einem Rennen teilnehme, versuche ich, mir ein Beispiel an ihr zu nehmen, und wenn ich wirklich gut drauf bin, kann ich alles aus mir herausholen und stehe alle möglichen Qualen und Widrigkeiten durch. Aber es gibt Tage, an denen die Stimmen, die mich drängen aufzugeben, lauter sind als die, die mich ermuntern weiterzumachen. Das sind die schlimmsten Tage von allen.
Ich sah, wie Julian in der Ferne verschwand, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie weit Tommy schon weg war. Da wusste ich, dass ich Lucja vermisste. Ein kurzer Blick nach unten auf Gobi genügte jedoch, um wieder auf das Wesentliche zurückzukommen und die Gedanken an die Sache mit Tommy auszuschalten. Gobi sprang immer noch neben mir her. Ihre Anwesenheit hielt mich bei der Stange.
Der lange ebene Abschnitt endete und ging in eine Buschlandschaft über. Mir war schon anfangs des Rennens aufgefallen, dass Gobi, wenn sie einen Bach oder eine Pfütze sah, gelegentlich von der Strecke abbog und dorthin lief, um zu saufen. Seit dem Weg durch die Felsbrocken hatte ich überhaupt kein Wasser mehr entdecken können und fragte mich, ob ich nicht von meinem Wasser etwas abgeben müsste. Ich wollte nicht stoppen, aber ich begann, mich für das Wohlergehen des Tiers verantwortlich zu fühlen. Sie war ja nicht besonders groß. Ihre Beine waren nicht viel länger als meine Hand. Diese ganze Lauferei musste hart für sie sein.
So war ich zunächst erleichtert, als ich vor uns Wasserläufe ausmachte. Gobi trottete hin und trank aus einem von ihnen, doch wenn sie hätte sehen können, was ich sah, wäre sie weniger glücklich gewesen.
Jenseits des Gewässers, auf der anderen Seite des Flusses, entdeckte ich Julian. Der Strom selbst musste knappe fünfzig Meter breit sein. Ich erinnerte mich, dass die Organisatoren so etwas erwähnt hatten, als ich vor ein paar Stunden bibbernd an der Startlinie stand. Das Gewässer war nicht mehr als knietief, also war es möglich hindurchzuwaten.
Julian am anderen Ufer zu sehen, spornte mich an. Ich zögerte nicht, ins Wasser zu waten, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mein Rucksack fest und hoch genug auf meinen Rücken geschnallt war. Es war kälter, als ich erwartet hatte, aber ich begrüßte die Gelegenheit, ein wenig abzukühlen.
Es wurde schnell deutlich, dass das Wasser mir bis an die Knie, vielleicht sogar etwas höher reichen würde. Die Strömung war stark, und wegen der schlüpfrigen Steine unter mir fühlte ich mich unsicher auf den Beinen. Mit nassen Schuhen weiterzulaufen war kein Problem, denn die würden gleich wieder trocknen. Falls ich jedoch ausglitt, ins Wasser fiel und mein Gepäck nass würde, würde ich nicht nur schwerer und unbeweglicher werden. Dann wäre auch der größte Teil meines Essens für den Rest der Woche ruiniert. Ein falscher Schritt, ein kurzes Straucheln, und das Rennen wäre für mich zu Ende.
Ich war dermaßen darauf bedacht, dass ich heil hinüberkam, dass ich nicht groß an Gobi dachte. Ich glaube, ich ging davon aus, dass sie ihren eigenen Weg finden würde, um über den Fluss zu kommen, so, wie es ihr vorher beim Graben gelungen war.
Dieses Mal allerdings hörte sie nicht auf zu bellen und zu winseln. Mit jedem Schritt von mir wurde sie verzweifelter.
Ich hatte ein Viertel der Überquerung geschafft, als ich schließlich etwas tat, was ich in einem Rennen noch nie getan hatte. Ich kehrte um.
Sie rannte am Ufer auf und ab und sah mich dabei unverwandt an. Ich wusste, dass Julian schon einen Vorsprung von einigen Minuten hatte, die Frage war aber auch, wie lange es dauern würde, bevor jemand hinter mir auftauchte. Würde ich, wenn ich zurückging, nicht eine Platzierung sowie wertvolle Minuten verlieren?
Ich lief zurück, so schnell es ging, klemmte mir Gobi unter den Arm und watete wieder ins kalte Wasser. Ich hatte sie vorher nie hochgehoben. Sie war viel leichter, als ich erwartet hatte. Dennoch war der Übergang mit ihr schwieriger, weil ich, um mich auszubalancieren, nur den rechten Arm hatte, während ich mich vorankämpfte.
Mehrmals rutschte ich aus, einmal so sehr nach links, dass Gobi und – so nahm ich an – auch die Unterseite meines Rucksacks nass wurden. Gobi beklagte sich nicht, noch wand sie sich oder versuchte, sich zu befreien. Sie blieb ruhig, ließ mich meinen Job machen und für ihre Sicherheit sorgen.
Als wir eine kleine Insel in der Mitte des Flusses erreichten, setzte ich sie ab. Sie lief herum, als wäre das Ganze nur ein tolles Abenteuer. Zunächst überzeugte ich mich, dass mein Rucksack nicht ernstlich nass geworden war und er mir so hoch wie möglich auf dem Rücken saß. Dann rief ich Gobi, die sofort zu mir zurückgelaufen kam, nahm sie auf und setzte meinen Weg fort.
Sie kletterte die Uferböschung auf der anderen Seite noch schneller hinauf als ich. Ich befreite mich von Schlamm und Gestrüpp, Gobi schüttelte sich. Danach sah sie mich an, offenbar bereit, das Rennen fortzusetzen.
Der Feldweg vor uns führte uns bald zu einem weiteren von Menschen geschaffenen Graben. Der war jedoch breiter als der, den Gobi übersprungen hatte. Dieses Mal hielt ich nicht an. Ich nahm sie hoch und hob sie darüber hinweg. Es gab dabei einen Moment, da sie mit mir auf einer Augenhöhe war, und ich könnte schwören, dass sie mich mit einem Blick voller Liebe und Dankbarkeit ansah.
»Bist du so weit, mein Mädchen?«, sagte ich. Ohne das Lächeln aus dem Gesicht zu bekommen, setzte ich sie ab und sah zu, wie sie gleich herumsprang. »Dann geht’s jetzt weiter.«
Als ich den Kopf hob, erblickte ich einen alten Mann auf einem Esel. Mit komplett ausdruckloser Miene beobachtete er uns. Was muss er für einen Eindruck von mir haben, fragte ich mich.