Es gibt wohl kaum einen australischen Zeitgenossen, der nicht vom Ultraläufer Cliff Young gehört hätte. Der Mann ist einer, der uns alle inspiriert – und nicht nur die Ausdauerathleten. Jedem, der vor einer unlösbaren Aufgabe steht, von der niemand glaubt, dass sie zu bewältigen ist, macht Cliffs Geschichte Hoffnung.
Am Mittwoch, dem 27. April 1983, tauchte Cliff Young im Westfield-Einkaufszentrum in einem westlichen Vorort von Sydney auf und sah sich nach der Startlinie für ein bemerkenswertes Rennen um. Die Route führte zu einem anderen Westfield-Einkaufszentrum 543,7 Meilen entfernt in Melbourne.
Das Rennen wurde allgemein als das härteste seiner Art angesehen, und das Feld, das sich eingefunden hatte, beinhaltete einige der Besten der Welt, Männer, die in vollem Saft standen und monatelang trainiert hatten, um für diesen Anlass konditionell ihre Höchstform zu erreichen.
Cliff stach aus der Handvoll Läufer heraus, die sich für diese Langstrecke versammelt hatten. Er war einundsechzig Jahre alt, trug einen Overall und Arbeitsstiefel und hatte seine dritten Zähne herausgenommen, weil er es nicht mochte, wenn sie beim Laufen klapperten.
Während die meisten Leute noch glaubten, er sei ein Zuschauer oder ein Streckenarbeiter, holte Cliff sich seine Startnummer und gesellte sich zu den anderen Läufern.
»Meister«, sagte einer der Journalisten, als er Cliff in den Startreihen stehen sah, »glauben Sie, Sie können diesen Lauf zu Ende bringen?«
»Kann ich«, sagte Cliff. »Schauen Sie, ich bin auf einer Farm aufgewachsen, auf der wir uns weder Pferde noch Traktoren leisten konnten, und die ganze Zeit über, als ich heranwuchs, musste ich, wann immer ein Sturm im Anzug war, raus, um die Schafe zusammenzutreiben. Wir hatten zweitausend Schafe auf zweitausend Morgen Land. Manchmal war ich zwei oder drei Tage hinter den Tieren her. Es hat zwar lange gedauert, aber gekriegt habe ich sie jedes Mal. Ich glaube schon, dass ich dieses Rennen zu Ende bringen kann.«
Der Lauf startete, und Cliff lag zurück. Er lief nicht einmal richtig. Auf eine merkwürdige Weise schlurfte er mehr dahin und hob dabei kaum die Füße. Am Ende des ersten Tages, als alle Teilnehmer beschlossen haltzumachen, um sich etwas Schlaf zu gönnen, lag Cliff meilenweit hinter ihnen zurück.
Die Profis wussten sich das Tempo einzuteilen und verfolgten alle dieselbe Strategie, achtzehn Stunden am Tag zu laufen und sechs Stunden zu schlafen. Auf diese Weise hoffte der Schnellste unter ihnen, das Ziel in sieben Tagen zu erreichen.
Cliff verfolgte einen anderen Plan. Als sie das Rennen am nächsten Morgen wieder aufnahmen, waren die anderen Läufer geschockt zu erfahren, dass Cliff noch im Rennen war. Er hatte nicht geschlafen, sondern hatte schlurfend seinen Weg die Nacht hindurch fortgesetzt.
Dasselbe machte er die zweite und die dritte Nacht. Jeden Morgen trafen mehr Nachrichten darüber ein, wie Cliff die Nacht über durchgelaufen war und die Führung wettgemacht hatte, die die Läufer, die halb so alt waren wie er, tagsüber herausgeholt hatten.
Schließlich überholte er sie, und nach fünf Tagen, fünfzehn Stunden und vier Minuten passierte der die Ziellinie. Er hatte den Rekord um fast zwei Tage unterboten und jeden der fünf anderen Läufer geschlagen, die das Rennen beendeten.
Zu Cliffs Überraschung bekam er den Scheck für den Sieger in Höhe von zehntausend Dollar überreicht. Er sagte, er wusste gar nicht, dass ein Preis ausgesetzt war, und bestand darauf, dass er nicht des Geldes wegen am Rennen teilgenommen hatte. Er weigerte sich, auch nur einen Cent zu nehmen, und teilte stattdessen die Summe zu gleichen Teilen unter den fünf anderen auf, die ins Ziel gekommen waren.
Cliff wurde zur unumstrittenen Legende. Es ist schwer zu sagen, welche Bilder von ihm die Menschen am meisten liebten: die, auf denen er in langer Hose und einem normalen T-Shirt den Highway entlangschlurfte, oder die, die ihn zeigten, wie er in Gummistiefeln und mit entschlossener Miene die Schafe über die Weide jagte.
Ich war noch ein Kind, als die Nachrichtensender Cliffs Story brachten. Er wurde zur Berühmtheit, ein einmaliges Original, der etwas Erstaunliches vollbracht hatte, das die Aufmerksamkeit einer ganzen Nation weckte. Erst, als ich selbst anfing zu laufen, konnte ich ermessen, wie beachtlich seine Leistung war. Und erst, als Gobi verloren gegangen war und ich mich auf dem Flug zurück nach China befand, kam mir Cliffs Geschichte wieder in den Sinn, die mir die nötige Zuversicht einflößte.
Einen Tag nachdem ich die Neuigkeiten über Gobis Verschwinden gepostet hatte, wurden wir von Nachrichten aus aller Welt überflutet. Einige waren positiv und von Mitgefühl, guten Wünschen und Gebeten erfüllt. Andere drückten die Befürchtung aus, Gobi sei schließlich im Kochtopf gelandet. Es war das erste Mal, dass ich an diese Möglichkeit dachte, doch ich hielt sie für ziemlich unwahrscheinlich. Auch wenn ich nur zehn Tage in China verbracht hatte, hatte ich den Eindruck, das Gerücht von den Chinesen, die Hunde aßen, war abwegig. Sicherlich hatte ich dort eine Menge streunende Hunde gesehen, aber dasselbe hatte ich in Marokko, Indien und selbst in Spanien beobachtet. Anstatt sich grausam zu gebärden, hatte jeder Mann und jede Frau in China, die an Gobi Interesse zeigten, sie nicht anders als fürsorglich und mit Zuneigung behandelt.
Während ich für die warmherzigen Wünsche dankbar war und mit den schlimmsten Befürchtungen umgehen konnte, gab es eine dritte Kategorie von Antworten, von denen ich nicht wusste, was ich mit ihnen anfangen sollte.
»Jetzt mal im Ernst!!! Wie zum Teufel konnte das passieren?!«
»Ich wusste doch, dass so etwas passieren musste … Und was für eine scheußliche Umgebung für einen verloren gegangenen Hund. Ich bin entsetzt darüber, wie hier vorgegangen wurde.«
»Wie um alles in der Welt konnte es dem Hund gelingen auszureißen????«
»Diese sogenannten Betreuer hatten die Aufgabe, für die Sicherheit dieses liebenswerten, kleinen Hundes zu sorgen, und die Scheiß-Aufpasser haben sie im Stich gelassen. What the fuck … Wie konnte der Hund Ihnen abhandenkommen, wenn es Ihre Sache war, auf ihn zu achten, bis sie WIRKLICH EIN ZUHAUSE gefunden hat!«
Ich fühlte mich schlecht. Mehr noch, ich fühlte mich miserabel. So viele Leute hatten so viel Geld gegeben – zum Zeitpunkt als Gobi vermisst wurde, waren es mehr als zwanzigtausend Dollar –, und jetzt war Gobi weg. Ich wusste, dass ich in den Augen der Öffentlichkeit allein die Verantwortung für sie hatte. Ich akzeptierte das, und mir war klar, dass ich diesen Vorwurf nicht zurückweisen konnte.
Hätte ich die Sache anders angepackt, wäre Gobi nicht verloren gegangen. Bloß, was hätte ich anderes tun können? Als ich das Rennen beendet hatte und Gobi bei Nurali ließ, nahm ich an, dass es nur wenige Wochen dauern würde, bis wir in Großbritannien wiedervereint wären und die Quarantäne begann. Hätte ich gewusst, wie kompliziert es werden würde, Gobi quer durch China und dann außer Landes zu bringen, hätte ich einen Fahrer angeheuert und Gobi persönlich nach Peking begleitet. Aber das Einzige, was ich am Ende des Rennens wusste, war, dass Nurali, die mir für diesen Job am besten geeignet erschien, gern behilflich war. Und das schien zu diesem Zeitpunkt zu genügen.
Ich war versucht, auf jede Nachricht einzeln zu antworten, doch sie kamen schneller herein als damals, als der Artikel im Daily Mirror einschlug. Alle paar Minuten ein neuer Kommentar, wobei es mir am besten schien, den Leuten erst einmal genug Raum zu geben, um ihrem Ärger Luft zu machen. Es hatte wenig Zweck, sich in Diskussionen hineinziehen zu lassen.
Dazu gab es noch eine Art von Kommentaren, die meine Aufmerksamkeit erregte.
»Ich frage mich, ob es sich hier, bedingt durch die Publicity, die Gobis Geschichte bekommen hat, nicht um ein Kidnapping handelt.«
Obwohl ich sauer werden kann, wenn Leute Mist bauen, bin ich generell ein gutgläubiger Mensch. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Gobis Verschwinden etwas anderes sein könnte als ein Missgeschick, und ich hatte der Version geglaubt, die die Organisatoren mir erzählt hatten und die Nurali auch Kiki gegeben hatte. Je mehr Nachrichten in dieser Richtung ich las, desto mehr kam ich ins Grübeln.
»Ich hoffe, dass nicht irgendjemand in irgendeiner bösen Absicht dahintersteckt. Sehen Sie mir mein Misstrauen nach, aber ich kann nicht verstehen, wie das passieren konnte! Gobis Geschichte hat sich weltweit verbreitet, und ich kann nur hoffen, dass nicht jemand (nicht Dion) sie genommen hat, um damit Geld zu machen. Tagelang vermisst, und Sie werden nicht davon benachrichtigt?«
Diese Argumente hatten Gewicht. Es gab rund um den Erdball Tausende, die die Geschichte verfolgt hatten, und die Summe der Spendenaktion war für jeden einzusehen. War es da so abwegig, sich vorzustellen, dass jemand versuchte, schnelles Geld zu machen, indem er Gobi entführte und hoffte, wir würden eine Belohnung für ihre wohlbehaltene Rückkehr zahlen?
Ich musste an meine Arbeit und versuchte mein Bestes, mit meinen Berichten weiterzukommen, die ich zu schreiben hatte, aber es fiel mir schwer. Ich war den größten Teil des Tages von all diesen Gedanken und Fragen abgelenkt. Ich fühlte mich wie ein Schilfrohr im Wind, auf Gedeih und Verderb Kräften ausgeliefert, die mir weit überlegen waren. Als Lucja von der Arbeit nach Hause kam, war ich am Ende.
Sie sah sich das Feedback an, das inzwischen eingetroffen war, doch während ich mich bei den Posts aufgehalten hatte, die einen Schuldigen suchten, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf jene, die versuchten, eine Lösung zu finden.
»Können Sie nicht selbst hinfliegen und nach ihr suchen? Sie wird spüren, dass Sie da sind, und Sie finden! Nehmen Sie von den Spenden, um sie in Sicherheit zu bringen, bis sie mit Ihnen nach Hause fliegen kann. Das ist niederschmetternd.«
»Sie sucht nach Ihnen. Es bricht einem das Herz. Ich bete darum, dass sie wohlbehalten gefunden wird. Ich glaube, niemand würde lange überlegen, wenn Sie etwas von dem Spendengeld nehmen, um eine Belohnung für ihr Auffinden und ihre sichere Rückkehr auszuschreiben. Ist die Sache denn an die Medien gegangen, um sie breiter bekannt zu machen?«
Ich war jetzt sechs Wochen zu Hause und hatte ungefähr noch dieselbe Zeit, bevor es am ersten Oktober zum Atacama Crossing nach Chile ging. Ich hatte mir in China keine Verletzung geholt und war in der Lage gewesen, mein Training wiederaufzunehmen, sobald ich zu Hause war. Ich war überzeugt davon, in der bestmöglichen Verfassung zu sein, um hinzufliegen und die Atacama zu gewinnen, zumal ich nun einige Läufer kannte, mit denen ich es zu tun bekommen würde wie etwa Tommy oder Julian. Und falls ich die Atacama gewann, ging es zum Marathon Des Sables 2017. Ich war bereit, um einen Platz unter den ersten zwanzig zu kämpfen. In der gesamten Geschichte dieses Rennens hatte noch kein Australier besser abgeschnitten.
Ein spontaner Trip nach China, um nach einem verloren gegangenen Hund zu suchen, stand nicht auf meinem Trainingsplan. Sechs Wochen vor dem Atacama-Rennen sollte ich in meiner improvisierten Heimsauna auf dem Laufband hundert Meilen die Woche abreißen. Stattdessen tat ich nichts. Mein Training war in den Hintergrund getreten, seit die Suche nach Gobi mein Leben bestimmte.
Abgesehen vom Atacama-Marathon gab es weitere gute Gründe, nicht nach China zurückzukehren. Ich lieferte in den vergangenen Wochen nicht gerade meine Spitzenleistungen bei der Arbeit ab. Und jetzt um noch mehr Urlaub zu bitten, ohne eine Begründung zu nennen, würde das Wohlwollen meiner Arbeitgeber bis zur Neige ausschöpfen. Wäre ich an ihrer Stelle, wüsste ich genau, was ich sagen würde.
Und selbst wenn ich mich auf den Weg machte, was konnte ich ehrlicherweise davon erwarten? Ich sprach die Sprache nicht, ich konnte weder die chinesische Schrift noch diese arabisch anmutenden Schriftzeichen entziffern, die ich in Ürümqi gesehen hatte, und ich hatte weit weniger Erfahrung, wie man einen entlaufenen Hund sucht, verglichen mit der Frau, die die Suche leitete. Wenn ich mich dorthin begab, verschwendete ich ihre Zeit und meine.
Schlussendlich dauerte es jedoch nicht lange, bis ich meine Meinung änderte. Es war nicht so, als wären meine Zweifel plötzlich ausgeräumt oder als hätte ich das sichere Gefühl, dass ich Gobi finden würde, wenn ich nach China ginge. Ich beschloss, aus einem einfachen, zwingenden Grund nach China zu reisen, über den ich mir mit Lucja spät in der zweiten Nacht nach der Nachricht über Gobis Verschwinden einig wurde.
»Wenn ich nicht hinfliege und wir Gobi niemals wiederfinden, glaube ich, dass ich nie mehr in den Spiegel sehen kann.«
So geschah es, dass ich mich am Abfluggate auf dem Flughafen Edinburgh einfand, fertig, um einen Flug über drei Stationen und länger als dreißig Stunden nach Ürümqi anzutreten. Ich schoss ein Foto von meinem Flugreiseplan und stellte es online. Bei so vielen Menschen, die so freundlich und hilfsbereit in diesen Tagen waren, wollte ich sie wissen lassen, dass ich alles mir Mögliche tat, um zu helfen.
Es waren seit jenem Anruf nur vier Tage vergangen, aber ich flog in der Gewissheit, dass die Leute, die so großzügig gespendet hatten, um Gobis Heimkehr zu ermöglichen, wollten, dass ich mich dorthin begab und sie fand. Wir hatten eine zweite Crowdfunding-Seite ins Netz gestellt, die sich Finding Gobi nannte, um meine Reise sowie die Kosten zu finanzieren, die der Suchtrupp bereits auf sich genommen hatte – Druckkosten, Treibstoff, Fahrer, Helfer und Verpflegung. Genau wie bei der ersten Aktion Bring Gobi Home waren Lucja und ich von der Freigiebigkeit der Menschen überwältigt. Schon in den ersten beiden Tagen war das Spendenziel von sechstausendzweihundert Dollar gesprengt.
Auch mein Chef hatte mir seinen Segen gegeben. Als ich anfing, ihm zu berichten, dass Gobi verschwunden war, ließ er mich nicht einmal ausreden. »Zischen Sie ab«, sagte er. »Finden Sie den Hund. Regeln Sie das, und nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen.«
Was den Atacama-Marathon anging, sah ich für dieses Problem keine Lösung. Wenn ich nach China flog, hieß das, dass sich meine Aussicht auf ein herausragendes Ergebnis im Oktober erledigt hatte. Aber ich war entschlossen, mich darum nicht zu kümmern. Wenn ich den Marathon verlor und dafür Gobi fand, war es mir das wert.
Ich ging an Bord des Flugzeugs und sah noch einmal auf Facebook die eingegangenen Nachrichten durch. Es waren Dutzende, und alle waren voller Optimismus, Aufmunterung und Hoffnung. Viele Menschen schrieben dasselbe. Dass sie für ein Wunder beteten.
Darin stimmte ich mit ihnen überein. Es war genau das, was wir brauchten. Nichts weniger als das konnte uns helfen.
Irgendwann im Nebel eines Dämmerschlafs während des Nachtflugs kam mir die Geschichte mit Cliff Young wieder in den Sinn.
Wie ich hatte er keine Ahnung gehabt, als er 1983 an die Startlinie schlenderte, dass er bald großes Aufsehen erregen würde. Ich vermute, dass er nicht damit gerechnet hat, dass er dieses Rennen gewinnen könnte. Aber er wusste, dass er die Distanz bewältigte. Erfahrung, Selbstvertrauen und ein wenig auch die Tatsache, dass ihm gar nicht recht klar war, worauf er sich einließ, vermittelten ihm die Zuversicht, die er brauchte.
Würde ich Gobi finden? Ich wusste es nicht. War ich in der Lage umzusetzen, was mir vorgeschlagen worden war: die lokalen Medien dazu zu bringen, die Geschichte zu veröffentlichen? Auch das wusste ich nicht. Hatte ich so etwas, wie dies hier schon einmal gemacht und irgendwelche Erfahrung darin? Ganz sicher nicht.
Aber ich hatte die Gewissheit, dass ich für diesen Kampf mein Herz in die Hand nehmen würde. Der Wunsch, Gobi zu finden, brannte so stark in mir, wie je einer in mir gebrannt hatte. Was immer es erforderte, ich würde nicht rasten noch ruhen, bis es nichts mehr zu suchen gab.