2. KAPITEL

Bald nach Dads Tod zog Mom in die Erdgeschosswohnung, wo Nan sich um sie, Christie und mich kümmerte. Es war, als würde Mom wieder zu einem Kind werden und als könnte sie deshalb keine Mom mehr für uns sein.

Ich war ja selbst nur ein neunjähriges Kind, aber jeder Trottel hätte die Zeichen deuten können. Seit jenem Tag, als ich in ihr Schlafzimmer kam und in ihrer Hand eine große Flasche mit Pillen erblickte, ihr Gesicht noch tränennass, war es keine Frage mehr, dass sie damit nicht fertigwurde.

Das war ein paar Wochen nach Dads Tod. Es brauchte einige Monate länger, bis ich herausfand, dass ihr Problem nicht allein die Trauer war. Sie und ich waren eines Abends in der Küche. Sie putzte, eine Marotte, die sie sich kürzlich zugelegt hatte, und ich saß am Tisch und las.

»Dion, Garry war nicht dein Dad«, sagte sie ohne Umschweife und ohne Vorwarnung.

Keine Ahnung, ob ich weinte oder rausrannte, um mich zu verstecken. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich tobte oder meine Mom um nähere Erklärungen bat. Meine Erinnerung daran, was ich gesagt oder gefühlt habe, ist ausgelöscht. Da ist einfach ein leeres Blatt, wo so viel Erinnerung sein sollte. Ich kann mir nur vorstellen, dass diese Mitteilung so schmerzhaft für mich gewesen sein muss, dass sie alle Spuren aus meinem Gedächtnis gelöscht hat.

Eins steht allerdings für mich fest: Die Verletzung, die mir durch Dads – Garrys – Tod zugefügt wurde, war so tief, dass sie mich von Grund auf veränderte.

Selbst heute noch wird meine Mom weinen, falls sie und ich auf Garrys Tod zu sprechen kommen. Sie wird sagen, dass es nur die zwanzigminütige Fahrt mit der Ambulanz brauchte, um alles in unserem Leben umzukrempeln. Sie hat recht, aber sie hat auch unrecht. Es mögen Minuten sein, die es braucht, um ein Leben ins Chaos zu stürzen, doch es bedurfte nur der vier Worte, mir mein trauerndes Herz in Stücke zu reißen.

Ich behielt mein Geheimnis für mich. Während der ein oder zwei Jahre, in denen ich die Wahrheit über mich herausfand, schämte ich mich meiner Vergangenheit. Nicht nur, dass ich als Kind keinen Vater zu Hause hatte, ich war auch der Einzige, den ich kannte, der nur ein Elternteil hatte. Der gleichmäßige Strom von Besuchern, die nach der Beerdigung zu uns kamen, versiegte, und unsere schwindenden Finanzen zwangen meine Mutter, sich aufzumachen, um Arbeit zu suchen. Wenn sie dann daheim war, verbrachte sie Stunden damit, das Haus zu putzen, wobei sie Songs von Lionel Richie in voller Lautstärke auf der Stereoanlage in unserem blitzblanken Wohnzimmer abspielte.

Mir kam es vor, als kämen all meine Freunde aus intakten Familien, und weil sie alle in die Kirche gingen, dachte ich, ich schließe mich ihnen an. Ich wollte mich zugehörig fühlen. Außerdem gefiel mir die Tatsache, dass ich nach dem Gottesdienst eine Handvoll Kekse ergattern konnte. Die Predigten kümmerten mich wenig – manchmal erreichten sie allerdings sogar, dass ich mich besser fühlte. Aber die Art, wie die Leute auf mich reagierten, wenn ich mich am Schluss dem Teetisch näherte, zeigte mir, dass sie mich mit anderen Augen ansahen als sonst jemanden. Ich hörte, wie sie hinter meinem Rücken tuschelten, und wenn ich mich umdrehte, entstand peinliches Schweigen, und ich sah ein gequältes Lächeln auf ihren Gesichtern.

Mom bekam Telefonanrufe. Ich versuchte, mich in den Flur zu schleichen, und schaute ihr zu, wie sie mit hochgezogenen Schultern mit dem Gesicht zur Wand stand. Ihre Antworten waren abgehackt und die Anrufe nur kurz, und manchmal, wenn sie beendet waren und sie sich umdrehte und mich sah, erzählte sie mir vom Klatsch, der über uns in der Stadt verbreitet wurde.

Nur zu bald machte ich selbst damit Bekanntschaft. Eines Sonntagnachmittags ging ich einen Freund besuchen. Ich entdeckte sein Fahrrad auf dem Rasen vor dem Haus und wusste also, dass er da war. Seine Mutter hingegen sagte mir, dass er nicht zum Spielen herauskommen könne.

»Du kannst Bradley nicht treffen.« Sie zog die Tür mit dem Fliegengitter zwischen uns zu.

»Warum denn nicht, Mrs. Firth?«

»Du bist ein schlechter Umgang, Dion. Wir wollen nicht, dass du herkommst.«

Völlig niedergeschmettert ging ich weg. Ich trank oder fluchte nicht, benahm mich in der Schule nicht daneben und hatte auch keinen Ärger mit der Polizei. Schön, ich war ein bisschen zu gierig, was die Kekse in der Kirche anging, doch abgesehen davon, war ich immer höflich und bemühte mich, freundlich zu sein.

Mrs. Firth konnte nur eins gemeint haben.

Ich hatte damals kein Wort dafür, aber ich entwickelte bald einen starken Widerwillen gegen das Gefühl, ausgeschlossen zu werden. Als ich vierzehn war, wusste ich bereits sehr genau, wo mein Platz im Leben war: draußen.

Wie ich es immer machte, saß ich ein wenig abseits im Raum, als das Veranstalterteam mit den Sicherheitsinstruktionen begann. Das Rennen wurde von einer Gruppe organisiert, mit der ich noch nie gelaufen war, aber ich war mit solchen Treffen so vertraut, dass ich wusste, was kam.

Die größte Gefahr bei jedem Etappen-Ultramarathon in der Wüste besteht, falls die Erschöpfung – im Normalfall Dehydrierung, Krämpfe, Schwindel und Herzrasen – sich wegen der Hitze zu einem Hitzschlag auswächst. Dann kommen drastischere Symptome einschließlich Verwirrtheit, Desorientierung und Krampfanfälle hinzu. Man selbst merkt nicht, wenn das passiert. Man wird die Warnsignale nicht aufnehmen und endet zusammengerollt in einem Graben oder trifft die falschen Entscheidungen, obwohl es höchste Zeit wird, die Hitze zu meiden, Salze und Flüssigkeit aufzufüllen und die Kerntemperatur rigoros herunterzubringen. Tut man das nicht, kann man ins Koma fallen und schließlich sterben.

Die Organisatoren betonten, sie würden jeden, bei dem sie den Verdacht hatten, dass er am Rande der Erschöpfung stand, sofort aus dem Rennen nehmen. Was sie nicht erwähnten, war, dass sechs Jahre zuvor ein Teilnehmer bei so einem Rennen an einem Hitzschlag gestorben war.

Das Mikrofon wurde darauf an eine Amerikanerin weitergegeben. Ich erkannte sie wieder. Sie war die Begründerin dieses Marathons. »Dieses Jahr«, sagte sie, »haben wir einige großartige Athleten im Feld, allen voran den unvergleichlichen Tommy Chen.« Es gab eine Runde Applaus von den hundert Läufern im Raum, die sich alle zu dem jungen Taiwanesen umdrehten, der sein persönliches Kamerateam dabeihatte, das diesen Augenblick festhielt.

Ich hörte mir eine Menge Zeug darüber an, wie Tommy den Sieg angehen wollte und was für großartige Ergebnisse er schon hinter sich hatte. Ich wusste, dass er einer der Besten hier war, ein waschechter Etappen-Marathon-Superstar. Und ich wusste, dass es schwer werden würde, ihn zu schlagen.

Bevor ich Schottland verließ, hatte ich eine E-Mail der Veranstalter gelesen, in der die Top Ten der Teilnehmer aufgelistet waren, von denen angenommen wurde, dass sie gut abschneiden würden. Ich kam darin nicht vor, obwohl ich einige der Genannten in der Vergangenheit schon geschlagen hatte. Ich war zum Teil noch immer verärgert darüber, aber nicht, weil ich mich in meinem Ego verletzt fühlte. Es gab keinen Grund für sie zu erwarten, dass ich gut abschnitt. Ich hatte seit einem Lauf über hundertzweiunddreißig Meilen in Kambodscha vor acht Monaten an keinem Rennen mehr teilgenommen und war in Vergessenheit geraten. Ich nahm es ihnen nicht übel, dass sie mich übergangen hatten.

Vielmehr war ich ärgerlich über mich selbst. Ich hatte erst vor drei Jahren mit dem Laufen begonnen und war so spät dazugekommen, dass ich nur ein winziges Zeitfenster hatte, um mich zu beweisen. Eine Regenerationspause von acht Monaten kam mir vor wie eine sträfliche Zeitverschwendung.

Den Sicherheitsinstruktionen war eine Überprüfung der Ausrüstung vorausgegangen, die sicherstellen sollte, dass jeder von uns in seinen Taschen die wichtigsten Dinge bei sich hatte. Obwohl man alle Nahrung, Bettzeug und Kleidung bei sich trägt, die man für die ganzen sechs Etappen des Siebentagerennens braucht, ist das Ziel, das Gewicht des Gepäcks auf ein Minimum zu reduzieren. Für mich heißt das, dass ich die Kleidung nicht wechsle und keine Schlafmatte, keine Bücher und kein Smartphone mitnehme, um am Ende einer Etappe Unterhaltung zu haben. Alles, was ich dabeihabe, ist ein Schlafsack, ein einziger Satz an Kleidung und das absolute Minimum an Nahrung, mit dem ich über die Runden komme. Ich rechne mit zweitausend Kalorien pro Tag, obgleich ich weiß, dass ich eher an die fünftausend Kalorien verbrennen werde. Wenn ich nach Hause komme, sehe ich aus wie der wandelnde Tod, doch ein leichterer Rucksack ist mir das wert.

Später am Tag wurden wir in einen Bus verfrachtet und einige Stunden aus der Stadt hinaus dorthin gebracht, wo der eigentliche Marathon starten sollte. Ich unterhielt mich ein wenig mit meinem Nebenmann, aber meistens verhielt ich mich ruhig und versuchte, den Lärm auszublenden, den drei Typen aus Macau hinter mir mit ihrem Gelächter und ihrem lauten Gerede die ganze Fahrt über veranstalteten. Ich drehte mich ein paarmal mit einem halbwegs freundlichen Lächeln in der Hoffnung um, dass die drei meinen dezenten Hinweis verstanden, doch mal die Klappe zu halten. Sie grinsten einfach zurück und setzten ihre Party hinter mir fort. Als wir anhielten, hatte ich die Nase ziemlich voll und hoffte wegzukommen, um ein stilles, abgeschiedenes Plätzchen zu finden, an dem ich mich mental auf das bevorstehende Rennen vorbereiten konnte.

Die Einheimischen führten in einer malerischen Veranstaltung ihre Volkstänze und Reitkünste vor, einschließlich eines Spiels, das wie Polo aussah, nur dass es mit einem toten Schaf gespielt wurde. Ich stahl mich davon und suchte das Zelt, in dem ich schlafen sollte, um mir dort meinen Platz zu sichern. Bei den meisten Etappen-Marathons werden den Läufern für die gesamte Dauer des Rennens feste Mitinsassen in ihrem Zelt zugeteilt. Man weiß nie, was man bekommt, aber wenigstens kann man dafür sorgen, dass man nicht auf einem fürchterlichen Schlafplatz hängen bleibt.

Ich stand in dem alten, ausgedienten Militärzelt und überlegte, wo ich mich niederlassen sollte. Wegen der Zugluft mochte ich nie gern nahe der Tür sein, und am hinteren Ende des Zelts wurde es oft ein wenig zu kalt. Ich beschloss, es zu riskieren und einen Platz in der Mitte zu nehmen, wobei ich hoffte, dass meine Mitcamper mich nicht mit ihrem Schnarchen oder ihrer Unruhe wach hielten.

Ich überprüfte ein letztes Mal meine Ausrüstung, als die ersten drei Zeltgenossen eintrafen. Sie sahen ganz vernünftig aus und suchten sich in Ruhe ihre Plätze.

Mir rutschte allerdings das Herz in die Hose, als ich draußen Gelächter hörte. Ich blickte auf und sah, wie die drei Leutchen aus Macau hereinkamen.

Obwohl es Sommer war, wurde es spürbar kälter, als die Sonne allmählich unterging. Das örtliche Gemeindeoberhaupt hielt eine Rede, die ich nicht verstand, aber die wunderschönen mongolischen Tänze und die halsbrecherischen Reitvorführungen genügten, um meine Aufmerksamkeit eine Weile zu fesseln. Einige der Läufer saßen da und aßen ihr Abendessen, ich wanderte lieber etwas umher. Dem Kamerateam von Tommy Chen zuzuschauen lenkte mich ab, doch schon bald dachte ich daran, zum Zelt zurückzukehren. Wenn die Leute anfangen, sich gegenseitig zu fragen, in welchen Schuhen sie laufen, wie viel ihr Gepäck wiegt oder ob sie noch Extra-Proviant dabeihaben, ist das für mich das Stichwort zu verschwinden.

Sich einen Tag vor dem Rennen in solche Gespräche verwickeln zu lassen, ist nie eine gute Idee. In dem Augenblick, da man erfährt, dass jemand etwas anders macht, kommen einem nur Selbstzweifel.

Ich sah auf die Uhr. Halb sieben – Essenszeit. Auch wenn es schwerfällt zu warten, wenn man nervös ist und es schon dunkel wird, achte ich immer darauf, am Tag vor dem Rennen zur richtigen Zeit zu essen. Man will ja nicht, dass der Körper, wenn man zu früh isst, bereits die Kalorien verbraucht hat, ehe der Lauf tatsächlich losgeht.

Ich kroch mit meinem Essen in den Schlafsack und nahm in Ruhe meine Mahlzeit zu mir.

Ich sah zu, dass ich einschlief, bevor jemand von den anderen zurückkam.