Ellen
September 2017
Als ich aus dem Studio komme, ist Sasha noch nicht wieder da, und ich drehe Olivias Aufnahme von Didos Klage von Purcell voll auf. Natürlich habe ich auch alles andere heruntergeladen, was sie je aufgenommen hat, aber dieses Stück ist mit Abstand das schönste – so viel weicher und intimer als die spektakulären Arien. Es war das erste, was ich sie live habe singen hören, und wann immer ich die CD in die alte Anlage schiebe, fühlt es sich irgendwie richtig an. Heute habe ich sämtliche Bedenken über Bord geworfen, dass Sasha mithören könnte, und das Stück in meiner Sendung gespielt. Sie war bei der Arbeit, und nie im Leben hören sie in ihrem Büro Simply Classical
. Ich glaube kaum, dass ihre Kollegen je auch nur von so einem kleinen Digitalradiosender gehört haben, außer Sasha hätte ihn einmal erwähnt, aber das bezweifle ich. Selbst mit mir spricht sie selten darüber – ein dezenter Hinweis darauf, dass sie meine Berufswahl missbilligt, weil meine Entscheidung sie an die Monktons erinnert. Klassische Musik war deren Welt, und die weist Sasha weit von sich, seit sie dort ausgezogen ist – wie im Übrigen auch alles andere, was mit ihnen zu tun hat.
Trotzdem war es für mich immer anders. Ich habe die klassische Musik geliebt, wie sie es nie getan hat. Meine Eltern hatten kein Ohr dafür, meine Mutter hat in der Küche höchstens einmal Radio 2 gehört, und in einem verstaubten Regal im Wohnzimmer standen ein paar CDs. Sie legten manchmal eine ein, wenn Freunde zu Besuch kamen, aber im Grunde waren sie nie interessiert. Musik weckte bei ihnen keine Gefühle. Was Bands betraf, die meine Freundinnen mochten, hatte auch ich meine Fan-Phase, pinnte Poster an meine Zimmerwand und war mit Karina sogar auf Konzerten, aber nie mit dem Herzen dabei. Was Musik wirklich bedeuten konnte, habe ich erst begriffen, als ich bei meinem ersten Konzert mit klopfendem Herzen und Tränen in den Augen in der Dunkelheit neben Daniel saß, während Olivias Stimme warm auf mich nieder- und in mich hineinregnete.
Ich lege mich auf die Couch, will mich inmitten der Musik entspannen, behalte dann aber doch die Fernbedienung in der Hand für den Fall, dass ich den Schlüssel in der Tür und Sasha heimkommen höre. Vergangenen Freitag hatte ich nicht mit ihr gerechnet – ich dachte, sie wollte nach der Arbeit noch ausgehen –, doch dann war sie gegen sieben schlecht gelaunt nach Hause gekommen und hatte mich dabei ertappt, wie ich ausgerechnet Olivia hörte. Sie sagte zwar nichts, aber ich konnte ihren Unmut spüren, der wie Schallwellen unsichtbar, aber kraftvoll von ihr ausstrahlte. Ich stellte die Musik aus und versuchte noch, mit ihr zu reden, aber sie war bereits in ihr Zimmer marschiert und behauptete, sie wäre müde. Irgendwas war da eindeutig im Busch, auch wenn ich den Grund nicht herausfand. An diesem Freitag ist es nicht Sashas Schlüssel, sondern die Klingel, die mich unterbricht, sodass ich wie eine Marionette abrupt auf die Füße komme. Eilig stelle ich die Anlage aus und trete hinaus in den Flur.
»Jackson hier«, sagt jemand kurz angebunden über die Gegensprechanlage. Kein »Hallo«, kein »Störe ich« – für Jackson haben normale Begrüßungsfloskeln, das Schmieröl im sozialen Getriebe, keine Bedeutung. Ich seufze und mache unten auf, und dann warte ich, bis ich seine Schritte draußen im Treppenhaus höre, bevor ich die Wohnungstür öffne.
»Ist sie da?«, fragt er und schiebt sich an mir vorbei ins Wohnzimmer.
»Nein, sie ist noch nicht von der Arbeit zurück. Seid ihr verabredet?« Ich versuche, seine Schroffheit mit gleicher Münze heimzuzahlen.
»Seh ich so aus?«, erwidert er und wirft sich breitbeinig aufs Sofa. »Ich wollte sie eigentlich von der Arbeit abholen, aber … Sollte eine Überraschung sein.«
Immerhin blickt er beschämt drein. Wir wissen beide, dass er sie nur kontrollieren wollte.
»Sie war den ganzen Nachmittag weg. Die Frau vom Empfang hat mir erzählt, dass sie mittags gegangen ist, und auf ihrem Handy landet man direkt auf der Mailbox. Wenn sie nicht hier ist, wo ist sie dann?«
»Woher soll ich das verdammt noch mal wissen? Ich bin doch nicht ihre Babysitterin.« Ich versuche, den entrüstet-unterkühlten Ton beizubehalten, aber irgendwo in einem hinteren Eckchen meines Gehirns macht sich Besorgnis bemerkbar. Wo steckt sie?
»Aber weit davon entfernt bist du auch nicht«, entgegnet er. »Seid ihr nicht beste Freundinnen? Supereng miteinander? Erzählt euch alles und so?«
Die Stimme in meinem Kopf fragt sich, ob das wirklich stimmt; aber ich will nun mal, dass es so ist, und stimme ihm zu. »Sie erzählt mir alles, und was immer du glaubst, Jackson, sie ist mit niemand anderem zusammen. Ehrlich nicht. Sie liebt dich.«
Dieser letzte Satz klingt selbst in meinen Ohren schwach. Denn ganz sicher bin ich mir nicht. Und auch der ganze Rest klingt nicht vollends wahr. Zwölf Jahre Freundschaft sollten mit einem gewissen Verständnis, einem gewissen Durchblick einhergehen. Im Grunde sollten wir einander nicht mal erzählen müssen, was gerade los ist oder wie wir uns fühlen – wir sollten es einfach wissen. Normalerweise weiß ich es auch, aber seit gut einer Woche – seit Sasha dermaßen übel gelaunt nach Hause kam –, ist sie distanziert, weicht mir aus und blockt jeden Versuch meinerseits ab, der Sache auf den Grund zu kommen.
Jackson lässt die Schultern leicht hängen, als ihm dämmert, dass ich wirklich nicht weiß, wo sie steckt, und ich setze mich auf die Sessellehne.
»Was ist bloß mit ihr los, Ellen?«
Sein Gepolter ist Schnee von gestern. Mit einiger Überraschung muss ich feststellen, wie sehr ihm anscheinend wirklich an ihr gelegen ist.
»Ich meine – sie ist immer schon launisch gewesen, aber das hier ist doch etwas anderes. Und das hier ist in letzter Zeit auch nicht das erste Mal, dass ich sie beim Lügen erwische.«
»Was soll das heißen?«, hake ich nach und bin hin- und hergerissen, weil ich einerseits nicht so über sie reden, andererseits selbst Bescheid wissen will. In welcher Hinsicht hat sie ihn denn belogen?
»Ach, ich weiß nicht … dass sie nicht da ist, wo sie angeblich sein wollte, oder dass sie … mir ausweicht. Dass sie dichtmacht.«
»Aber so war sie doch schon immer.« Was der Wahrheit entspricht. Sie hat sich schon immer gern geheimnisvoll gegeben, sogar als wir Teenager waren und wenig Grund für Geheimniskrämerei hatten. »Das ist einfach ihre Art. Das bedeutet nicht …«
»Dass sie jemand anderen vögelt? Oh, werd’ erwachsen, Ellen. Sie ist keine Heilige, weißt du, sie hat genauso viele Macken wie wir anderen auch – wenn nicht noch mehr.«
»Ich weiß«, sage ich und habe mit einem Mal Gewissensbisse. »Ich hab aber auch nie behauptet, dass sie eine Heilige ist.«
»Nein, hast du nicht«, entgegnet er eingeschnappt. »Aber wir wissen alle, wie du über sie denkst – wie sehr du sie anhimmelst.«
»Sie ist meine beste Freundin!« Meine Wangen glühen. »Und was meinst du überhaupt damit – ›aber wir wissen alle‹? Wen meinst du mit wir
?«
»Vergiss es.« Misslaunig zupft er an einem losen Faden in seiner Jeans.
»Hör mal, hier ist sie nicht, und ich hab wirklich keinen Schimmer, wann sie wiederkommt«, sage ich so nachdrücklich, wie ich nur kann, stehe auf und gehe auf die Tür zu. Ich will ihn nicht hierhaben, ich will nicht, dass er unsere Wohnung mit seinen Vorwürfen und Andeutungen verpestet. »Wenn sie kommt, sag ich ihr, dass sie dich anrufen soll, okay?«
»Ich glaube, ich warte lieber«, sagt er und kramt eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche. »Irgendwann muss sie ja wieder aufkreuzen.«
Mein erster Gedanke ist, dass ich es hinnehmen muss, doch dann gebe ich mir einen Ruck. »Mir wäre es lieber, wenn du wieder gehst. Und geraucht wird hier nicht.«
Er seufzt theatralisch und schiebt die Zigarettenschachtel zurück in die Tasche. »Gut, dann geh ich eben. Aber sag ihr unbedingt, dass sie mich anrufen soll, sobald sie nach Hause kommt.«
Nachdem er gegangen ist, laufe ich in die Küche, wo mein Handy zum Aufladen am Kabel hängt, und rufe Sasha an. Die Mailbox springt sofort an. Ich höre mir ihre Ansage an, als hätte sie darin heimlich einen Hinweis versteckt. »Hi, das ist die Nummer von Sasha, ich bin gerade nicht zu sprechen, hinterlass mir also eine Nachricht.« Man kann hören, dass sie gelächelt hat, als sie die Ansage aufgenommen hat.
»Hey, ich bin’s. Jackson war hier und hat gemault, dass du nicht bei der Arbeit warst. Wo steckst du? Ruf mich an, wenn du das hier abhörst.«
Ich lege das Handy wieder weg, lehne mich gegen die Arbeitsplatte und starre aus dem Fenster. Von dieser Seite der Wohnung aus ist draußen nicht viel zu sehen. Das nächste Wohnhaus steht ungefähr fünf Meter von unserem entfernt, und dazwischen verläuft nur ein Streifen löchrigen Asphalts. In der Wohnung direkt gegenüber wohnt ein Punk-Pärchen, so richtig oldschool mit Irokesenschnitt. Manchmal lächeln sie und winken uns zu, wenn sie in der Küche stehen und kochen, aber heute scheinen sie nicht da zu sein. Das Einzige, was man noch sehen kann, ist ein Stück Gehweg, der in Richtung Bahnhof führt; der Strom der Pendler, die nach der Arbeit jetzt auf dem Heimweg sind, reißt gar nicht mehr ab. Sasha ist nicht dabei. Wieder verspüre ich diese leichte Besorgnis. Erinnerungen drücken gegen eine Tür, die ich ihnen eigentlich schon vor Jahren vor der Nase zugeschlagen habe.
Ich setze mich an unseren winzigen Küchentisch am Fenster, nehme den Kuli zur Hand, der irgendwie in der Obstschale gelandet ist, und drehe ihn hin und her. Er ist undicht, und im Nu sind meine Finger ganz fleckig. Normalerweise müsste sie längst von der Arbeit zurück sein, würde erzählen, was heute passiert ist, uns beiden ein großes Glas Wein einschenken und den Kühlschrank durchwühlen und nachsehen, was sie kochen könnte. Mit meinen Schichten beim Sender und den freiberuflichen Aufträgen habe ich zwar keinen klassischen Nine-to-five-Job, aber wenn ich mal zu Hause bin, ist das mein liebster Moment des Tages.
Ich habe Hunger, aber nur für mich allein zu kochen, dazu habe ich gerade keine Lust. Stattdessen schiebe ich eine Scheibe Brot in den Toaster. Ich nehme mir nicht mal einen Teller, als ich das Brot esse und in den Abend hinausstarre. Je dunkler es wird, umso weniger Passanten gehen dort unten vorbei. Von Sasha immer noch keine Spur. Ich rufe erneut auf ihrem Handy an, aber da springt nach wie vor sofort die Mailbox an. Die nervige Stimme in meinem Kopf, die ich verzweifelt versucht habe zu ignorieren, ist lauter geworden. Um sie zu übertönen, schalte ich Olivias CD wieder an, was sich als Fehler erweist, weil mir auf diese Weise jene Zeit sofort wieder klar vor Augen steht, und was als Flüstern begonnen hat – als Frage, als Andeutung –, wächst sich zu einer Stimme aus, die ich nicht mehr zum Schweigen bringen kann.
Was, wenn er wieder da ist?
, fragt sie. Was, wenn er von seinem neuen Leben in Schottland die Nase voll hatte? Was, wenn er einfach nur auf den richtigen Moment gewartet und uns in trügerischer Sicherheit gewiegt hat? Wenn er bloß darauf gelauert hat, bis eine von uns die Deckung fallen lässt und einen Fehler macht? Was, wenn er sie bei der Arbeit abgefangen hat? Was, wenn er ihr nachgelaufen ist, sie in irgendeiner dunklen Ecke abgepasst und in seinen Wagen gezerrt hat?
Nein. Sie ist einfach ausgegangen, und ihr Handyakku ist leer, das ist alles. Sie kommt demnächst heim, riecht nach Wein und Zigaretten, fällt mir um den Hals, umarmt mich, ist anhänglich und albern drauf, lallt ein bisschen, gibt den neuesten Klatsch und Tratsch zum Besten und ist indiskret wie eh und je. Wir sitzen bis spätnachts zusammen, wie so oft; morgen früh mache ich Tee, und mit einem Auge sehen wir uns bei ihr im Zimmer Saturday Kitchen
an, dann ein paar Klamotten auf diversen Online-Anbietern, und planen einen Shoppingausflug für den Nachmittag.
Inzwischen ist es draußen komplett dunkel geworden, und immer noch sitze ich hier. Ich hab das Licht in der Küche nicht angemacht, sodass ich nach draußen sehen kann, statt mein Spiegelbild im Fenster zu bewundern. Der Gehweg ist mehr oder weniger leer; nur vereinzelt kommt noch jemand spät von der Arbeit nach Hause – Blick gesenkt, schnelle Schritte –, und Freunde laufen plaudernd und lachend in Richtung Pub. Unterdessen sitze ich hier, warte, liege auf der Lauer. Versuche, die Stimme zum Schweigen zu bringen, die in mein Gehirn vordringt, die an den Mauern vorbei und durch die Schlösser sickert, die ich rund um mich herum installiert habe, um sie auf Abstand zu halten, und die in mir widerhallt. Die Stimme, die mich daran erinnert, dass Daniel Monkton zu zehn Jahren verurteilt worden ist, wovon er fünf Jahre abgesessen hat – und fünf auf Bewährung in Freiheit verbrachte, wobei jeder seiner Schritte überwacht wurde. Die Stimme, die mir erzählt, dass Daniel Monkton seine Strafe verbüßt hat, überall hingehen und jeden kontaktieren darf, wenn er nur will. Die Stimme, die sagt, dass Daniel Monkton zurück ist und will, dass wir dafür bezahlen, was wir getan haben.