Ellen
September 2017
Die Frau am anderen Ende der Leitung spricht mit einem Yorkshire-Akzent und hat die Ruhe weg. Sie fragt nach einigen Einzelheiten und versichert mir dann, dass sie eine Kollegin schickt, die innerhalb der nächsten Stunde bei mir vorbeikommt. Während ich auf sie warte, gehe ich erneut Sashas Besitztümer durch und versuche herauszufinden, ob etwas fehlt. Ich weiß nicht mal, was sie am vergangenen Morgen angehabt hat – ich hab noch geschlafen, als sie unsere WG verlassen hat. Ihr Mantel ist natürlich weg, aber das ist auch schon alles.
Zum wiederholten Mal versuche ich es auf ihrem Handy und hoffe – wider besseres Wissen –, dass sie diesmal rangeht, doch wieder springt nur die Mailbox an, und sie fordert mich lächelnd auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich hab ihr schon mehrere draufgesprochen, hab sie angebettelt, zurückzurufen und Bescheid zu geben, ob mit ihr alles in Ordnung ist, und hinterlasse eine weitere Nachricht.
»Sash, ich bin’s wieder, ich mach mir Sorgen. Wenn … Wenn ich irgendwas getan haben sollte, weswegen du sauer auf mich bist, dann tut es mir leid. Hab’s nicht so gemeint. Bitte komm wieder. Ich hab die Polizei angerufen, die schicken jetzt jemanden hier vorbei. Ich weiß nicht, ob du das hier abhörst, aber wenn ja, also … Ich finde dich irgendwie.«
Ich bin immer noch in ihrem Zimmer, als es an der Tür klingelt. Ich laufe in den Flur, und eine Frau stellt sich über die Gegensprechanlage als PC Bryant vor. Ich mache ihr auf und warte auf sie an der Wohnungstür. Ich kann sie die Treppe raufkommen hören, und dann ist sie da, kommt auf unserem Treppenabsatz um die Ecke und läuft über den Flur auf mich zu. Ich versuche, so was wie ein Lächeln zustande zu bringen, auch wenn ich mich im ganzen Leben nie weniger danach gefühlt habe.
»Sie müssen Ellen sein«, sagt sie und gibt mir die Hand. »Ich bin PC Bryant.« Sie ist etwas älter als ich, vielleicht Mitte dreißig, zierlich wie ein Vögelchen, hat kurz geschnittene, rot gefärbte Haare und ist ungeschminkt.
»Kommen Sie rein«, sage ich und führe sie durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer. »Möchten Sie einen Tee?«
»Ja, das wäre nett. Sieht aus, als könnten Sie selbst auch einen vertragen.« Sie lächelt, und im selben Moment dämmert mir, wie ich auf sie wirken muss – in den Klamotten von gestern, das Make-up unter den geröteten Augen verschmiert, die Haare noch vom Nachtschlaf am Hinterkopf platt gedrückt.
In der Küche spritze ich mir Wasser ins Gesicht, fahre mir mit den Fingern durchs Haar und versuche, mich halbwegs präsentabel zu machen. In dem fragwürdigen Versuch, einen effizienten, gefassten Eindruck zu erwecken, stelle ich die Becher auf ein Tablett, statt sie einfach per Hand zurückzutragen. Allerdings stehen sie zu nah zusammen, sodass sie aneinanderklirren, während ich sie ins Wohnzimmer bringe, und der Tee überschwappt, als ich das Tablett auf dem Couchtisch abstelle und mich setze.
»Ich weiß, Sie müssen außer sich vor Sorge sein«, beginnt Bryant und streckt sich nach ihrem Becher aus. »Aber für den Fall, dass es Sie beruhigt: Die Mehrzahl vermisster Personen taucht binnen ein, zwei Tagen unversehrt wieder auf. Bestimmt gilt das auch für Ihre Freundin Sasha.«
Ich nehme einen Schluck Tee, auch wenn er noch viel zu heiß ist. Es beruhigt mich nicht im Geringsten. Es ist mir egal, was mit anderen vermissten Personen ist – wir reden hier von meiner
besten Freundin.
»Ist sie das?« Bryant zeigt auf ein Foto von Sasha, das auf dem Beistelltisch steht. Es ist im Sommer bei der Hochzeit unserer Freunde Kate und Jonny entstanden – den Ersten aus unserer Clique, die geheiratet haben. Es ist eine Nahaufnahme, und Sasha lacht von der Kamera weg über irgendwas, was jemand gesagt hat. Ich weiß allerdings noch, dass sie später am Abend nicht mehr gelacht hat, weil sie betrunken und rührselig war und mich nicht hat einschlafen lassen, sondern sich noch stundenlang über Jacksons besitzergreifende Art ausgelassen hat und nicht aufhörte zu lamentieren, er sei nicht der Richtige für sie, bis ich sie irgendwann am liebsten gepackt und geschüttelt hätte. Sie versuchte, sich selbst als eine Art tragische Heldin in ihrer eigenen Lebensgeschichte darzustellen, und spielte auf verflossene Liebhaber an, die rechtzeitig von ihr losgekommen seien, nur war ich zu müde und betrunken und hatte auch keine Lust mehr, ihr Spielchen mitzuspielen, als dass ich ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit hätte nachkommen können. Ich weiß nicht, wie sie auf die Idee kam, diese Show für mich zu inszenieren – ich hatte im Lauf der Jahre all ihre Freunde doch live miterlebt und war mir sicher, dass sie für keinen von ihnen je tiefere Gefühle gehegt hatte.
»Ja«, sage ich zu Bryant. »Wollen Sie das mitnehmen?«
»Ja bitte.«
Ich nehme es aus dem Rahmen und halte es ihr hin.
»Das ist schon mal klasse«, sagt Bryant, »aber könnten Sie Sasha auch in Ihren eigenen Worten beschreiben?«
»Sie ist …« Ich unterbreche mich. Fast hätte ich gesagt, dass sie schön ist, weil das nun mal das Erste ist, was einem auffällt, wenn man sie ansieht. Sie ist nicht nur hübsch oder attraktiv. Sie ist einfach bildschön, wie ein Filmstar. Aber das will die Polizei sicherlich nicht hören. »Sie ist eins sechsundsiebzig groß, schlank, lange blonde Haare, blaue Augen.« Ich hole tief Luft, um das kranke, panikähnliche Gefühl loszuwerden, ich würde sie genauso beschreiben wie in einer Vermisstenmeldung im Fernsehen. »Auf der rechten Wange hat sie eine Narbe aus Kindertagen, die man allerdings nur sieht, wenn sie ungeschminkt ist. Was sie gestern anhatte, weiß ich leider nicht – mal abgesehen von ihrem Mantel. Der ist rot – knielang, aus Wolle. Und ihre schwarzen Stiefeletten fehlen auch.«
»Okay, das ist schon mal gut. Ich weiß, Sie haben das am Telefon schon alles gesagt, aber könnten Sie mir noch mal erzählen, wann Sie Sasha zuletzt gesehen haben?«
»Vorgestern, bevor ich ins Bett gegangen bin. Aber sie war gestern Morgen noch da, ist dann allerdings zur Arbeit gegangen, bevor ich aufgestanden bin. Ihr Freund, Jackson, ist gestern Abend gegen sechs hier gewesen. Er hätte sie von der Arbeit abholen sollen, aber dort ist sie ungefähr um Mittag gegangen. Gestern Abend ist sie dann nicht heimgekommen, und ich kriege sie auch nicht ans Telefon. Jackson hat sämtliche Krankenhäuser abtelefoniert, aber dort ist sie nirgends, und ich hab all ihre Freunde angerufen, die mir eingefallen sind. Niemand hat etwas von ihr gehört.«
»War das denn nicht geplant, dass sie so etwa um die Mittagspause gehen würde?«
»Nein, soweit ich weiß, hätte sie den ganzen Tag dort sein sollen. Zumindest ist Jackson davon ausgegangen. Er … war nicht begeistert.«
»Was meinen Sie damit?«, fragt Bryant in komplett neutralem Ton, auch wenn sie aufgemerkt hat wie eine Katze, die eine Maus ins Visier nimmt.
»Er hat es nicht direkt gesagt, aber …« Ich zögere kurz, will Jackson nicht anschwärzen – er hat mit der Sache rein gar nichts zu tun. Allerdings darf ich die Polizei auch nicht anlügen, nicht in dieser Situation. »Er hat vermutet, dass sie früher von der Arbeit weg ist, weil sie jemanden treffen wollte. Hat sie aber nicht, das weiß ich genau.«
»Wir wissen nicht immer alles über unsere Freunde, nicht mal über diejenigen, denen wir am nächsten stehen.«
»Ich schon«, entgegne ich. »Sie ist meine beste und älteste Freundin. Wir erzählen uns alles.«
»Okay«, sagt Bryant mit nervtötender Gelassenheit. »Was für einen Eindruck hat sie am Donnerstagabend gemacht? War sie wie immer?«
»Ja«, antworte ich, denn was sollte ich sonst sagen? Ich kann schließlich nicht erzählen, dass sie anders als sonst war, unglaublich launenhaft: in einem Moment charmant, im nächsten ein Albtraum von einer Zicke. Manche Leute sind damit nie klargekommen. Sie hat wie ein Buschfeuer durch Freundschaften gewütet, ihre Opfer ausgebrannt und erschöpft am Wegesrand zurückgelassen; erleichtert womöglich auch, aber ohne Sasha im Leben definitiv auch viel ärmer. Bei mir war das anders. Ich hätte sie nie aufgegeben. Sie braucht mich, würde ich sagen, auch wenn unsere Freunde wahrscheinlich überrascht wären, so etwas zu hören und es eher andersherum erwarten würden. Aber sie ist nicht so hart, wie es den Anschein hat. Nicht tief im Innern.
»Und wie war sie davor, in letzter Zeit? Ist vielleicht etwas passiert, worüber sie sich aufgeregt hat? Hat sie mit jemandem Streit gehabt?«
Ich muss wieder daran denken, wie sie am vergangenen Freitag hier reingerauscht war. Hatte sie sich da wegen der Musik aufgeregt, die ich aufgelegt hatte? Sie war den ganzen Abend nicht mehr aus ihrem Zimmer gekommen, und später dann nahm ich eine gewisse Kälte an ihr wahr, einen Hauch Abwesenheit.
»Nein«, antworte ich trotz allem. Denn weswegen auch immer sie so abweisend war – ich könnte es der Polizistin ohnehin nicht erklären. »Sie hat mal mit ihrem Freund gestritten, aber das ist schon ein bisschen her.«
»War er ihr gegenüber gewalttätig?«, hakt sie nach.
»Nein, nie im Leben. Reden Sie auch mit ihm?« Mir ist leicht mulmig bei dem Gedanken, Jackson in diese Sache mit reinzuziehen. Dann bringe ich mich zur Räson. Er wird auch helfen wollen – er ist genauso besorgt, wie ich es bin.
»Ja, selbstverständlich«, sagt sie. »Haben Sie mal in ihrem Zimmer nachgesehen? Fehlt dort irgendwas? Ein Koffer? Kleidungsstücke?«
»Ich hab ihre Sachen nach …« Ich spreche den Satz nicht zu Ende, weil ich mir nicht sicher bin, ob dies der Zeitpunkt ist, an dem ich Daniel erwähnen sollte – oder ob ich ihn überhaupt zur Sprache bringen darf. »Ich glaube nicht, dass etwas fehlt. Ihr Koffer ist jedenfalls da und ihr Reisepass auch.«
»Wäre es in Ordnung, wenn ich auch selbst einen Blick in ihr Zimmer werfen würde?«
Sie folgt mir den Flur entlang zu Sashas Zimmer und sieht sich mit kaum verhohlenem Entsetzen die herumliegenden Kleidungsstücke an, die Staubschicht auf sämtlichen Oberflächen, die schmutzigen Becher auf dem Nachttisch.
»Ist das … normal, dass ihr Zimmer so unordentlich ist?«, will sie betont beiläufig wissen.
»Ja«, antworte ich, gehe in die Hocke und sehe unter dem Bett nach. »Ich putze im Rest der Wohnung, aber sie dreht durch, wenn ich hier in ihrem Zimmer sauber machen will. So hat sie es einfach gern.« Ich schiebe ein Paar Stiefel beiseite, die aussehen, als würden sie schimmeln, und kann dahinter den glänzend pinkfarbenen Koffer sehen. »Ihr Koffer ist da drunter«, sage ich und stelle mich wieder hin. »Ich bin mir sicher, dass hier aus dem Zimmer nichts fehlt, auch wenn es wirklich nicht ganz leicht zu sagen ist.«
»Okay.« Bryant sieht sich weiter um. »Würden Sie sagen, dass Sasha depressiv war? Hat sie über Selbstmord nachgedacht?«
»Nein!« Die Nachdrücklichkeit in meiner Stimme überrascht uns beide. »Sorry, ich wollte nicht schreien. Nein, so jemand ist sie nicht.«
»Eine Depression kann jeden treffen, und die Zeichen sind nicht immer leicht zu erkennen.«
»Ja, das ist mir schon klar – aber sie hatte nie irgendwelche psychischen Probleme. Sie ist nicht depressiv.«
»Das ist gut«, erwidert sie. »Dann würden Sie sie also nicht als irgendwie … verletzlich
beschreiben?«
»Nein«, antworte ich sofort, obwohl Sasha durchaus verletzlich ist, wenn auch nicht so, wie Bryant meint. Sie ist stark und stressresistent. Wie aus Titan. Ich weiß nicht, was ihr zugestoßen ist, aber bei einer Sache bin ich mir vollkommen sicher: Sie hat sich nicht von einer Brücke gestürzt – da hätte sie verloren, aber Sasha hat immer schon unbedingt gewinnen wollen.
»Das hier muss ich jetzt fragen: Hat Sasha je mit der Polizei zu tun gehabt? Ist sie je festgenommen worden?«
»Nein.« Ihr einziger Kontakt zur Polizei war der gleiche wie bei mir selbst: vor elf Jahren, am Küchentisch der Monktons, an dem die lebhafte Fröhlichkeit schlagartig in hämmernde Kopfschmerzen und ein krankhaftes Bedrohungsgefühl umgeschlagen ist.
»Ist sie je einem Verbrechen zum Opfer gefallen?«
»Nein.«
»Sie würden also sagen, dass es ihr nicht ähnlich sieht, einfach so zu verschwinden? Ohne jemandem Bescheid zu geben?«
»Genau«, sage ich ohne Zögern, doch dann schießt mir etwas durch den Kopf, und sie muss es mir angesehen haben, weil sie mich urplötzlich hellwach ansieht.
»Hat sie das noch nie gemacht?«, will sie wissen.
»Also …«
»Ja?« Sie sieht mich unverwandt an.
»Vor Jahren mal, als wir noch deutlich jünger waren. Aber das hat mit diesem Mal nichts zu tun.«
Sie bedenkt mich mit einem Blick, der mir sagt, dass sie das beurteilen wird. »Selbst wenn nicht«, sagt sie dann, »könnte es nützlich sein. Wenn sie so etwas in der Art schon mal gemacht hat, könnte es Ihnen – oder uns – einen Hinweis darauf geben, wo wir diesmal nach ihr suchen sollten.«
Ich sehe mich in ihrem Zimmer um. Ihre Habseligkeiten sind mir so vertraut wie meine eigenen, und die Angst davor, sie zu verlieren, ist dermaßen überwältigend, dass ich kaum noch Luft bekomme.
»Das war 2006.« Jetzt, da ich beschlossen habe, davon zu erzählen, sprudelt es nur so aus mir heraus. »Da waren wir siebzehn – im Sommer, nachdem wir in die Oberstufe gekommen waren. Wir hatten davon gesprochen, vielleicht zusammen durch Europa zu fahren, aber noch nichts gebucht, erst mussten wir uns das Geld dazu verdienen. Also, zumindest ich.«
»Sie hatte Geld?«, hakt Bryant nach.
»Irgendwie hatte sie immer welches, ja. Ich hatte einen Aushilfsjob, samstags im Body Shop, aber sie ist nie arbeiten gegangen. Ich glaube, Olivia und Tony waren da relativ großzügig.«
»Olivia und Tony?«
»Ihre Paten. Bei denen hat sie gewohnt, seit sie sechzehn war.«
»Was ist in dem Sommer passiert?«
»Wie schon gesagt, wir hatten geplant zu verreisen. Ich hatte ein paar zusätzliche Schichten bei Body Shop organisiert und dachte, ich würde es mir vielleicht leisten können, die letzten Ferienwochen weg zu sein, bevor die Schule wieder losgehen würde. Ich bin zu ihr rüber, um alles zu besprechen – sie hat nur ein Stück die Straße runter gewohnt –, und … na ja. Weg war sie.«
»Wie meinen Sie das?«
»Olivia war damals allein zu Hause, und sie sagte erst nur, Sasha sei nicht zu Hause, allerdings wusste sie auch nicht, wohin sie gegangen war. Also hab ich sie angerufen, aber das Handy war aus …« Wie ähnlich die beiden Geschichten klingen; schlagartig ist mir die ganze Situation unangenehm.
»Erzählen Sie weiter«, fordert Bryant mich auf.
»Olivia hat versprochen, Sasha Bescheid zu geben, dass sie mich anrufen soll, sobald sie wieder zu Hause ist. Aber ich wollte stattdessen dort auf sie warten.« Olivia war nicht begeistert gewesen, als wäre sie sauer oder wüsste etwas, was sie mir lieber nicht erzählen wollte.
»Dort bei ihrer Patentante? Obwohl Sasha nicht zu Hause war?«, hakt Bryant nach.
»Ja. Wir … standen uns einigermaßen nahe. Ich kam damals mit Olivia und Tony besser klar als mit meinen eigenen Eltern.« Tränen brennen mir in den Augen, und ich ahne, dass meine Stimme gleich bricht. Auch wenn Olivia irgendwie abwesend wirkte, weiß ich noch, dass sie gut drauf war. Wir setzten uns an den zerkratzten Eichentisch, tranken Earl Grey und redeten über meine Zukunft. In der Schule war im vergangenen Jahr bei mir einiges schiefgelaufen. Ich hatte mich zu sehr in die Dramen und Aufregungen des Lebens im Hause Monkton verwickeln lassen, was sich am Schuljahresende in meinen Noten niedergeschlagen hatte. Trotzdem will ich diese Zeit nicht missen, in der ich häufiger dort als bei mir zu Hause war. Ich mochte die Abende an diesem Tisch, an denen Tony mir unerlaubterweise ein Glas Wein zuschob und ich mich in lautstarke Debatten um Politik, Bücher, Kunst einmischte. Wenn die Monktons nicht gewesen wären, hätte ich niemals den Weg eingeschlagen, der mich zu meinem Traumjob geführt hat – ganz egal, wie schlecht bezahlt und unsicher er auch ist. Ich wäre wahrscheinlich nie an die Uni gegangen. Ich wäre dem Rat meiner Mutter gefolgt, hätte mich glücklich geschätzt, überhaupt eigenes Geld zu verdienen, und als Vollzeitkraft bei Body Shop die Schüler verteufelt, die dort einfielen und für ein paar Wochen im Jahr stundenweise in den Ferien dort jobbten, nur um auf die Vollzeitangestellten hinabzuschauen, weil die ein derart bedauernswertes, triviales Leben führten. Genau das hätte ich ohne Olivia und Tony gehabt – ein triviales Leben.
»Was ist dann passiert?«, fragt Bryant und reißt mich zurück in die kalte Realität von Sashas verwaistem Zimmer.
»Sie ist nicht nach Hause gekommen. Ich war an dem Nachmittag so gegen drei zu den Monktons gegangen und hab bis etwa sechs Uhr mit Olivia zusammengesessen, doch Sasha kam nicht mehr nach Hause, also bin ich wieder gegangen. Ich hatte meiner Mutter versprochen, dass ich zum Abendessen zurück wäre.« Das weiß ich noch haargenau, weil Mum und ich darüber in Streit geraten waren. Sie hatte mir vorgeworfen, mehr Zeit bei den Monktons als bei uns zu Hause zu verbringen. Heute schäme ich mich insgeheim, wenn ich daran denke, wie ich sie gefragt habe, warum sie das überhaupt stört. Tony und Olivia haben über meine Mutter nie auch nur ein schlechtes Wort verloren, aber ich wusste natürlich, wie vorstädtisch, wie fast schon lächerlich kleinbürgerlich sie Leute wie uns fanden. Da ging es nicht um Geld – irgendwie schienen sie selbst nie viel zu haben, und es ging sogar so weit, dass sie genau darauf fast schon stolz zu sein schienen. Nein, es war subtiler – eine Art intellektueller, künstlerischer Snobismus, würde ich sagen, auch wenn ich es damals nicht als solchen erkannt habe. Ich glaubte damals schlicht und ergreifend, sie hätten recht, und erzählte deshalb auch so wenig wie möglich von zu Hause, damit ich mich bloß nicht verplapperte.
»Olivia hat abends um zehn bei mir angerufen«, fahre ich fort. »Sie hat sich Sorgen gemacht. Sasha war immer noch nicht wieder nach Hause gekommen, und angerufen hatte sie auch nicht. Ihr Handy war immer noch ausgeschaltet, und von den Freunden, die Olivia kannte und angerufen hatte, wusste keiner, wo sie steckte.«
»Hat sie damals die Polizei alarmiert?«, will Bryant wissen.
»Nein, sie …« Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, weil sie es nicht getan hat. Warum, weiß ich nicht, aber das will ich Bryant nicht erzählen. »Ich glaube, sie ist davon ausgegangen, dass Sasha irgendwo unterwegs war und die Zeit aus den Augen verloren hat oder so.« Doch selbst in meinen Ohren klingt das zu einfach.
»Ist das denn öfter passiert?«
»Nein«, antworte ich widerstrebend. »Aber wir waren damals siebzehn und keine zwölf mehr, da ist Sasha gekommen und gegangen, wie es ihr gefiel. Aber egal – sie ist an dem Abend jedenfalls nicht mehr nach Hause gekommen. Olivia hat am nächsten Morgen wieder durchgeklingelt, und ich glaube, da wollte sie auch die Polizei alarmieren, aber dann hat Sasha angerufen … irgendwann im Lauf des Vormittags war das, glaube ich.«
»Und wo war sie?«, fragt Bryant.
»In Frankreich.«
»In Frankreich? Was hat sie denn dort gemacht?« Sie klingt, als könnte sie sich wirklich nicht vorstellen, wie man auf die Idee kommen könnte, ausgerechnet dorthin zu reisen.
Ich beschließe, ihr die offizielle Version zu erzählen. Sie hat keinen Einfluss darauf, was jetzt gerade passiert, und ich will nicht, dass sie glaubt, Sasha wäre schon wieder mit jemandem aneinandergeraten und hätte deshalb beschlossen, das Weite zu suchen. Die Polizei muss nach ihr suchen.
»Sie hatte ein paar alte Bekannte getroffen – ein Pärchen, das sie noch aus der Zeit kannte, bevor sie zu den Monktons gezogen ist. Die beiden waren unterwegs nach Frankreich, um dort auf einem Weingut zu arbeiten, und sie hat spontan beschlossen, sich ihnen anzuschließen. Als sie zu Hause vorbeikam, um ihren Pass zu holen und ein paar Klamotten zu packen, war niemand da. Die Aussicht auf das Abenteuer war einfach wichtiger, und sie hat schlicht vergessen, Bescheid zu geben, dass sie für eine Weile weg sein würde.«
Damals konnte ich an gar nichts anderes mehr denken als daran, wie sie mir das hatte antun können: einfach ohne mich nach Frankreich abzuhauen und mich bei Body Shop zwischen White-Musk-Flakons sitzen zu lassen, obwohl wir doch andere Pläne gehabt hatten. Ich war am Boden zerstört und enttäuscht. An der Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte habe ich damals keine Sekunde gezweifelt.
»Und wie lange war sie weg?«
»Für den Rest der Ferien. Etwas mehr als vier Wochen.«
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Karina lag mir in einem fort in den Ohren, ich solle mit zu den Monktons kommen und Nicholas und Daniel fragen, ob sie mit uns ausgehen wollten, aber ohne Sasha fühlte es sich für mich komisch an rüberzugehen. Da war diese eine, ziemlich seltsame Party bei den Monktons gewesen, aber ansonsten hatte ich von der Familie kaum noch etwas mitbekommen. Olivia hatte einen eigenartigen Unterton gehabt, als sie mich anrief, um mir zu erzählen, dass Sasha sich gemeldet habe – eine Stimmlage, die ich an ihr zuvor noch nie gehört hatte. Natürlich war sie – verständlicherweise – sauer auf Sasha gewesen, immerhin hatte sie eine schlaflose Nacht hinter sich gehabt und war drauf und dran gewesen, die Polizei hinzuzuziehen. Aber das war noch nicht alles. Früher hatte sie über Sasha immer wohlwollend gesprochen, und ich hatte das Gefühl gehabt, dass sie sich als Mutter zweier Söhne darüber freute, mit einem Mal eine Quasi-Tochter bekommen zu haben. Doch an jenem Tag am Telefon hatte sie so unterkühlt geklungen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. So distanziert, als würde sie von jemandem sprechen, den sie kaum kannte.
Sasha selbst hatte sich in der ganzen Zeit kaum bei mir gemeldet. Hier und da war eine Nachricht gekommen, als wollte sie mir signalisieren, dass sie mich nicht komplett vergessen hatte. Ich antwortete ihr sogar, weil ich nicht wollte, dass sie merkte, wie sehr sie mich verletzt hatte. Als sie wieder da war, war das Band zwischen uns ein wenig ausgeleierter und dünner als zuvor. Womöglich drohte es sogar zu reißen, aber noch weigerte ich mich, sie gehen zu lassen. Wenn ich nicht so sehr an ihr festgehalten hätte, wären wir zu diesem Zeitpunkt vielleicht auseinandergedriftet, und alles wäre anders gekommen.
»Also«, schlussfolgert Bryant in einem Tonfall, bei dem mir klar ist, dass mir nicht gefallen wird, was von ihr als Nächstes kommt. »Dann sieht es Sasha auch nicht ganz unähnlich, einfach mal so zu verschwinden, ohne jemandem Bescheid zu geben?«
»Das war vor elf Jahren! Da waren wir siebzehn! In diesem Alter machen Leute alles Mögliche. Das hier ist etwas anderes. Sie ruft immer an, wenn sie nicht nach Hause kommt.«
Mein Gott, sie glaubt mir nicht! Wird sie dann überhaupt nach ihr suchen?
»Ich weiß, dass das schwer ist«, sagt sie und berührt mich am Arm. Instinktiv wische ich ihre Hand beiseite. »Aber Erwachsene dürfen verschwinden. Es klingt wirklich nicht so, als wäre Sasha gefährdet oder könnte womöglich Selbstmord begehen oder eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen, insofern ist ihr Verschwinden derzeit wohl als wenig riskant einzustufen.« Ich will schon protestieren, doch sie hebt die Hand. »Das bedeutet nicht, dass wir nichts unternehmen, Ellen. Hat Sasha ein Auto?«
»Nein. Aber ich hab eins, ich fahre sie überallhin, wo sie sonst nicht hinkommt. Da braucht sie kein eigenes, erst recht nicht in London.«
»In Ordnung. Was ich von Ihnen außerdem noch bräuchte, wären sämtliche Informationen, die Sie mir geben können, also Telefonnummern, Providerdaten, Konten bei sozialen Netzwerken, Bankkonten, Hausarzt … Das gehen wir am besten alles noch gemeinsam durch. Wir geben die Details an diverse Fahndungsstellen für vermisste Personen weiter, jagen ihren Namen durch unsere Datenbanken, um zu sehen, ob sie mit der Polizei Kontakt aufgenommen hat, und checken sämtliche Krankenhäuser. Ich weiß schon, Sie haben gesagt, Sashas Freund hat das schon gemacht« – wieder berührt sie mich dabei am Arm –, »aber wir wollen auf Nummer sicher gehen – für den Fall, dass er eins übersehen hat. Außerdem bräuchte ich bitte die Kontaktdaten ihres Freundes, ihrer Arbeitsstelle und von Familie, Freunden und anderen Kontaktpersonen. Wer immer sie in letzter Zeit gesehen oder mit ihr gesprochen haben könnte.«
Familie. Ergibt es Sinn, die Monktons zu kontaktieren, obwohl ich doch weiß, dass Sasha sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat? Auch ihre Mutter erwähnt sie nie auch nur mit einer Silbe, und ich frage auch nicht, weil mir klar ist, dass es ein Tabuthema ist, auch wenn ich den Grund dafür nie so recht begriffen habe. Widerwillig gebe ich Bryant die Adresse der Monktons, nenne ihr den Namen von Sashas Mutter, erkläre ihr aber, dass ich von Letzterer keine Kontaktdaten habe, weil Sasha selbst keinen Kontakt mehr zu ihr hat. Bryant meint, sie wird es sich ansehen.
»Also«, sagt sie überdies, »dann ist das hier die Adresse von Tony und Olivia Monkton, Sashas Paten? Hat Sasha sonst noch Familie? Brüder? Schwestern?«
Womit wir beim Thema wären. »Keine Brüder oder Schwestern, nein.«
»Aber?«
»Es ist … Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten, aber …«
»Sprechen Sie weiter. Was immer Sie mir erzählen, könnte am Ende hilfreich sein, um sie zu finden.«
O Gott. »Als wir noch jünger waren, hat der ältere Sohn der Monktons, Daniel, eine unserer Freundinnen während einer Party vergewaltigt. Sasha und ich haben bei Gericht gegen ihn ausgesagt. Er war … stinkwütend auf uns. Hat uns zumindest teilweise die Schuld gegeben.«
»Inwiefern?«
»Er hat uns vorgeworfen, bei Gericht gelogen zu haben. Was total wahnhaft war. Wir haben einfach nur die Wahrheit gesagt. Er war derjenige, der gelogen hat.«
»Ist er verurteilt worden?«
»Ja. Hat zehn Jahre bekommen, saß fünf davon im Gefängnis ab. Ist vor fünf Jahren auf Bewährung freigekommen.«
»Dann ist die Bewährungsfrist kürzlich erst abgelaufen?«
»Ich glaube schon. Ich weiß es nicht genau. Er hat in Schottland gelebt, glaube ich, aber … Meine Mutter wohnt immer noch in der Nähe der Monktons, und sie glaubt, ihn kürzlich erst auf der Straße erkannt zu haben. Wie er zu seinem Elternhaus lief.«
»Sie haben gesagt, er sei wütend gewesen …«
»Ja, er hat uns Briefe geschickt. Einen unmittelbar vor dem Urteilsspruch und dann ein paar, nachdem die Haftstrafe auf Bewährung ausgesetzt wurde.«
»Hat er Sie bedroht?«
»Er hat geschrieben, dass wir … dass wir für das, was wir getan haben, bezahlen würden.«
»Haben Sie diese Briefe hier?« Inzwischen sieht sie alarmiert aus und sitzt gleich ein Stück aufrechter.
»Nein. Sasha hat sie aufgehoben, und ich hab in ihrem Zimmer überall danach gesucht, aber nichts gefunden.«
»Hat sie sie vielleicht vernichtet?«
»Schon möglich.«
»Sind Sie damit je bei der Polizei gewesen?«
»Nein. Sasha meinte damals, es hätte keinen Sinn.« Genauer gesagt meinte sie, dort würden sie ohnehin nichts unternehmen – oder noch schlimmer: Es könnte sie auf die Idee bringen, dass da etwas dran sei, dass wir tatsächlich gelogen hätten. Sie behauptete, wir seien nicht wirklich in Gefahr. Und natürlich hatte sie recht: Explizite Drohungen waren es nicht – nicht mehr nach dem ersten Brief. Eines Tages werdet ihr dafür bezahlen.
»Was glauben Sie? Könnte Daniel etwas damit zu tun haben, wo Sasha gerade steckt?«
»Vielleicht … keine Ahnung.« Ich muss an den anhaltenden, heimlichen Missbrauch denken, dem Karina ausgesetzt war, während er nach außen hin immer das Unschuldslamm gegeben hat; an seinen Gesichtsausdruck, als er von der Anklagebank weggeführt und in einen Polizeitransporter verfrachtet wurde; an all die Tage seit seiner Entlassung, die ich in Angst verbracht habe. »Könnten Sie … ich weiß nicht … ihn vielleicht überprüfen?«
»Natürlich können wir versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Mit den Eltern sprechen wir definitiv, insofern können wir verifizieren, ob sie Daniel in letzter Zeit gesehen haben.«
Nachdem ich ihr alle Informationen geliefert habe, die ich ihr geben kann, drückt sie mir noch ihre Karte in die Hand und fordert mich auf, mich bei ihr zu melden, sobald Sasha ein Lebenszeichen von sich gäbe – oder ich weitere Gründe zur Sorge hätte. Weitere Gründe zur Sorge? Sie ist verschwunden – welchen anderen Grund könnte es geben?
Anschließend sitze ich allein auf Sashas Bett und starre mein Spiegelbild in ihrem Wandspiegel an. Ich bin blass und habe dunkle Ringe unter den Augen – eine Mischung aus Wimperntusche vom Vortag und Erschöpfung. Was, wenn sie nie wiederkommt? Was, wenn ich nie wieder von ihr höre oder sie nie wieder sehe? Ich habe hauptsächlich Angst um sie: weil ich nicht weiß, was ihr zugestoßen ist; ob sie selbst Angst hat, Schmerzen; ob sie gestorben ist. Aber ich habe auch Angst davor, was ich als Nächstes tun muss. PC Bryant hat mir versichert, dass sie mit den Monktons sprechen wird. Doch die Vorstellung, dass meine erste Kontaktaufnahme mit Olivia nach mehr als zehn Jahren über die Polizei stattfinden soll, ist für mich unerträglich. Ich muss sie erreichen, bevor es die Polizei tut.