Ellen
Oktober 2005
Karina hatte mich gesehen, natürlich, ich weiß auch nicht, wie ich glauben konnte, dass sie es nicht mitbekommen würde, so besessen, wie sie jedes Kommen und Gehen bei den Monktons verfolgte. Am Montagmorgen auf dem Schulweg klingelte ich wie immer bei ihr, aber als Dilys mir aufmachte, sah sie mich bloß verwirrt an.
»Karina ist schon losgegangen, Schätzchen. Hat sie dir gar nicht Bescheid gesagt?«
»Oh.« Ich dachte fieberhaft nach. Ich wollte nicht, dass ihre Mutter es mitbekäme, wenn Karina mir hiermit die Freundschaft aufgekündigt hätte. »Ach klar, sorry, sie hat mir erzählt, dass sie heute früher losmüsste. Das hab ich ja ganz vergessen.«
»Zum Glück ist dein Kopf angeschraubt«, lachte sie freundlich, »sonst würdest du den glatt auch mal vergessen.« Sie hatte mich immer schon gern, meinte immer, ich sei quasi Teil der Familie, besonders seit Karinas Vater gestorben war.
»Ich geh besser los. Sorry noch mal!«
Draußen auf dem Gehweg blieb ich kurz stehen und tat so, als wühlte ich in meiner Tasche. Sollte ich es bei Sasha versuchen? Wir hatten bei der Party viel Spaß gehabt, aber trotz ihrer Versicherung, dass Tony und Olivia cool seien, hatte ich spüren können, dass sie nicht vollends Teil der Familie war. Kein Kuckuckskind oder so – aber eben doch irgendwie eine Fremde. Es hatte eine gewisse Spannung in der Luft gelegen, sobald die Jungs aufgetaucht waren, aber ich war mir nicht sicher, ob Sasha der Grund dafür war oder einfach nur das kratzbürstige Verhältnis der drei. Die Party war immer noch in vollem Gange gewesen, als ich nach Hause gegangen war. Ich hatte versprochen, um elf zurück zu sein, und mir hatte der Kopf nicht nur vom Wein geschwirrt, sondern auch von der Mischung aus Sashas Reife, dem Haus, der Musik … Sie hatte kein Wort darüber verloren, wann wir uns das nächste Mal treffen oder ob wir zusammen zur Schule laufen würden, und als ich gerade beschlossen hatte, es bleiben zu lassen und allein loszugehen, ging ihre Haustür auf, und die komplette Familie kam raus. Die zwei Jungs diskutierten hitzig miteinander und bemerkten mich gar nicht. Sie marschierten einfach los, Daniel ein paar Schritte vorneweg, Nicholas wild gestikulierend hinterher, und Olivia rief ihnen noch ein paar Dinge zu, ehe sie auf dem Beifahrersitz ihres zerbeulten Citroën Platz nahm. Noch während Tony auf den Fahrersitz rutschte, rief er Sasha nach: »Sollen wir dich mitnehmen?«
Sie zog die Haustür hinter sich zu und lächelte mir entgegen. »Nein danke, ich laufe.« Dann hakte sie sich bei mir unter.
Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, was Karina wohl sagen würde, wenn sie uns so sähe.
»Ich bin so froh, dass du zu der Party kommen konntest«, sagte Sasha. »Ohne dich wäre es noch viel komischer gewesen.«
»Was meinst du damit?«, hakte ich nach, während mir gleichzeitig ganz warm wurde, weil ich diejenige gewesen sein sollte, derentwegen es besser für Sasha gelaufen war.
»Ach, du weißt schon, worüber wir gesprochen haben – dass ich in die Familie passe und so. Sie geben sich so viel Mühe.
Na ja, zumindest Olivia und Tony.«
»Die Jungs nicht?«
»Ach, ich weiß nicht. Das sind halt … Jungs.
Denken immer nur an das Eine.«
»Was, du glaubst, die … stehen auf dich?«, fragte ich leicht entsetzt. Mir war schon klar, dass es nicht ihre Brüder waren – trotzdem …
»Nein«, sagte sie, »nicht so. Es ist einfach nur – du weißt doch, wie Jungs so sind.«
Ich wusste es nicht wirklich, schließlich hatte ich bloß das Geknutsche bei Tamaras Party im Sommer zu bieten. Mein Freundeskreis bestand nur aus Mädchen, und von meiner Warte aus waren Jungs eine Spezies für sich.
»Erzähl aber keinem, dass ich das gesagt habe, okay?«, legte sie nach.
»Natürlich nicht.« Bei diesem Vertrauensbonus war ich gleich umso aufgeregter. »Ich bin echt froh, dass du hierhergezogen bist«, fügte ich hinzu.
Sie drückte meinen Arm. »Ja, ich auch.«
Karina entdeckte ich, als wir am Schultor ankamen. Sie stand am anderen Ende des Schulhofs und unterhielt sich mit Roxanne und Stacey – zwei Mädchen, die wir sonst immer ganz grässlich fanden – sowie Leo Smith. Karina warf ihr Haar zurück, lachte und ließ Leo nicht aus den Augen. Auch wenn sie ihm an den Lippen hing, sprach er selbst hauptsächlich mit Roxanne und Stacey und beachtete Karina kaum. Ich war mir ziemlich sicher, dass er an ihr keinerlei Interesse hatte und auch nie haben würde, und verspürte irgendwie Mitleid mit ihr. Mitleid für Karina zu empfinden war mir neu; wir waren immer so was wie auf einem Level gewesen, hatten nie zu der beliebten Clique gehört, allerdings auch nicht zu den Unglücklichen mit den dicken Brillengläsern, den strähnigen Haaren oder schrulligen Eltern – zu denen eben, die gehänselt wurden. Aber in diesem Moment sah ich sie, wie Roxanne und Stacey sie wahrscheinlich sahen – und Leo ganz sicher auch, wenn er überhaupt einen Gedanken an sie verschwendete. Sie wirkte erbärmlich, wie ein Anhängsel, jemand, der alles gibt, um dazuzugehören, und damit idiotensicher genau das Gegenteil heraufbeschwört.
Wieder warf sie ihr Haar zurück, und noch in der Bewegung entdeckte sie mich. Eine Sekunde lang sah sie panisch aus, dann lächelte sie. Es war ein brüchiges Lächeln, und ich war mir nicht sicher, was dahinter lauerte – trotzdem war es ein Lächeln, und vielleicht war sie doch nicht sauer auf mich. Roxanne sagte etwas zu Leo, dann schlenderten sie und Stacey in Richtung Schuleingang. Karina und Leo blieben noch kurz unschlüssig zusammen stehen, und keiner von beiden schien mehr zu sprechen. Dann sagte Leo etwas und ging den Mädchen hinterher, sodass Karina allein zurückblieb und die Hände rang, als wüsste sie nicht, wohin damit.
»Ich sag Karina nur schnell Hallo«, teilte ich Sasha mit.
»Warte, ich komme mit.«
»Ähm, wäre es okay, wenn ich erst allein gehe? Ich glaube, sie könnte sauer auf mich sein. Ich will erst die Lage checken … wenn du nichts dagegen hast«, fügte ich eilig hinzu.
»Oh Gott, ist das so eine, die gleich sauer wird, wenn du mal mit jemand anderem sprichst?« Sasha verdrehte die Augen. »Wie alt ist sie – acht? Beste Freunde für immer, Hand aufs Herz, ich schwör?«
»So was in der Art«, murmelte ich und kicherte, fühlte mich gleichzeitig aber ganz grässlich illoyal gegenüber dem Mädchen, das mich beim Kauf meines ersten BHs begleitet hatte. »Wir sehen uns gleich, okay?«
Sasha winkte zum Abschied und kehrte mir den Rücken.
Noch während ich auf Karina zulief, war ich mir für einen Moment sicher, dass sie am liebsten losgelaufen und im Schulgebäude verschwunden wäre, aber irgendetwas hielt sie zurück. Herausfordernd sah sie mich an.
»Bist früh losgegangen heute Morgen«, rief ich ihr zu, als mir dämmerte, dass sie von mir erwartete, als Erste etwas zu sagen.
»Tut mir leid, mir war nicht klar, dass wir alles zusammen machen müssen.«
»Müssen wir nicht. Aber sonst laufen wir immer zusammen zur Schule.«
»Und wir machen auch sonst nicht alles zusammen, nicht wahr?«
»Was willst du damit sagen?« Natürlich wusste ich das nur zu genau, aber nun hatten wir diesen unbehaglichen Kampf eröffnet und tänzelten umeinander herum. Die Konfrontation stand unmittelbar bevor.
»Gottverdammt, du weißt genau, was ich meine, Ellen.« Und schon war es vorbei mit der Tänzelei.
»Sasha hat mich eingeladen, als du krank warst. Was hätte ich denn tun sollen – absagen?«
»Natürlich nicht. Aber hast du sie vielleicht gefragt, ob ich auch kommen darf?« Ich antwortete nicht, und sie lachte verbittert. »Siehst du.«
»Ich kenne sie doch kaum, Karina. Wäre es da nicht ein bisschen seltsam gewesen, wenn ich gleich jemanden mitgebracht hätte? Sie kennt dich doch nicht mal!«
»Du weißt genau, wie gern ich das Haus mal gesehen hätte. Und du weißt, dass ich ihren Bruder gut finde – den älteren.«
»Er ist übrigens gar nicht ihr Bruder.«
Für den Bruchteil einer Sekunde hellte sich ihr Gesicht auf. Sie gierte nur so nach Einzelheiten, doch dann verfinsterte es sich wieder, als sie sich daran erinnerte, dass sie nach wie vor sauer auf mich war.
»Was auch immer. Sorry, dass ich das falsch interpretiert habe. Aber du weißt ja jetzt anscheinend gut über sie Bescheid.«
»Komm schon, Karina, hören wir auf damit. Wenn sie mich noch mal einlädt, frage ich, ob du mitkommen darfst, Ehrenwort. Okay?«
Sie zögerte und war sichtlich hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, in Sashas Welt vorzudringen, und ihrem Bedürfnis, mich abzustrafen. Die Sehnsucht gewann Oberhand, wie so oft.
»Okay.« Sie legte eine Pause ein, und ich ahnte, dass sie mit ihrer Neugier rang. »Erzähl schon, wie war’s?«
»Genau, wie wir es uns gedacht haben«, antwortete ich. »Überall Staub, Bücherregale und -stapel, riesige Bilder an der Wand. Die Erwachsenen haben sich betrunken, Klavier gespielt und Opernarien gesungen.«
»Oh mein Gott! Und die Jungs? Wer sind sie, wenn sie nicht die Brüder sind?«
»Sie selbst gehört nicht zur Familie«, sagte ich und erntete ein zufriedenstellendes Aufkeuchen von Karina. »Ihre Mum ist irgend so ein internationales Model. Sie meinte, Sasha bräuchte eine gewisse Stabilität, also hat sie ihre Tochter bei den Monktons untergebracht. Olivia und Tony sind ihre Paten, die Jungs ihre Söhne.«
»Und hast du sie kennengelernt?«, hauchte Karina. »Wie sind sie so?« Da war ein Hunger in ihrer Stimme, und zum ersten Mal überhaupt dämmerte mir, was diese Familie in Wahrheit für sie darstellte. Den ganzen Sommer über durchs Fenster zu starren war für mich bislang eher nur Zeitvertreib gewesen, um die langen, heißen Tage totzuschlagen, während andere Mädchen zu irgendwelchen exotischen Urlauben aufgebrochen waren. Doch für Karina war es mehr als das gewesen. Sie war … von ihnen wie in einen Bann geschlagen. Kein Wunder, dass sie sauer auf mich war, weil ich dort als Erste Zutritt bekommen hatte.
»Ja, hab sie getroffen. Wir haben aber nicht allzu viel Zeit miteinander verbracht. Sie sind ziemlich … auf Wettbewerb aus. Verbringen die meiste Zeit damit, sich gegenseitig zu piesacken. Ich glaube, dass Sasha nicht besonders gut mit ihnen auskommt.«
»Vielleicht sind sie ja in sie verknallt?«, argwöhnte Karina. »Ich meine, sie sind immerhin nicht verwandt, stimmt’s? Das wäre sooo romantisch!«
»Finde ich nicht.« Ich musste daran denken, was Sasha auf dem Schulweg erzählt hatte – und natürlich, wie Daniel mich von Kopf bis Fuß angestarrt hatte, als ich auf ihrem Bett gesessen hatte. Doch davon erzählte ich Karina nichts, sondern redete mir stattdessen ein, dass ich sie damit bloß eifersüchtig machte und ich nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen wollte. In Wahrheit aber wollte ich Sasha für mich allein, wollte unsere aufkeimende Freundschaft von allem abschirmen. Ich hatte zuvor nie Geheimnisse vor Karina gehabt, und auch wenn ich mich insgeheim dafür schämte, war die Vorstellung für einen Teil von mir durchaus ein Genuss.
»Warum unternehmen wir nicht mal was?«, schlug ich vor, um mein schlechtes Gewissen zu besänftigen. »Wir drei – du, ich und Sasha?«
Wieder war sie hin- und hergerissen, wollte Teil dessen sein, was zwischen Sasha und mir entstanden war, und gleichzeitig auf Abstand bleiben und so tun, als wäre sie nicht im Geringsten interessiert. Doch bis wir bei unserem Klassenzimmer angekommen waren, hatten wir beschlossen, Sasha zu fragen, ob sie am Wochenende mit uns ins Kino gehen wollte.
Als wir das Klassenzimmer betraten, erblickten wir als Erstes Sasha, die mit zusammengepressten Knien auf ihrem Pult saß. Leo Smith stand ein Stück zu nah an ihr dran und redete leise auf sie ein. Sasha warf weder ihr Haar zurück noch kicherte sie, wie Karina es zuvor getan hatte, und trotzdem schien Leo jedes ihrer Worte in sich aufzusaugen.
Karina verzog das Gesicht.
»Ist doch nicht ihre Schuld, dass er sie gut findet«, raunte ich ihr zu, weil ich befürchtete, dass meine Überzeugungsarbeit drauf und dran war zu verpuffen. »Sie ist an ihm nicht interessiert. Sie meint sogar, er wäre gruselig.«
»Ernsthaft?«, hakte Karina misstrauisch nach. »Aber sonderlich interessiert sieht sie wirklich nicht aus.«
Und das entsprach der Wahrheit – auch wenn Leo sich alle Mühe gab. Dann fing Sasha meinen Blick auf, und Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit. Lächelnd winkte sie uns zu sich rüber. Mitten im Satz fiel sie Leo ins Wort: »Dann bis später.«
»Oh, okay …« Er sah enttäuscht aus. Ich kannte ihn bislang anders, stets randvoll gefüllt mit Selbstvertrauen, und dieser Anblick war merkwürdig befriedigend. Er trollte sich an sein Pult und suchte in seiner Tasche nach etwas, das mit Sicherheit gar nicht existierte.
»Gott sei Dank seid ihr beide aufgetaucht«, flüsterte Sasha. »Ich dachte schon, ich würde gleich sterben vor Langeweile.«
Ich spürte, wie Karina sich neben mir entspannte.
»Das ist Karina«, sagte ich. »Sie wohnt gegenüber von euch.«
»Ah ja, dich hab ich schon mal gesehen«, sagte Sasha freundlich.
Sofort verspannte Karina sich. Mir war klar, dass sie sich fragte, ob Sasha ihre Überwachungsaktion den Sommer über mitbekommen hatte.
»Willst du am Wochenende mit uns ins Kino gehen?«, fragte ich in der Hoffnung, sie beide von alledem abzulenken, was ihnen übereinander durch den Kopf gehen mochte.
Sasha sah erst zu Karina, dann wieder zu mir.
»Klar, gerne«, antwortete sie.
Wir verabredeten uns für Samstagabend, und als Miss Cairns kam und wir uns auf unsere Plätze setzten, spähte ich noch kurz zu Leo hinüber. Er hatte aufgehört, so zu tun, als wühlte er in seiner Tasche, und starrte Sasha stattdessen begierig an. Ich wusste, dass ich diesen Gesichtsausdruck schon mal irgendwo gesehen hatte, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis ich ihn einordnen konnte. Ich hatte mein Lebtag nie jemanden einen anderen auf diese Weise anstarren sehen, und jetzt war es binnen drei Tagen gleich zweimal passiert: Leo sah Sasha genauso an, wie Daniel es bei der Party getan hatte.