Olivia
Juli 2007
Diesen Tag habe ich in gewisser Hinsicht mehr als alle anderen gefürchtet. Wie gern würde ich Sasha sagen, dass sie wie eine Tochter für mich ist, aber ich kann es einfach nicht. Es hat schon immer etwas zwischen uns gestanden – eine Mauer, die sie um sich herum errichtet hatte. Ich verstehe natürlich, warum das so ist, aber ich dachte, ich könnte sie einreißen, um an Sasha heranzukommen – bis ich herausfand, was da tatsächlich vor sich ging; da hat sich alles verändert. Wir haben uns nie davon erholt, nicht mal vor jenem Silvesterabend.
Nein, es war Ellen, die wie eine Tochter für mich war, mehr als Sasha es sich je hätte erhoffen können. Das arme Ding bekam zu Hause in Sachen Kultur – oder auch nur hinsichtlich anregender Unterhaltungen – nicht allzu viel mit, und es war wunderbar anzusehen, wie sehr sie aufblühte, je mehr Zeit sie bei uns verbrachte. Seit diese schreckliche Sache unser Leben in tausend Stücke zerschlagen hat, vermisse ich sie mehr als jeden anderen.
Nach Daniels Verhaftung ist Sasha zu Ellen gezogen. Seit sechs Monaten habe ich kaum mehr mit den beiden gesprochen. Seit sie weg ist, ist unser Haus weitestgehend still geworden. Daniel war auf Kaution frei, hat sein Zimmer aber kaum verlassen. Nicholas treibt sich herum, wann immer er kann. Wir haben sogar separat gegessen, zu verschiedenen Zeiten. Und auch ich selbst bin öfter aus dem Haus geflüchtet, als dringend notwendig gewesen wäre. Tony ist immer häufiger im Pub. Er ist ins Gästezimmer umgezogen, angeblich weil wir beide nicht gut schlafen und uns gegenseitig aufwecken, aber das ist nicht der wahre Grund, das wissen wir beide. Diesbezüglich hat unsere Ehe schon länger gekriselt – Betrunkene sind einfach keine guten Liebhaber –, und jetzt ist es damit vollends aus.
Hin und wieder setzen Tony und ich uns zusammen an den Tisch, wenn wir beide zu Hause sind, aber wir haben Schwierigkeiten, überhaupt Worte zu finden. Am Ende sitzen wir unbehaglich schweigend da, würgen unser Essen in uns rein und verziehen uns dann in unsere jeweiligen Rückzugsräume, so schnell wir können. Ein Familienleben gibt es nicht mehr. Ich dachte, wir würden noch jahrelang mit Freundinnen, Freunden, Bekannten, Besuchern zusammen an diesem Tisch sitzen – in unserem Haus an der Ecke wäre jeder willkommen, ich wäre die Gastgeberin, die für ihre Gastfreundschaft so gerühmt wird, Tony mit dem Korkenzieher in der Hand. Doch dieser Traum ist ein für alle Mal geplatzt.
Jetzt ist Ellen dran. Ich kann sehen, wie sie schwer atmend und mit zittriger Stimme ihre persönlichen Daten bestätigt und unter Eid genommen wird. Ich frage mich, ob sie so nervös ist, weil das hier die wichtigste, ernsteste Sache ist, die sie je im Leben getan hat, oder ob es zugleich eine Art Show, eine Art Auftritt ist.
Der Mann mit den Wangenknochen ist zurück, sieht nobler aus denn je, und die Behauptung der Verteidigerin, Karina sei keine glaubwürdige Zeugin, scheint seiner Selbstsicherheit keinen Abbruch getan zu haben.
»Miss Mackinnon, ich will auch mit Ihnen die Ereignisse des 31. Dezember 2006 durchgehen.«
Dann legt er los, erwähnt jedes Detail, fängt an mit Ellens Ankunft, als sie auf ihren viel zu hohen Absätzen wie Bambi bei uns hereinstakste und älter und zugleich viel jünger aussah, als sie tatsächlich war. Ich weiß noch, dass sich Tony in der Küche auf sie stürzte, ich mich fragte, ob er das arme Mädchen gerade zu Tode langweilte, und Nicholas sich schließlich ihrer erbarmt und sie gerettet hat. Danach geht es ans Eingemachte, jetzt kommt der Teil, der wichtig ist.
»Haben Sie gesehen, wie Mr. Monkton und Miss Barton sich geküsst haben?«
»Ja, habe ich.«
Sie spricht eindeutig mit ihrem »gebildeten« Akzent, den sie immer anwendet, wenn sie jemanden beeindrucken will. Den hat sie auch bei mir benutzt. Erst als sie sich bei uns halbwegs zu Hause fühlte, hat sie ihrem natürlich schleppenden, südostenglischen Akzent freien Lauf gelassen.
»Ich ging gegen zehn Uhr aus der Küche, dort drinnen wurde es allmählich zu voll. Draußen auf dem Flur habe ich Daniel und Karina gesehen. Sie hatten sich halb versteckt zwischen die Mäntel gedrückt. Und haben geknutscht.«
»Und hat Miss Barton den Eindruck erweckt, als würde sie das aus freien Stücken machen?«
»Ja.«
»Was haben Sie als Nächstes gesehen?«
»Er hat irgendwas zu ihr gesagt – was, konnte ich nicht hören –, und dann sind sie zusammen die Treppe hochgegangen.«
»Könnten Sie bitte schildern, wie Miss Barton sich da verhalten hat?«
Ellen zögert. »Ich weiß nicht …«
»Was wissen Sie nicht?«
»Also … Sie sah aus, als wäre sie nicht ganz sicher …«
»Sah sie nervös aus?«, fragt der Staatsanwalt, und auf seinem adligen Gesicht macht sich Besorgnis breit. »Als wollte sie insgeheim eher nicht mitgehen?«
»Euer Ehren.« Daniels Verteidigerin ist aufgesprungen. »Der verehrte Kollege stellt Suggestivfragen.«
»Stattgegeben«, sagt der Richter. »Mr. Parkinson, bitte, nicht auf diese Weise.«
»Natürlich, Euer Ehren. Also, Miss Mackinnon, zu welchem Zeitpunkt haben Sie Miss Barton wiedergesehen?«
»Etwa eine Stunde später, ungefähr um elf. Ich habe mich auf dem Flur mit jemandem unterhalten, als Karina die Treppe heruntergestolpert kam und an uns vorbeigerannt ist. Sie sah aufgewühlt aus und ein bisschen … wacklig auf den Beinen.«
»Sind Sie ihr nachgegangen?«
»Nicht sofort. Ich war mitten im Gespräch, um uns herum war einiges los, und ich hatte getrunken. Mir ist zwar aufgefallen, dass sie aufgewühlt aussah, aber ich hielt es zunächst für nichts Ernstes. Ich dachte, sie wäre einfach betrunken.«
»Haben Sie Daniel Monkton auch gesehen?«
»Nein.«
»Und zu welchem Zeitpunkt haben Sie Miss Barton als Nächstes gesehen?«
»Das war vielleicht fünf Minuten später – ich dachte mir, ich sollte mal nachsehen, ob es ihr gut ging, konnte sie dann aber nirgends finden. Ich hab im Erdgeschoss überall nach ihr gesucht, aber da war sie nicht, dabei wusste ich, dass sie nicht zurück nach oben gegangen war. Das hätte ich mitbekommen. Also bin ich raus in den Garten, und dort habe ich sie gefunden.«
»Sie war mitten im Winter draußen im Garten?«
»Ja, und es war eiskalt.«
»Was für Kleidung trug sie?«
»Nur dieses Kleidchen … Sie hatte nicht mal ihre Jacke angezogen. Sie saß unter dem Maulbeerbaum am hinteren Ende des Gartens auf dem Boden. Ich hab mich neben sie gesetzt und ihr den Arm um die Schultern gelegt. Sie war eiskalt, hat am ganzen Körper gezittert. Ihre Hände waren blutverschmiert.«
»In welcher Verfassung war sie?«
»Sie stand komplett neben sich und hat geweint. Sie schien betrunken zu sein, also hab ich ihr zurück nach drinnen geholfen.«
»Was hat sie zu diesem Zeitpunkt zu Ihnen gesagt – wenn sie denn überhaupt etwas gesagt hat?«
»Sie hat mir erzählt, dass Daniel sie vergewaltigt und verletzt hat, sie mit einer zerbrochenen Flasche geschnitten hat.«
Ich sehe zu Daniel, der reglos nach vorn starrt. Ich will ihm zurufen, dass es schon okay ist – das kommt alles bloß aus zweiter Hand. Alles, was Ellen sagt, ist nur die Wiedergabe dessen, was Karina behauptet. Ellen selbst hat nichts gesehen. Sie weiß nichts. Ihre Zeugenaussage hat nichts zu bedeuten, beweist rein gar nichts.
»Wir haben von Miss Barton erfahren, dass sie in den drei Monaten vor dem Silvesterabend 2006 eine Beziehung mit Mr. Monkton unterhielt. Wussten Sie von dieser Beziehung?«
»Ja. Ich wusste Bescheid.«
Ohne es zu wollen, entschlüpft mir ein Geräusch, eine Art unfreiwilliger Schluchzer. Ich schlage die Hände vor den Mund, aber da ist es schon zu spät, jeder hat es gehört. Dilys wirbelt auf ihrem Sitz herum und bedenkt mich mit einem triumphierenden Blick, der mich mit voller Wucht trifft. Daniel starrt nur weiter geradeaus, aber seitlich an seinem Gesicht zuckt ein Muskel.
»Hat Miss Barton geahnt, dass Sie über die Beziehung Bescheid wussten?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Ich wusste, dass da was im Busch war – ich hab es ihr ganz einfach angemerkt. Sie hat geglaubt, sie könnte es geheim halten, aber in Wahrheit war es total offensichtlich.«
»Euer Ehren.« Daniels Verteidigerin ist wieder aufgestanden. »Ich gehe nur ungern dazwischen, solange der werte Kollege an der Reihe ist, aber das hier ist reine Spekulation vonseiten der Zeugin und beruht auf keinerlei Tatsachen. Die Aussage ist null und nichtig.«
»Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen«, sagt der Richter und sieht den Staatsanwalt streng an. »Mr. Parkinson, könnten Sie bitte zum Wesentlichen kommen?«
Inzwischen sind alle Augen auf Ellen gerichtet, und sie zittert leicht, wirkt aber gefasst.
»Meinetwegen. Miss Mackinnon, wie konnten Sie wissen, dass Miss Barton mit Daniel Monkton eine Beziehung unterhielt?«
»Es war vielleicht zwei Wochen vor der Silvesterparty, und ich war nach der Schule nach Hause zu Sasha unterwegs. Sasha selbst war in der Schule geblieben, weil sie noch Proben hatte – für das Weihnachtskonzert –, aber sie hatte mich zum Abendessen eingeladen und mir ihren Hausschlüssel gegeben. Ich bin also alleine hingegangen.«
»Haben Sie das öfter gemacht?«
»Nein, das war das erste Mal, aber ich wusste, dass es Olivia und Tony – also Mrs. und Mr. Monkton – nichts ausmachen würde. Ich war …« Sie wirft mir einen flüchtigen Blick zu. »Die Monktons waren so etwas wie Familie für mich.«
Der Kloß in meinem Hals schwillt zusehends an. Nicht mehr lange, und mir bleibt die Luft weg.
»In der Küche hab ich mir einen Tee gemacht«, fährt sie fort. »Den hab ich dann mit hoch in Sashas Zimmer genommen, wo ich mich aufs Bett gesetzt und eine Zeitschrift gelesen habe. Irgendwann ging die Haustür auf, und jemand kam nach Hause. Ich wollte schon runter, um Hallo zu sagen, dachte mir dann aber, ich warte noch kurz, um zu hören, wer es ist. Dann hab ich Karinas Stimme erkannt. Sie lachte, und es war ein Typ bei ihr … Daniel. Sie kamen die Treppe hoch, und irgendwas an ihrem Gespräch hat mich dazu gebracht, dass ich den Mund gehalten habe. Sie sind in Daniels Zimmer verschwunden – das liegt direkt neben dem von Sasha –, und … Die Wände sind ziemlich dünn. Ich konnte sie drüben hören.«
»Was haben Sie gehört, Miss Mackinnon?«
»Dass sie Sex hatten.«
Beim Wort »Sex« senkt sie die Stimme, wie ein Kind, kann es nicht aussprechen, ohne peinlich berührt zu sein.
»Nach einer Weile habe ich dann eine Art Klopfgeräusch gehört. Es klang fast, als würde ein Kopf gegen die Wand schlagen, auch wenn ich mir nicht sicher war … Dann hab ich gehört, wie sie sagte: ›Du tust mir weh.‹ Er antwortete nicht, sondern hat einfach weitergemacht.«
»Was ist dann passiert?«
»Sie sind aus dem Zimmer gegangen und haben das Haus wieder verlassen.«
»Und was haben Sie gemacht?«
»Ich war ein bisschen … schockiert, kann man sagen. Ich hab Sasha eine Nachricht geschickt, dass ich doch nicht zum Abendessen bleibe, und bin nach Hause gegangen.«
»Dann haben Sie also zwei Wochen vor dem Abend, um den es hier geht, mit angehört, wie Daniel Monkton und Miss Barton Geschlechtsverkehr hatten – und zwar möglicherweise gewaltsamen, im Zuge dessen sie zu ihm gesagt hat, er tue ihr weh? Und trotzdem weist er seinerseits weit von sich, dass die beiden eine Beziehung eingegangen waren?«
»Ja.«
Der Richter verkündet eine Pause, und Ellen verlässt den Zeugenstand. Sie hat die Lippen zusammengepresst, und mit jeder Faser ihres Körpers reißt sie sich zusammen, um gerade zu stehen und die Contenance zu wahren.
Oh, Ellen, wie konntest du nur? Meine Fast-Tochter! All diese Gelegenheiten, da wir an meinem Küchentisch beisammensaßen, als du mir beim Kochen geholfen hast, mir aus deinem Schulalltag erzählt hast! Ich habe ihr ein Stück Kultur nahegebracht, ein Fenster zu einer anderen Welt aufgestoßen als zu jener, die sie von zu Hause und ihren kleingeistigen Eltern kannte. Ich habe ihr etwas Besseres gezeigt. Wenn ich darüber nachdenke, dass sie es mir auf diese Art heimzahlt, dann brenne ich innerlich vor verstörender Wut.