Ellen
Mai 2006
»Irgendjemand war in meinem Zimmer.«
»Was soll das heißen? Wer?« Ich lecke über den Rand meines Eishörnchens, damit das Eis nicht auf meine Finger tropft. Das Wetter war in der ersten Jahreshälfte ungewöhnlich warm gewesen, sodass Karina, Sasha und ich beschlossen hatten, das Beste aus den letzten Ferientagen zu machen, und mitsamt Picknickdecke, Snacks und ein paar Zeitschriften in den Park gegangen waren.
Ein paar Jungs, die ich vom Sehen aus der Schule kannte, unter anderem Leo Smith, hatten nicht weit von uns entfernt ihr Lager aufgeschlagen und versuchten von dort aus, Sasha mit ihren Fußballtricks zu beeindrucken; oder sie fluchten großmäulig und nahmen einander nach allen Regeln der Kunst auf die Schippe. Allerdings zeigte Sasha sich wie immer komplett unbeeindruckt.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, stemmte sich auf die Ellbogen hoch und sah in die Ferne. »Aber ein paar Sachen sind bewegt worden. Nichts Wichtiges – ein Buch, das ich gerade lese, mein Schminktäschchen, mein Mäppchen … Aber sie lagen eben nicht mehr dort, wo ich sie hingelegt hatte.«
»Vielleicht hat Olivia ja sauber gemacht – Staub gewischt oder so«, schlug Karina vor, ließ dabei aber die Jungs nicht aus den Augen. Seit sie sich dort drüben niedergelassen hatten, lag sie mit dem Gesicht zu ihnen auf dem Bauch.
»Nein, die macht unsere Zimmer nicht sauber. Sie sagt, wir sind alt genug, um es entweder selbst zu machen oder mit den Konsequenzen zu leben.«
»Schon komisch«, warf ich ein.
»Ich weiß.« Sie verzog das Gesicht, und ich konnte ihr ansehen, dass sie befürchtet hatte, wir würden ihr nicht glauben.
»Hast du es Olivia erzählt?«
Sasha seufzte. »Sie glaubt immer noch, ich hätte dieses Geld genommen. Sie wird annehmen, dass ich das erfunden habe.«
»Warum solltest du so was erfinden? Ich meine, wie kommt sie darauf?«, fragte ich.
»Ach, sie glaubt, ich will einfach nur Aufmerksamkeit. Sie wird sich mit mir hinsetzen und mal wieder ernsthaft reden wollen und meinen ›Schwierigkeiten‹ auf den Grund gehen. Mich psychoanalysieren. Aber das kann sie vergessen.«
»Sicher? Eigentlich wirkt sie doch eher …«
»Was? Ach so wunderbar? Verdammt noch mal, Ellen, nur weil du glaubst, sie wäre die perfekte Mutter, heißt das noch lange nicht, dass das auch wahr ist.«
»Schon klar«, erwiderte ich und wurde rot. Ich hatte versucht, meine Schwärmerei für Olivia unter Verschluss zu halten, war aber offenbar nicht allzu weit damit gekommen. »Was ist denn mit … Könntest du nicht …« Ich wusste nicht recht, wie ich weitermachen sollte. »Ich meine, hast du mal deine Mutter gefragt, ob sie nicht mit Olivia reden könnte?«
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich sie mit solchen Sachen nicht behelligen will«, fauchte sie mich an. »Sie hat schon genug um die Ohren.« Dann legte sie sich wieder hin und schloss die Augen.
Karina und ich wechselten einen Blick. Immer mal wieder versuchten wir beide vorsichtig, mehr über Sashas Mutter herauszubekommen, bissen aber jedes Mal auf Granit. Ich verabscheute mich dafür, aber allmählich fragte ich mich doch, ob Olivia nicht recht damit hatte, dass Sasha sich das alles bloß ausdachte. Manchmal fühlte es sich an, als würde sie in einer Blase durch die Welt trudeln, als könnte ihr nichts etwas anhaben – als würde die Meinung anderer Leute wie Regenwasser an ihr abperlen. Aber konnte das wirklich stimmen? Konnte ein Mensch wirklich derart komplett gleichgültig gegenüber den Ansichten anderer Leute sein? Oder hatte sie irgendeinen Grund, sich selbst als Opfer einer Stalkingaktion darzustellen?
»Sorry«, sagte sie nach einer Weile.
Ich wartete darauf, dass sie uns erklärte, warum sie so schroff geworden war, aber es kam nichts, also nahm ich mir eine Zeitschrift und fing an zu lesen oder zumindest so zu tun. Wenn sie so sein wollte, bitte schön, ich würde ihr nicht all die Fragen stellen, von denen sie offenbar wollte, dass ich sie stellte. Wenn sie mit mir reden wollte, dann bitte – wenn nicht, auch in Ordnung. Karina nahm wieder ihren Beobachterposten ein, und vielleicht zwanzig Minuten lang lagen wir drei schweigend nebeneinander. Ich war drauf und dran einzunicken – eingelullt von der Sonne auf meinem Gesicht und dem fröhlichen Geplapper der anderen Leute –, als plötzlich etwas gegen mein Bein prallte. Abrupt setzte ich mich auf – und zwar so schnell, dass mir leicht schwindelig wurde. Irgendwer stand vor uns in der Sonne, und im Schatten wirkte sein Gesicht so dunkel, dass ich ihn einen Moment lang nicht einmal erkennen konnte.
»Entschuldigung«, sagte er, nahm sich seinen Ball, und erst da sah ich, dass es Leo war.
Eilig zog ich mir die Picknickdecke über die Oberschenkel. Ich versuchte gerade, mir einen Frühsommerteint zuzulegen – in einem dunkelblauen Badeanzug, der schon bessere Tage gesehen hatte. Karina trug ein Sommerkleid mit Spaghettiträgern, Sasha einen weißen Neckholderbikini. Sie war jetzt schon rundherum toffeebraun.
Bedächtig schlug sie die Augen auf und streckte sich wie eine Katze. »Oh, hallo, Leo.«
Allem Anschein nach unbeeindruckt von all der gebräunten, weichen Haut sah er erst sie, dann mich an, während er den Ball von einer Hand zur anderen warf.
»Wir wollen Volleyball spielen. Wollt ihr mitmachen?«
»Nein danke.« Ballspiele waren absolut nicht mein Ding, und ich hatte keine Lust, mich zu blamieren.
»Ich schon!« Karina war begeistert aufgesprungen und schob sich die Träger ihres Kleids zurecht. Im selben Moment dämmerte mir – und Leo ebenfalls –, dass sie darunter keinen BH trug. Er ertappte mich dabei, wie ich Karina anstarrte, und bedachte mich mit einem schalkhaften Blick.
»Spitzenmäßig«, meinte er, und unwillkürlich grinste ich zurück. Insgeheim freute ich mich diebisch, dass Leo und ich gerade einen Insider teilten.
»Sasha, was ist mit dir?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Klar, warum nicht?«
Dann stand sie auf und schlenderte zu den Jungs hinüber. Sie hatte sich nicht mal ein T-Shirt übergezogen, und ein paar von ihnen bekamen den Mund nicht mehr zu. Es war wie in einem Bond-Film. Karina lief leicht tapsig ein paar Schritte hinter ihr her. Ich sah wieder zu Leo hoch und erwartete schon, dass er ihr auch nachgaffen würde, aber er blickte mich immer noch an.
»Heute übertreibt sie es aber ein bisschen, was?«
Ich errötete. »Was meinst du?«
Er ließ sich neben mich auf die Decke fallen. »Du weißt schon, in diesem Minibikini rumzurennen und allen zu zeigen, was sie hat … Ich weiß, ihr zwei seid gut befreundet, und ich will wirklich nicht blöd klingen oder so, aber …«
Ich sah zu, wie die Jungs ein improvisiertes Volleyballnetz aufhängten, indem sie ein Seil zwischen zwei Bäume knoteten. Ein paar andere Mädchen hatten sich ebenfalls dazugesellt, und ich konnte sehen, wie sie Sasha in ihrem Bikini mit einer Mischung aus blanker Eifersucht und Abneigung anstarrten.
»Ich dachte …« Ich hielt den Blick auf das Volleyballspiel gerichtet, und angesichts des Verrats, den ich gleich begehen würde, schlich sich der Hauch eines Zitterns in meine Stimme. »Ich hatte irgendwie den Eindruck, du würdest sie mögen. Also, ich meine, auf sie stehen.«
»Ja, als sie frisch an unsere Schule kam«, sagte er leichthin und beiläufig. »Aber inzwischen finde ich’s ein bisschen zu offensichtlich. Ein bisschen zu aufgesetzt. Mir ist lieber, wenn jemand mit beiden Beinen auf der Erde steht.«
»Jemand wie Karina?«, hakte ich nach. Ihr Interesse an ihm schien in letzter Zeit leicht abgeklungen zu sein, aber ich war mir sicher, dass sie immer noch Feuer und Flamme wäre, wenn er sich seinerseits für sie erwärmt hätte.
Er stieß mir leicht mit dem Ellbogen in die Rippen. »Quatsch, du Schnellchecker – jemand wie du.« Und mit diesen Worten stand er auf und lief zu den anderen, ohne noch mal zurückzublicken.
Wie vom Donner gerührt und atemlos starrte ich ihm nach und war gleichermaßen elektrisiert und entsetzt.