Ellen
September 2017
Ich sitze stocksteif da und habe Herzrasen. Irgendetwas hat mich aus dem Schlaf geschreckt, doch außer dem normalen Verkehrslärm, der von draußen hereinweht, und den entfernten Sirenen, die man in London ständig hört, ist es in der Wohnung mucksmäuschenstill. Ich kann jeden meiner Atemzüge deutlich spüren, meine Atmung geht durch das Hämmern meines Herzens stoßartig. Es ist drei Uhr in der Nacht, und augenblicklich muss ich wieder an mein Treffen mit Rachel im Pub denken, an ihre »Drei-Uhr-nachts-Freunde«. Könnte ich sie wirklich jetzt anrufen und ihr erzählen, dass ich Angst habe? Wenn Sasha hier wäre, würde ich jetzt hinüber in ihr Zimmer trotten. Sie würde sich sofort rühren und aufwachen, in ihrem Bett zur Seite rutschten, sodass ich mich neben sie legen könnte, weil sie wüsste, dass ich gerade Trost und Nähe brauche (auch ohne dass ich es sagen müsste). Jemanden, der mir das Gefühl gibt, nicht so allein zu sein.
Ich lege mich wieder hin, doch mein Bettzeug ist vom Nachtschweiß klamm, also rutsche ich auf die andere Seite und versuche, langsam und tief durchzuatmen und sämtliche Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, damit ich wieder einschlafen kann. Ich bin gerade drauf und dran, wieder die Kontrolle abzugeben und in die Unberechenbarkeit meiner Träume abzudriften, als ich erneut ein Geräusch höre und die Augen aufreiße. Ich weiß genau, was das ist: das Knarzen der Bodendiele direkt an der Wohnungstür. Jemand ist in der Wohnung. Ich liege schockstarr da, bin zu Tode verängstigt und spüre jede Erhebung in meiner Matratze.
In meinem Zimmer wird es nie komplett dunkel, weil draußen Straßenlaternen stehen. Ich rutsche nach links, wo mein Telefon auf dem Nachttisch liegt. Ich will schon danach greifen, als mein Gehirn sich verselbstständigt und vor sich sieht, wie ich mich danach ausstrecke und urplötzlich eine Hand meinen Arm packt. Auch wenn ich mir noch so sehr einrede, dass die Gefahr draußen im Flur lauert, nicht unter dem Bett in meinem Zimmer, bin ich nicht mehr imstande, mich auszustrecken. Die Monster aus meiner Kindheit, die unter dem Bett herumgekreucht sind, werfen gigantische Schatten und werden von jedem einzelnen miesen Horrorfilm verstärkt, den ich jemals gesehen habe. Doch das hier ist kein Film, keine unbegründete Angst. Das hier ist real. Ich habe meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle, ich könnte nicht mal aus dem Bett springen, sosehr ich es wollte, alle Kraft ist aus meinen Gliedern gesickert und einer blanken Angst gewichen. Wer immer es ist – er bewegt sich geräuschlos, trotzdem höre ich, wie Sashas Zimmertür aufgeschoben wird, die ebenfalls ganz leise knarzt. Ist sie es? Kann das sein? Ein Teil von mir will sofort hinrennen und sie bei den Schultern packen und sie anschreien – sie fragen, wo sie gewesen ist –, aber selbst wenn ich dazu in der Lage wäre, könnte ich es nicht. Was, wenn sie es nicht ist?
Mein Magen krampft sich zusammen, und einen entsetzlichen Moment lang fürchte ich, dass ich mich übergeben muss. Dann balle ich die Fäuste, schlucke und reiße mich mit aller Gewalt zusammen. Ich kann Geräusche hören, ein Rascheln hinter der Wand, Schubladen, die aufgezogen und wieder zugedrückt werden, Papier, das bewegt wird. Wer immer dort drin ist, gibt sich alle Mühe, nicht gehört zu werden, aber es ist nun mal unmöglich, gar kein Geräusch zu machen, sofern man nicht komplett stillsteht. Ich habe keine andere Wahl, als reglos und wie zu Eis erstarrt unter meiner Bettdecke liegen zu bleiben, obwohl jeder Muskel in meinem Körper zum Zerreißen angespannt ist. Ich könnte nicht sagen, wie lange das Rascheln und heimliche Verschieben von Gegenständen andauert – es fühlt sich an wie die Ewigkeit. Ich will, dass es aufhört, dass es vorbei ist, und gleichzeitig habe ich Angst davor, wo der Eindringling als Nächstes hingeht. Ein Teil von mir betet inständig, er möge für immer in Sashas Zimmer bleiben.
Im Nachbarzimmer ist es plötzlich schlagartig still. Blankes Entsetzen schießt mir durch die Adern, und ich halte die Luft an, Schweißperlen treten mir auf die Stirn und prickeln hinter den Ohren. Sashas Zimmertür knarzt erneut, und dann bin ich mir sicher: Die Schritte kommen in meine Richtung. Ich kann jenseits meiner Zimmertür eine Präsenz spüren. Ich schließe die Augen, weil ich den Moment nicht werde ertragen können, wenn die Klinke nach unten wandert, dann reiße ich sie wieder auf, weil die Ungewissheit noch viel unerträglicher ist. Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf – von Daniel Monkton, der mit einem silbern funkelnden Messer in der Hand aufwartet, bis zu Sasha, die mich reumütig schluchzend um Vergebung anfleht. Ich setze mich auf, sehe mich hektisch nach einer Waffe um – nach irgendetwas, womit ich mich verteidigen kann –, aber da steht nicht mal ein Glas Wasser. Wenn ich das hier überlebe, nehme ich mir fest vor, dann werde ich für den Rest meines Lebens mit einem Küchenmesser neben dem Bett schlafen gehen.
Ich schwöre, ich kann jemanden atmen hören und nehme eine Bewegung wahr, und ich rechne schon mit dem Schlimmsten, als direkt vor der Wohnung urplötzlich eine Sirene losschrillt und Blaulicht durch mein Zimmer flackert. Ich zucke heftig zusammen und schlage die Hand vor den Mund, damit ich nicht losschreie. Jetzt höre ich definitiv Schritte – die Sirene hat den Eindringling genauso erschreckt wie mich –, und dem Himmel sei Dank: Die Schritte entfernen sich. Es knarzt noch einmal, und wieder erkenne ich – mit überwältigender Erleichterung – die Bodendiele am Eingang wieder. Dann höre ich das leise Klicken des Sicherheitsschlosses, das aufgeschoben wird, und die Tür fällt zu. Es ist still – wunderbar, zutiefst still.
Auch wenn ich so sicher bin, wie ich nur sein kann, dass der Einbrecher verschwunden ist, liege ich weitere zwanzig Minuten wie erstarrt da und lausche auf jedes noch so kleine Geräusch. Aber da ist nichts. Irgendwann muss ich aufstehen, weil mich die Blase drückt. Mit immer noch zitternder Hand strecke ich mich nach der Nachttischlampe aus. Niemand greift nach mir, und das Zimmer sieht im Licht sofort weniger angsteinflößend aus. So leise wie nur möglich schleiche ich zur Tür, schiebe sie einen Spaltbreit auf und taste nach dem Lichtschalter im Flur. Erst als ich Licht gemacht habe, mache ich die Zimmertür ganz langsam auf. Der Flur sieht so aus wie immer: Sasha lacht mir vom mittleren Foto unserer Bildercollage im Cliprahmen entgegen: aufgenommen bei einem Festival hier in der Nähe in einem Park, das wir vor ein paar Jahren gemeinsam besucht haben. Sie hat ein schulterfreies pinkfarbenes Oberteil an, trägt einen Cowboyhut gegen die grelle Sonne und hat mir den Arm um die Schultern gelegt, den Kopf in den Nacken geworfen und lacht. Mir ist im Langarmshirt viel zu warm, und unbehaglich sehe ich mit einem grimmigen Lächeln direkt in die Kamera.
Ich laufe den Flur entlang zur Wohnungstür. Es sieht nicht so aus, als hätte sich hier jemand gewaltsam Zutritt verschafft. Die Tür ist zu, aber als ich das Sicherheitsschloss zur Seite schiebe, schwingt sie auf. Ich bin mir absolut sicher, dass ich doppelt abgeschlossen habe. Wie ist der Eindringling hier reingekommen?
Lautlos schleiche ich über den Flur zurück und ins Bad, um aufs Klo zu gehen. Das Plätschern des Urins auf Wasser hallt in der ganzen Wohnung wider. Ich ziehe den Beckenboden zusammen und halte Papier unter mich, um das Geräusch zu dämpfen. Als ich fertig bin, trete ich wieder hinaus auf den hell erleuchteten Flur. Ich kann nicht einfach zurück ins Bett gehen, ohne nachzusehen, was hier passiert ist. Ich würde nie wieder einschlafen können. Ich werfe einen Blick in die Küche und ins Wohnzimmer, die genauso aussehen, wie ich sie ein paar Stunden zuvor zurückgelassen habe. Bleibt nur noch Sashas Zimmer. Die Tür steht offen; ich stehe im grellen Deckenlicht direkt davor, atme immer hektischer und angestrengter in der Stille. Langsam strecke ich die Hand aus und drücke die Tür weiter auf. Das Zimmer liegt im Halbdunkel, ist von den Straßenlaternen draußen und vom Flurlicht nur mäßig erleuchtet, trotzdem sehe ich sofort, dass jemand hier war.
In Sashas Zimmer herrscht immer das reinste Durcheinander, aber jetzt gerade ist es noch schlimmer. Die Schubladen unter dem Bett sind nach vorn gezogen und der Inhalt auf dem Boden verstreut worden; das Gleiche gilt für den Schubladenschrank am Bett. Der Spiegel, der sonst auf der alten Kommode stand, liegt am Boden, und der Inhalt der Schubladen – Kontoauszüge, alte Hochzeitseinladungen, Aufgabenhefte, die ich aus der Schulzeit wiedererkenne – ist auf dem Boden gelandet. Hier hat jemand alles angefasst. Mit blankem Entsetzen stehe ich in der Tür, meine Haut prickelt, und mein Gehirn hat Schwierigkeiten zu verstehen, was dort vor mir liegt. Ich könnte nicht sagen, ob etwas fehlt, aber eindeutig hat hier jemand nach etwas gesucht. Aber wer – und wie ist er reingekommen? Und wonach hat er verdammt noch mal gesucht?