Ellen
September 2017
Als Jackson weg ist, schließe ich leicht verzagt hinter ihm ab. Solange ich hier in der Wohnung bin, sorgen die Riegel dafür, dass ich in Sicherheit bin; aber wenn ich rausgehe, kann ich sie nicht vorlegen.
Alice North wohnt in einem Stadtteil von West-London, in dem ich zuvor noch nie gewesen bin, irgendwo eingeklemmt – wie so oft in dieser Stadt – zwischen Oasen enormen Reichtums. Von der U-Bahn aus sind es zehn Minuten zu Fuß, und allmählich weichen die sanierten edwardianischen Prunkbauten erst kleineren Häusern, dann Wohntürmen, Kebabbuden und Pfandleihern. Ich frage mich, ob Tony Olivia schon gestanden hat, dass er mir die Adresse verraten hat. Ich weiß, dass die Polizei mit Alice sprechen wird, aber ich muss sie mit eigenen Augen sehen, diese Frau, die ich immer kennenlernen wollte und von der ich geglaubt habe, sie wäre die aufregendste, schillerndste Frau, die ich je zu Gesicht kriegen würde. Irgendwann stehe ich vor ihrem Haus – eins von winzigen, heruntergekommenen Reihenhäusern, die trotz der Beengtheit anscheinend in mehrere Wohnungen unterteilt worden sind, die noch beengter ausfallen.
Ich klingele im Erdgeschoss und warte. Die Tür geht auf, und ich bin wie vom Donner gerührt, als Augen auf mich gerichtet sind, die genau wie die von Sasha aussehen. Das Gesicht der Frau ist eingesunken, um Mund und Augen hat sie Falten, ihr blondes Haar hängt strähnig nach unten, doch früher muss sie eine Erscheinung gewesen sein. Bestimmt hätte sie Model sein können.
Sie sieht mich misstrauisch und schweigend an.
»Hallo. Ich bin eine Freundin von Sasha.«
Sie will schon die Tür zuschieben, als ich die Hand hebe und sie aufhalte.
»Bitte. Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Warum?« Sie kneift die Augen zusammen. »Sie kann ja wohl auf sich selbst aufpassen?« Man kann ihr anhören, dass sie jahrelang die Nächte durchgemacht, getrunken und geraucht hat oder noch Schlimmeres, doch ihren einstigen gestochenen Akzent kann sie trotz allem nicht ganz verhehlen.
»Sie ist verschwunden«, sage ich eilig, um ihre Aufmerksamkeit hochzuhalten und zu verhindern, dass sie mir die Tür vor der Nase zuschlägt.
»Und?«, gibt sie zurück, drückt aber schon nicht mehr ganz so fest gegen die Tür.
»Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir ja helfen. Wenn Sie irgendeine Vorstellung hätten, wo sie sein könnte …«
»Ich? Machst du Witze? Du weißt aber schon, dass sie mit sechzehn einfach auf Nimmerwiedersehen hier rausmarschiert ist?«
Ich muss an die hässliche Narbe auf Sashas Wange denken und wie sie unwillkürlich die Schultern hochgezogen hatte, wann immer die Rede auf ihre Mutter gekommen war. Ich will Alice am liebsten anschreien, weil sie ihre Tochter dermaßen im Stich gelassen hat, weil sie es wagt, das Eingreifen des Sozialamts als »rausmarschieren« zu bezeichnen. Aber ich reiße mich am Riemen, beiße die Zähne zusammen und lächele sie an.
»Ja, ich weiß, trotzdem wollte ich fragen, ob sie sich vielleicht gemeldet hat?«
Ein paar Teenager biegen um die Ecke am Ende der Straße, und je näher sie kommen, umso lauter höre ich sie fluchen und einander anrempeln. Einer von ihnen entdeckt mich und sagt etwas zu seinen Kumpels.
»Kann ich reinkommen?«, frage ich. »Nur ganz kurz?«
Sie sieht hinüber zu den Jungs. »Meinetwegen.«
Wir durchqueren einen schmalen Flur und betreten ihre Wohnung, die in Wahrheit, wie mir jetzt erst dämmert, gar keine Wohnung ist, sondern bloß ein Zimmer mit einer Matratze in der Ecke. An der Wand steht ein kleines Kunstledersofa mit zwei langen Rissen, davor ein wackliger Couchtisch. Aber es ist sauber und aufgeräumt, hier und da stehen persönliche Habseligkeiten herum. Auf dem Boden neben der Matratze liegt ein geöffneter Koffer, und Alice wirft den Deckel zu und bedeutet mir mit einer Geste, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Sie selbst bleibt stehen und lehnt sich an das Spülbecken in der Küchenzeile mir gegenüber.
»Das hast du nicht erwartet, was?«, schlussfolgert sie messerscharf, noch während ich mich überrascht umsehe. »Dachtest, hier wär’s dreckig, und überall würden Spritzen und Kippen rumliegen? Ich nehme an, so hat es Olivia sich ausgemalt.«
»Nein …«
»Lass nur. Ich weiß genau, was sie von mir denken. Hör mal, ich weiß nicht, warum du hier bist, ich hab Sasha seit Jahren nicht mehr gesehen und kann dir auch nicht helfen. Ich kann nur so viel sagen: Wenn sie verschwunden ist, dann bestimmt aus gutem Grund. Wie gesagt, sie weiß selbst ganz gut, was sie tut.«
»Aber da gibt’s ein paar Dinge, die Sie nicht wissen.« Noch während ich es laut ausspreche, dämmert mir, dass sie womöglich zumindest einen Teil sehr wohl kennt. Der Prozess ist immerhin ausführlich in der Presse breitgetreten worden. Sie muss es mitbekommen haben.
»Mag sein.« Sie zuckt mit den Schultern. »Aber egal, wie schon gesagt …« Das Telefon in ihrer Tasche fängt an zu klingeln, und sie hält inne, zieht es heraus und sieht auf das Display hinab. Kurz sieht sie verängstigt aus, dann geht sie ran.
»Hallo?« Ihr beschwingter Tonfall steht in eklatantem Widerspruch zu der zunehmenden Blässe, als sie dem Anrufer zuhört. »Ja, aber ich dachte, du wärst … Okay, okay, dann bis gleich.« Sie legt auf. »Du musst wieder gehen.«
»Warum?« Ich bleibe sitzen.
»Willst du nicht wissen, Schätzchen. Hau einfach ab.« Ich stehe auf, und sie schiebt mich aus dem Zimmer. »Hoffentlich findest du sie«, sagt sie noch, und im selben Moment, da ich hinaus auf die Straße trete, schlägt sie die Tür hinter mir zu.
Ich bin fast wieder an der U-Bahn, als mein Handy klingelt. Es ist PC Bryant. Sekundenlang starre ich das Display an und frage mich, ob dies der Anruf ist, der mein Leben verändern wird, der den Übergang zwischen Vorher und Nachher markiert. Doch ich finde keine Antwort.
»Hallo?« Ich stelle mich in einen Hauseingang und halte mir das freie Ohr zu, um den Verkehrslärm auszublenden.
»Hallo, Ellen. Ich wollte Sie nur kurz updaten und Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Wir haben Überwachungsvideomaterial von dem Tag gesichtet, an dem Sasha verschwunden ist. Sie hat um halb eins das Büro verlassen und ist zunächst in die Bar gegangen, die im Erdgeschoss ihres Arbeitsplatzes liegt.«
Das Café Crème. Da hab ich sie auch schon getroffen. Dort gehen sie hin, wenn jemand befördert wird, sie und ihre Kollegen, oder um den Frust hinunterzuspülen, wenn jemand gefeuert wurde.
»Sie war etwa eine halbe Stunde dort, ist dann zur U-Bahn gelaufen und nach Fulham Broadway gefahren.«
Ich schaue über die Straße zum U-Bahnhof. Fulham Broadway, steht auf dem Schild. Sie war hier.
»Wir gehen davon aus, dass sie ihre Mutter besuchen wollte, insofern werden wir sie auf jeden Fall noch mal kontaktieren.« Jetzt, da ich sie kennengelernt habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass Alice von einem Besuch der Polizei begeistert sein wird. »Von dort aus ist Sasha mit der U-Bahn zurück zur Victoria Station gefahren. Wo sie anschließend hin ist, wissen wir noch nicht, aber wir sehen uns noch weitere Überwachungsbänder an.«
Ich sollte Bryant erzählen, dass ich gerade dort war, dass Alice behauptet, nichts zu wissen. Aber vielleicht bekommt sie ja aus ihr etwas heraus, was ich nicht in Erfahrung bringen konnte.
Bryant verabschiedet sich und versichert mir noch, dass sie alles tun, was in ihrer Macht steht. Ich trete aus dem Hauseingang heraus und überquere die Straße. Vor dem Bahnhof bleibe ich stehen. Sasha war hier. Sie muss zu Alice gewollt haben, die wiederum der Polizei nichts erzählen wird. Ich muss es noch mal versuchen.
Also laufe ich zurück. Die Straße ist inzwischen verlassen, und ich gehe im Kopf durch, was ich zu ihr sagen will. Die Polizei sagt  … Nein, besser, die erwähne ich nicht. Jemand hat Sasha gesehen … Ich bin derart damit beschäftigt, mir eine Eröffnung zurechtzulegen, dass ich schon fast die Hand an der Klingel habe, als mir auffällt, dass die Tür offen steht. Ich klingele trotzdem. Niemand reagiert. Ich klopfe.
»Alice? Hier ist noch mal Ellen, die Freundin von Sasha«, rufe ich in die Stille hinein.
Dann schiebe ich die Tür auf und betrete zögerlich den Flur.
»Hallo?«
Immer noch nichts – mal abgesehen von meinem Herzrasen. Langsam schiebe ich die Tür zu ihrer Wohnung auf. Dann halte ich inne und schlage angesichts des heillosen Durcheinanders die Hand vor den Mund: Die Küchenschubladen wurden herausgezogen, Glas- und Porzellanscherben liegen am Boden. Der Couchtisch ist umgeworfen worden, und ein Bein fehlt. Irgendwer hat ein Loch in die Wand geschlagen. Entsetzt sehe ich mich um. Draußen auf der Straße kann ich eine Männerstimme hören, und ich bleibe stocksteif stehen und bete, dass der dazugehörige Mann nicht näher kommt. Dann verklingt die Stimme, er läuft die Straße entlang, trotzdem flüchte ich nach draußen und in Richtung der sicheren U-Bahn-Station. Meine Lunge brennt, und mir strömt der Schweiß über den Rücken.
Als ich in der U-Bahn sitze und meine Atmung sich allmählich wieder beruhigt, kann ich nur mehr Alices Augen vor mir sehen, die denen von Sasha so ähnlich sahen. Ich bin fix und fertig, muss aber noch einen Anruf erledigen.
Das Café Crème sieht – trotz des kontinental-mondänen Namens – aus wie die Bar eines billigen Hotels, das kleine Angestellte auf Dienstreise buchen, wenn sie in Peterborough einen Geschäftstermin haben. Es ist weit hergeholt, aber hier hat Sasha gesessen, bevor sie verschwunden ist, und vielleicht finde ich ja etwas heraus.
Mit dem Handy in der Hand stehe ich am Tresen und komme mir zutiefst lächerlich vor. Der Barkeeper ist ein junger Mann in einem weißen Hemd mit schwarzer Weste, und mangels anderer Gäste wendet er sich mir augenblicklich zu.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ein kleines Glas Weißwein bitte.« Als er sich zum Kühlschrank hinabbeugt, gebe ich mir einen Ruck. »Und da wäre noch etwas.«
»Klar.« Er nimmt ein Glas zur Hand und gießt den Weißwein ein.
»Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber erkennen Sie diese Frau wieder?« Ich halte ihm mein Handy mit einem aktuellen Foto von Sasha hin – eine Nahaufnahme mit breitem Lächeln. Er stellt den Wein auf den Tresen.
»Vier Pfund fünfzig, bitte. Lassen Sie mal sehen.« Er nimmt mir das Handy aus der Hand. »Ja, klar, die kenne ich. Arbeitet oben, oder nicht? Ein paar von denen kommen nach Feierabend oft hierher. Ist … alles okay mit ihr?«
»Sie ist verschwunden. Ich versuche, sie wiederzufinden.«
»Oh, verstehe.« Er klingt nicht übermäßig interessiert. »Da hab ich keine Ahnung.«
»Nein, natürlich nicht. Es ist nur … War sie vergangenen Freitag hier – wissen Sie das noch?«
»Keine Ahnung, tut mir leid. Kann sein, kann nicht sein.«
»Vielleicht hat sie hier jemanden getroffen … Könnten Sie sich die anderen Fotos vielleicht auch ansehen?«
Er seufzt. »Klar, kann ich schnell machen. Aber gleich kommen die ersten Mittagsgäste, und ich bin hier allein.«
»Natürlich. Hier.« Ich zeige ihm die Facebook-Profilbilder von Leo und Jackson sowie Nicholas’ LinkedIn-Foto. Ein aktuelles Bild von Daniel hab ich nicht gefunden, aber er und Nicholas sehen sich hinreichend ähnlich, als dass dessen Bild vielleicht eine Erinnerung wachruft.
»Nein, tut mir leid, von denen erkenne ich niemanden wieder«, sagt er. Eine Gruppe Anzugträger kommt hereingerumpelt. Wie eine Schlange die Haut abstreift, schütteln sie die Arbeit des Vormittags ab. Der Barkeeper sieht erwartungsvoll an mir vorbei und wird sie gleich bedienen.
»Sorry, nur noch ganz kurz …«, sage ich verzweifelt. »Haben Sie sie je mit einer älteren Frau gesehen? Ziemlich dünn, blond?«
»Nein, tut mir leid. Oh – Moment, doch, einmal war sie mit einer Frau hier, aber das war nicht letzten Freitag, das ist schon länger her. Ein, zwei Wochen – womöglich den Freitag davor?« Das wäre der Abend, an dem Sasha so merkwürdig gelaunt nach Hause kam und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat. »Sie sahen aus, als würden sie ein ziemlich ernstes Gespräch miteinander führen. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, worum es da wohl ging.«
»Und diese andere Frau – war die vielleicht Ende fünfzig und ein bisschen … abgelebt?« Unter den Umständen darf ich es nicht schönreden.
»Oh nein, so alt war sie nicht. Ich würde sagen, etwa in Ihrer beider Alter.« Er zeigt auf mein Handy. »Ziemlich pummelig, blass, straßenköterbraunes Haar. Brille mit breitem Gestell.«
Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Natürlich trifft diese Beschreibung auf zig Leute zu, aber ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass er gerade Karina Barton beschrieben hat.