Ellen
September 2006
Sasha kam erst am letzten Ferientag wieder. Es war inzwischen zwei Wochen her, seit ich von der Party bei den Monktons nach Hause marschiert war. Seither war ich nicht mehr dort gewesen oder hatte auch nur einen von ihnen gesehen. Leo hatte, eine Stunde nachdem ich gegangen war, eine SMS geschickt und gefragt, wo ich steckte. Ich hatte ihm zurückgeschrieben, dass ich zu betrunken und deshalb nach Hause gegangen wäre. Was die Wahrheit war – wenn vielleicht auch nicht die ganze Wahrheit. Tags drauf kam er vorbei, um nach mir zu sehen. Mum war hingerissen, dass er ein solches Interesse zeigte. Ich glaube, sie hatte befürchtet, dass ich mich in einen der Monkton-Jungs verknallen könnte und sie mich endgültig an sie verlieren würde. Leo pflichtete mir bei, dass am Vorabend eine merkwürdige Atmosphäre geherrscht habe, auch wenn er trotzdem geblieben sei und letztlich in Daniels Zimmer übernachtet habe. Er habe sich auf den Boden gelegt, als er aber um vier Uhr nachts aufgewacht und Daniel immer noch nicht da gewesen sei, habe er sich in dessen Bett gelegt und den Rest der Nacht darin geschlafen. Am Morgen habe er Daniel dann zusammengerollt auf dem Sofa gefunden und sei gegangen, ohne mit jemandem gesprochen zu haben.
Sasha schrieb zwei Tage vor Schulanfang, dass sie tags drauf gegen Mittag nach Hause käme und ob ich vorbeikommen wollte. Mein erster Impuls war natürlich, sofort zurückzuschreiben und selbstverständlich begeistert Ja zu sagen. Natürlich wollte ich, auch wenn es bescheuert war. Sie war nach Frankreich abgehauen, ohne ein Wort zu sagen, und hatte sich den ganzen Sommer über kaum bei mir gemeldet. Ich hätte wütend auf sie sein sollen, und ein Teil von mir war es auch, aber der größere Teil hatte sie schmerzlich vermisst, wollte an unsere Freundschaft anknüpfen und wünschte sich, dass alles wieder genau so wäre wie vorher. Außerdem musste ich ihr einiges erzählen, nicht zuletzt, dass ich jetzt offiziell mit Leo zusammen war. Aus unerfindlichen Gründen, die ich mir nicht mal selbst erklären konnte, wollte ich sie jedoch nicht im Haus der Monktons treffen, also wartete ich einige Stunden, bevor ich zurückschrieb und vorschlug, dass wir uns an der Hauptstraße in einem Café treffen sollten.
Ich war absichtlich spät dran, aber immer noch vor ihr dort. Mit einem Becher Tee setzte ich mich ans Fenster und sah, wie sie in abgeschnittenen Jeans und einem weißen T-Shirt durch den Regen gerannt kam. Sie war braun gebrannt wie Toffee, und wie immer drehten sich die Leute nach ihr um. Sie kam durch die Tür, schüttelte sich wie ein nasser Hund und erntete umso mehr bewundernde Blicke vonseiten der männlichen Gäste und des Personals. Dann stiefelte sie auf mich zu, fiel mir um den Hals und nahm mir sämtlichen Wind aus den Segeln, indem sie sich sofort entschuldigte.
»Sorry, dass ich mich so selten gemeldet habe! Dort wo wir waren, hatten wir kaum Netz, und ich hatte kein Geld, hab am Ende auf dieser Farm Äpfel und Birnen geerntet … Oh mein Gott, das war vielleicht anstrengend! Als ich in London über Will und Eloise gestolpert bin, dachte ich erst, was für eine coole Idee – einfach losfahren … Aber da hatte ich wohl irgendwas falsch verstanden, dachte, die hätten ein Ferienhaus … Ich hab nicht kapiert, dass sie dort arbeiten wollten. Wenn ich also mit ihnen dortbleiben wollte, musste ich ebenfalls arbeiten. Ein Albtraum!«
Ich hätte sie gerne gefragt, warum sie nicht einfach zurückgekommen war, wenn es doch so grässlich gewesen war, aber ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort auch hören wollte. Stattdessen bereitete ich mich darauf vor, ihr von Leo zu erzählen. Ich wusste, dass sie an ihm nie interessiert gewesen war, aber er hatte seit ihrem Einzug keinen Hehl daraus gemacht, dass er sie mochte, und ich hatte so einen Verdacht, dass sie seine Bewunderung durchaus genossen hatte (auch wenn sie sie nie hatte erwidern wollen). Ich bestellte mir noch einen Becher Tee, obwohl ich gar keinen mehr hätte trinken wollen, und goss zu viel Milch hinein, sodass er grau und wässrig wurde.
»Während du weg warst, ist etwas passiert.«
»Was?« Unter ihrem Teint sah sie schlagartig blass aus.
»Ich und Leo, wir sind jetzt zusammen.« Ich nahm einen Schluck; er schmeckte wie lauwarmes Spülwasser.
»Ach, das!« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ja, das weiß ich schon, das hat Nicholas mir heute Morgen erzählt.«
»Oh. Dann … hast du damit kein Problem?«
»Warum sollte ich?« Sie sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Weil Leo doch auf dich gestanden hat. Ich dachte, das wäre für dich vielleicht ein bisschen komisch.«
»Gott, nein! Ich war an ihm ja wohl nie interessiert. Das war immer einseitig. Komisch muss das doch maximal für dich sein, wenn überhaupt.« Sie sah mich leicht hämisch an. »Was, wenn er insgeheim immer noch auf mich steht?«
Natürlich war genau das meine allergrößte Angst. Ich hatte tags zuvor versucht, mich darüber mit Karina zu unterhalten, als wir shoppen gegangen waren, aber sie hatte distanziert und verstockt gewirkt. Eigentlich hatte ich angenommen, dass wir in Sashas Abwesenheit wieder näher zusammenrücken würden, wie früher, aber es hatte sich angefühlt, als wären wir uns fremder denn je.
Sasha musste mir angesehen haben, wie entsetzt ich über ihre Replik war, und machte sofort ein ernstes Gesicht. »Oh, Ellen, das war doch ein Scherz! Entschuldige! Echt dumm von mir, so was zu sagen. Wie ist es denn dazu gekommen? Erzähl, ich will alles wissen!«
Ich gab nach; es war einfach zu verführerisch, einem aufmerksamen Publikum von Leo und mir zu berichten. Sie stellte all die richtigen Fragen, wollte genau wissen, wann er was gesagt hatte, wie er mich geküsst hatte, wie weit wir schon gegangen waren. Ich war froh, besonders zu diesem letzten Punkt jemanden zum Reden zu haben, weil wir nun gerade nicht so weit gegangen waren, wie Leo es gern gehabt hätte. Er übte keinen Druck aus, aber ich spürte es natürlich trotz alledem.
Nachdem wir alles besprochen hatten, was in ihrer Abwesenheit vorgefallen war, fragte ich sie, wie es bei ihr zu Hause laufe. Ich wusste, dass die Beziehung zwischen ihr und Olivia nach der Diskussion im März um das verschwundene Geld nicht mehr dieselbe gewesen war.
»Hast du ihr eigentlich je erzählt, dass du den Verdacht hattest, jemand könnte in deinem Zimmer gewesen sein?«, fragte ich.
»Nein. Wie gesagt, es wäre zwecklos gewesen. Und …« Sie fummelte an ihrem Teelöffel herum und drehte ihn hin und her.
»Was?« Plötzlich sah sie verängstigt aus – und da war noch etwas. Scham?
»Ich glaube, dass wieder jemand bei mir war. Während ich weg war.«
»Ach, Nicholas und Daniel haben eine Party gefeiert. Ich glaube, irgendwer hat bei dir übernachtet. Ich bin mir ganz sicher, dass Olivia das Bett neu bezogen hat. Aber vielleicht ist deshalb das eine oder andere bewegt worden.«
»Es geht nicht um Sachen, die bewegt wurden. Es gibt da gewisse Dinge, die … verschwunden sind.«
»Was denn?«, hakte ich nach.
»Ein Slip«, sagte sie leise und spähte zu einer älteren Dame am Nachbartisch hinüber.
»Was? Bist du dir sicher? Vielleicht ist der ja in der Wäsche bei den Sachen von jemand anderem gelandet?«
»Nein. Ich hab ihn nicht mehr angehabt, seit ich dort eingezogen bin. Die Unterhose ist nie in der Wäsche gewesen. Ist Teil eines Sets mit einem BH, der ein bisschen unbequem ist. Deshalb hab ich beides nie wieder angezogen.«
»Scheiße, Sasha …«
»Ich weiß.«
Ich wollte noch mehr sagen, aber sie wechselte das Thema, und ich wusste aus Erfahrung: Wenn es erst so weit war, dann gab es für sie auch kein Zurück. Wir saßen vielleicht noch eine Stunde beisammen, bestellten Tee nach und plauderten und taten so, als wäre alles wie immer, aber das war es nicht. Ehe sie nach Frankreich abgehauen war, waren Sasha und ich beste Freundinnen gewesen, doch inzwischen stand irgendetwas zwischen uns. Keine Ahnung, ob all das, was sie mir von ihrer Reise erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Und auch wenn Leo jedes Interesse an ihr weit von sich gewiesen hatte, war ich besorgt, was zwischen ihm und Sasha passieren würde, jetzt da sie wieder zurück war. Und irgendjemand hatte Sashas Unterwäsche geklaut und sie zu welchem Zweck auch immer behalten.
Alles war anders, und ich hatte so eine Vorahnung, dass es von nun an nur noch schlimmer werden würde.