Ellen
Dezember 2006
Am Silvesterabend stakste ich auf Absätzen, die sich im Geschäft noch halbwegs bequem angefühlt hatten, die Straße entlang zu den Monktons. Aus ein paar Hundert Metern Entfernung sah ich Karina zu Hause durch die Tür kommen und dann die Straße überqueren. Auf dem Gehweg blieb sie kurz stehen und neigte den Kopf, als müsste sie innerlich einen Kampf ausfechten, doch nach ein paar Sekunden warf sie ihr Haar zurück und marschierte den Gartenweg hoch, und bis ich ebenfalls dort ankam, war sie bereits im Haus verschwunden.
Ich fragte mich, ob sie wohl darüber nachgedacht hatte, was ich ein paar Wochen zuvor durch Sashas Zimmerwand mitangehört hatte. Ich hatte es ihr gegenüber mit keiner Silbe erwähnt, weil ich davon ausging, dass sie es mir schon erzählen würde, wenn sie Redebedarf hätte.
Ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, machte mir die Tür auf. Er war etwa in Tonys und Olivias Alter und musterte mich fröhlich von Kopf bis Fuß.
»Guten Abend, junge Dame!«
Oh Gott, ich hatte schon ganz vergessen, dass dies wieder eine jener Monkton-Partys werden würde, bei denen alle ihre Bekannten einluden – auch die Eltern. Erst war es mir einfach nur neu und spannend vorgekommen – Erwachsene, die sich wie Teenager benahmen und sich betranken. Das hatten meine Eltern nie gemacht. Erst in letzter Zeit fand ich es zusehends seltsam, auch wenn ich den Grund dafür nicht genau hätte benennen können. Sie alle waren Musiker, Künstler, Schauspieler – überlebensgroß und exaltiert. Bis vor Kurzem hatte ich obendrein angenommen, dass sie außerdem erfolgreich waren, an der Schwelle zum großen Durchbruch. Doch je später es an jenem Abend geworden war, umso mehr sprachen sie tatsächlich darüber, wie es beruflich bei ihnen aussah, und mir dämmerte, dass von Durchbruch keine Rede sein konnte.
Ich beendete den Small Talk mit dem Mann von der Tür. Karina stand im Wohnzimmer und redete – viel zu hektisch – auf ein Mädchen aus unserer Jahrgangsstufe ein, wobei sie unnatürlich laut lachte. Ich kümmerte mich nicht weiter um sie und ging stattdessen nach oben. Als ich mich gerade nach der Klinke in Sashas Tür ausstrecken wollte, schlug mir die Tür fast ins Gesicht, als sie von innen aufgestoßen wurde und Daniel, ohne ein Wort zu sagen oder mich auch nur zur Kenntnis zu nehmen, am mir vorbeistampfte. Mit einem Lächeln im Gesicht trat ich ein und wollte Sasha schon erzählen, was für ein gruseliger Typ mir die Haustür aufgemacht hatte, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Sie saß kreidebleich auf dem Bett, hatte die Hand vor den Mund geschlagen, damit ihr nicht gleich etwas herausplatzte, und hielt den Blick zu Boden gesenkt.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und blieb verunsichert an der Tür stehen.
Ihr Kopf schoss nach oben, sie ließ die Hand sinken und brachte ein erzwungenes Lächeln zustande, das nicht bis zu ihren Augen reichte.
»Hallo! Ja, alles okay. Daniel war nur gerade ein Arschloch. Wow, du siehst toll aus. Wo hast du dieses Kleid her?«
Ich ließ zu, dass sie eine Weile über Unverbindliches wie Klamotten und Shoppen redete, weil mir klar war, dass sie insgeheim hoffte, ich würde nicht nachbohren. Im Nachhinein wünschte ich mir, ich hätte es getan, aber da war es bereits zu spät. Ein paar Minuten darauf ging die Tür wieder auf. Karina kam herein und warf sich aufs Bett.
»Hallo, Mädels«, sagte sie. Irgendwie strahlte sie etwas Merkwürdiges aus. »Was ist denn mit Daniel los?«
»Ach, ich weiß auch nicht, hat irgend so eine Laune«, antwortete Sasha. »Wie geht’s?«
»Super!«, rief sie und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen, setzte sich dann aber nach ein paar Sekunden erneut auf. »Woah, da dreht sich bei mir alles!«
»Bist du jetzt schon besoffen?«, fragte ich. »Es ist doch noch total früh am Abend.«
»Alles bestens, ich hab nur schon ein paar Gläschen drüben bei mir getrunken, bevor ich hergekommen bin, das ist alles.« Sie verschränkte die Hände auf dem Schoß und grinste breit. Genau so musste auch ich immer gewirkt haben, wenn ich nach einem Abend bei den Monktons heimgekommen war und Mum und Dad gegenüber so getan hatte, als wäre ich stocknüchtern. Tatsächlich zwang ich mich, jedes Wort überdeutlich auszusprechen, während ich mich gleichzeitig am Riemen riss, um nicht geschwätzig zu werden. »Habt ihr nichts zu trinken hier oben?«
»Nein. Aber in der Küche steht jede Menge«, erwiderte Sasha spitz.
Ohne den Unterton bemerkt zu haben, kam Karina auf die wackligen Beine. Sie schob im selben Moment die Tür auf, als Nicholas über den Flur auf die Treppe zulief.
»Wo gehst du denn hin?«, hörten wir sie noch fragen.
»In die Küche, Getränke für Daniel und mich holen«, antwortete er.
»Oh, da komm ich mit!«
Sobald sie außer Hörweite waren, wechselten Sasha und ich einen Blick.
»Was ist denn da im Busch?«, fragte ich.
»Weiß der Himmel«, antwortete Sasha. »Aber sie ist in letzter Zeit öfter mal komisch. Noch komischer als sonst, meine ich.«
Ich musste lachen. Zwischen Sasha und mir war nach ihrer Spritztour nach Frankreich allmählich wieder Normalität eingekehrt, und es fühlte sich gut an, wieder auf derselben Seite zu stehen. Da war mir egal, ob ich fies zu Karina war. Sie konnte uns ohnehin nicht hören, insofern konnte ich sie damit auch nicht verletzen.
»Und wie sieht sie überhaupt aus?«, fragte ich und lästerte mich langsam warm.
»Ich weiß! Hat sie sich mit einem Spachtel geschminkt?« Sasha tat so, als würde sie sich Händevoll Zeug ins Gesicht klatschen, und wir gackerten wie die Wahnsinnigen.
Je später es wurde, umso betrunkener waren alle. Ich hatte zuvor nie Erwachsene getroffen, die so viel tranken wie die Monktons und ihre Freunde. Ich verbrachte eine geschlagene Viertelstunde eingequetscht in der Küche, wo Tony mir auf die Pelle rückte und lautstark auf mich einredete, wie toll es sei, dass Olivias Karriere so fantastisch verlaufe, und wie froh er für sie sei, wie gut, dass er sie unterstützen könne, indem er für die Familie geradestehe, sofern seine eigenen beruflichen Verpflichtungen es erlaubten. Ich war mir nicht sicher, wem er da etwas vormachen wollte, aber bei mir kam das Gegenteil dessen an, was er mir weismachen wollte. Weil sie sich so riesige Mühe gab, es kleinzureden, hatte ich bis vor Kurzem gar nicht realisiert, dass Olivia so viel erfolgreicher war als er – und dass er selbst seine Laufbahn als Enttäuschung empfand.
Aber es gab neben der Langeweile noch einen weiteren Grund, warum ich von Tony wegkommen wollte. Aus dem Augenwinkel hatte ich nämlich entdeckt, wie sich Sasha und Leo am anderen Ende der Küche angeregt unterhielten. Ich hatte versucht, ihnen zu signalisieren, dass sie mich retten sollten, aber entweder hatten sie es übersehen, oder sie ignorierten mich absichtlich. Je länger sie im Gespräch waren, umso mehr wurde mir angst und bange. Beide hatten mir hoch und heilig versichert, am jeweils anderen nicht interessiert zu sein, aber wenn ich mir sie jetzt so ansah – beide so gut aussehend, so perfekt, wie sie im Licht der Küchenlampe standen und lachten –, sah es einfach so aus, als gehörten sie zusammen. Leo war nicht für jemanden so Unscheinbaren wie mich geschaffen. Ihm gebührte jemand Außergewöhnlicheres. Jemand wie Sasha.
Am Ende war es Nicholas, der mich rettete. Er hatte mich minutenlang beobachtet, wie ich nickte und lächelte und Leo und Sasha verzweifelte Blicke zuwarf, dann sogar jedem anderen, der meine Stresssignale hoffentlich auffangen und mir zu Hilfe eilen würde, aber es war zwecklos gewesen – sie waren alle nur damit beschäftigt, über sich selbst zu sprechen. Oder sie warteten nur darauf, dass derjenige, mit dem sie sich unterhielten, endlich den Mund hielt, sodass sie sich wieder selbst ins Gespräch bringen konnten. Nur Olivia – der einzig echte Star unter ihnen allen – war gegen diese Art Selbstbeweihräucherung und dieses Eigenlob immun; gegen die Vorstellung, dass man nur behaupten müsste, erfolgreich zu sein, und es damit auch wäre oder zumindest würde. Ich spürte, wie jemand mich sanft am Arm berührte, und war heilfroh, als ich mich umdrehte und Nicholas dort stand, der mir ein Glas Wein hinhielt.
»Du siehst aus, als könntest du das gebrauchen«, sagte er. »Dad, du langweilst Ellen zu Tode.«
Auch daran hatte ich mich erst gewöhnen müssen – dass die Monkton-Kinder ganz beiläufig frech gegenüber ihren Eltern waren. Wenn ich so etwas in der Art zu meinem Vater gesagt hätte, wäre er in die Luft gegangen.
»Zumindest hört sie mir noch zu, nicht wie meine eigenen Kinder«, entgegnete Tony und legte mir den Arm um die Schultern. Ich muss mich spürbar verspannt haben, weil er mich gleich wieder losließ.
Nicholas sah ihn angewidert an. »Du lässt ihr echt keine Wahl, Dad. Komm, Ellen, soll er doch jemand anderen um den Verstand langweilen.«
Ich lächelte Tony an, ließ mich dann aber von Nicholas wegführen und setzte mich mit ihm an den Küchentisch.
»Danke«, sagte ich. »Es ist wirklich ein bisschen zu viel geworden.«
»Hat er dir wieder das komplette Elend geschildert? Dass er inzwischen erster Fagottist wäre, wenn er nicht Mum den Vortritt gelassen hätte? Dass er ach so selbstlos gewesen wäre, als er sich der Herausforderung gestellt und sich um die Familie gekümmert hat, während sie Karriere machen konnte?«
»So hat er es zwar nicht gesagt …«
»Nein, aber ich wette, die Richtung war schon korrekt, oder nicht? Ist ja auch egal, dass Mum in Wahrheit echt Schwierigkeiten hatte, im Beruf vorwärtszukommen und sich gleichzeitig zu Hause um so gut wie alles zu kümmern.«
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille; ich wusste nicht recht, wie ich darauf reagieren sollte, während er anscheinend seinen Gedanken nachhing. Dann ergriff er als Erster wieder das Wort.
»Hast du Karina gesehen? Sieht aus, als wäre sie jetzt schon komplett weggetreten.«
Schlagartig kam mir wieder in den Sinn, wie betrunken sie bereits Stunden zuvor gewesen war. In letzter Zeit hatte sie manchmal eine Schärfe an den Tag gelegt, die sie zuvor nie gehabt hatte, eine fast ätzende Unberechenbarkeit, bei der ich mir insgeheim Sorgen machte. Sorgen um sie.
»Sie war draußen im Hausflur, als ich runterkam«, sagte ich. »Hat sich mit Daniel unterhalten, glaub ich.« Die Geräusche, die ich ein paar Wochen zuvor durch die Zimmerwand gehört hatte, hallten unangenehm in meinem Kopf wider. »Ich sollte vielleicht mal nach ihr sehen.« In der Küche war es ohnehin stickig geworden. Hier rauszukommen würde mir guttun.
»Okay. Hoffe, es ist alles in Ordnung mit ihr«, sagte Nicholas beiläufig. »Sie scheint ja zu wissen, was sie da tut.«
»Ja, es ist bestimmt alles in Ordnung, nur …«
Er winkte ab, als würde er mich aus einer Audienz entlassen. Ich verließ die Küche, stand kurz im Flur und lehnte mich dort an die Wand. Mir schwirrte leicht der Kopf, und ich holte tief Luft. In Wahrheit wollte ich einfach nur noch nach Hause und mich in mein eigenes Bett legen, aber heute Abend wurde immerhin Silvester gefeiert, redete ich mir gut zu. Vor Mitternacht konnte ich unmöglich gehen. Es war dunkel im Flur, und weil ich ein schwarzes Kleid anhatte, das mit den Schatten verschmolz, konnten sie mich nicht sehen. Ich hätte sie meinerseits auch fast übersehen, weil sie halb versteckt zwischen den Mänteln lehnten, die vor der Haustür von diversen Haken hingen. Erst konnte ich nicht mal erkennen, was ich da vor mir sah – jemandes Rücken, der zwischen den Mänteln verschwand. Ich dachte, irgendwer würde dort wohl durch seine Manteltaschen wühlen. Doch dann erkannte ich das Hemd wieder, und mir dämmerte, dass es sich um Daniel handelte, der sich auf jemanden drauflehnte und die Person küsste. Als ich zu Boden sah, erkannte ich ein wohlbekanntes Paar schwarzer Schuhe wieder, dann machte er einen Schritt zurück und flüsterte etwas. Karina tauchte grinsend zwischen den Mänteln auf, ihr Haar war verwuschelt und das Glitzerkleid war ihr von der Schulter gerutscht. Sie spähte zu den Kleiderhaken hoch und bewegte die Lippen, sprach aber zu leise, als dass ich sie hätte verstehen können. Daniel beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr erneut etwas ins Ohr, und im selben Moment verblasste ihr Lächeln. Als er von ihr zurückwich und sie sich ansehen konnten, war das Lächeln wieder da, allerdings sah es gekünstelt aus, als hätte sie es nur um seinetwillen aufgelegt. Er schob seinen Arm um ihre Taille und führte sie die Treppe hinauf.
Ich hatte mit dem Rücken zur Küchentür dagestanden, und als ich hinter mir hörte, wie sie ins Schloss fiel, drehte ich mich zwar sofort um, konnte aber nicht mehr sehen, wer sie geschlossen und ob der- oder diejenige das Gleiche gesehen hatte wie ich.