Ellen
September 2017
Er tritt auf mich zu und hebt den Arm, und ich zucke zurück.
»Nein, sorry … Ich will nur … Vielleicht solltest du das wegwischen, bevor es überall hinfließt.« Er zeigt auf die Milchpfütze.
Die Art, wie er sich bewegt, versetzt mich augenblicklich zurück in den Gerichtssaal: der Geruch von Holzpolitur, die weiche Maserung unter meinen Fingern, als ich im Zeugenstand war. Ich zittere. Er schiebt sich an mir vorbei, zieht mehrere Blätter von der Küchenrolle und fängt an, die Milch aufzuwischen. Ich weiche einen Schritt zurück und sehe ihm schweigend zu, so verdutzt bin ich. Als das Papier durchtränkt ist, nimmt er sich mehr, und am Ende greift er sich noch den Lappen von der Spüle. Ich stehe wie angewurzelt da, bin von dieser bizarren Szene komplett in den Bann geschlagen, die von außen betrachtet garantiert aussieht nach harmonischem Haushalt und sich innerlich anfühlt wie ein Horrorfilm.
»Schon besser«, sagt er, wäscht sich die Hände in der Spüle und trocknet sie an dem fadenscheinigen Geschirrtuch ab. »So, und jetzt müssen wir uns unterhalten. Sollen wir uns ins Wohnzimmer setzen?«
Ich folge ihm auf den Flur hinaus, wo ich einen verstohlenen Blick auf meine Tasche werfe, in der mein Handy steckt, und hinüber ins Wohnzimmer, wo wir uns einander gegenüber setzen.
»Tut mir leid, Ellen, dass ich hier einfach reinspaziert bin«, sagt er, lehnt sich vor und stützt die Ellbogen auf die Knie. Ich weiche tiefer ins Sofa zurück. »Aber ich glaube kaum, dass du dich ansonsten mit mir getroffen hättest.«
Da hat er definitiv recht. Ich hab immer noch kein Wort gesagt und bin mir auch nicht sicher, ob ich es schaffe. Mein Mund ist knochentrocken, und ich kann kaum mehr ein- und ausatmen.
»Die Polizei schnüffelt rum. Ich nehme an, das habe ich dir zu verdanken.«
»Tut mir leid«, flüstere ich. »Sasha …«
»Ich weiß, sie ist verschwunden. Aber – Ellen, davon weiß ich nichts. Du hast dich auf den Falschen eingeschossen.«
»Wie bist du hier reingekommen?«
»Ich habe mich reingelassen, während du weg warst. Man verbringt keine fünf Jahre im Knast, ohne das eine oder andere zu lernen. Du hättest mir ja doch nicht aufgemacht, wenn ich einfach geklingelt hätte.«
»Was … Was willst du?«, stoße ich hervor. Meine Zunge klebt am Gaumen.
»Ha! Das ist die große Frage, was, Ellen? Was ich hier will. Was ich will? In meinem Leben elf Jahre zurückgehen und ein paar Entscheidungen anders treffen. Besser treffen. Aber das funktioniert nicht, stimmt’s? Also – was könnte ich stattdessen wollen?«, fährt er fort. »Ich will das Gleiche wie du. Ich will wissen, wo Sasha steckt. Ich will, dass die Polizei aufhört, ihre Zeit mit mir zu verschwenden, während sie stattdessen besser sie finden sollten. Du hast mich in das hier reingezogen. Bevor du der Polizei von mir erzählt hast, hatte ich meine Ruhe. Hab wieder zu Mum und Dad Zugang gefunden. Hab versucht, mir ein bisschen Leben zurückzuerobern. Damit ist jetzt natürlich Schluss.«
»Ich hab der Polizei doch nur von dir erzählt, weil Karina dich in London gesehen hat. Und meine Mutter im Übrigen auch.«
»Nur deshalb? Ist das wirklich der einzige Grund?« Er kneift die Augen zusammen und sieht mich abschätzig an. »Oder hast du direkt an mich gedacht, als Sasha verschwunden war? Hast du sofort an Daniel, den Vergewaltiger, gedacht?«
Ich schüttele den Kopf, traue meiner eigenen Stimme nicht.
»Du hast dich auf den Falschen eingeschossen, Schätzchen«, sagt er erneut. Er klingt anders, rauer. Nicht mehr wie das feine Söhnchen, das ans Royal College of Music ging. Hat er das im Zuge alldessen, was er in den letzten zehn Jahren erlebt hat, nach und nach abgestreift? Oder war es eine bewusste Entscheidung, damit er seinen Knastfreunden ähnlicher war? »Hat es dir nicht gereicht, mein Leben einmal zu ruinieren? Willst du das wirklich schon wieder machen?«
»Ich hab nichts gemacht! Ich hab nur die Wahrheit gesagt!« Daran muss ich mich festklammern.
»Und was war mit Karina? Und Sasha? Haben die auch nur die Wahrheit gesagt?«
»Ja.« Natürlich. Da bin ich mir sicher.
»Und du glaubst immer noch zu wissen, was damals alles vor sich gegangen ist, was?«
»Vielleicht nicht alles …« Ich muss daran denken, dass Karina und Sasha sich vor zwei Wochen im Café getroffen und sich eindringlich unterhalten haben. Karina, wie sie vorhin auf ihrem Bett saß und andeutete, dass nicht alles so gewesen sei, wie es den Anschein gehabt hatte. Die mir auf den Kopf zugesagt hatte, dass ich Sasha mitnichten so gut kannte, wie ich geglaubt habe.
»Nein, nicht alles, Ellen. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass du weißt, dass Sasha und ich 2006 zusammen waren.«
»Was?« Schlagartig weicht die Luft aus meiner Lunge. Ich fühle mich wie ein Fisch, der aus dem Wasser gezogen wurde und jetzt an Deck zappelt. »Nein, das ist gelogen!« Doch meine Stimme schwankt, und ich kann mich nicht mal mehr selbst überzeugen. Ich weiß noch genau, was für Blicke sie einander zugeworfen haben, damals während der ersten Party, als Daniel Klavier gespielt hat. Wie er an Silvester 2006 an mir vorbei aus dem Zimmer gestürmt ist und wie sie geguckt hat, als ich reinkam.
»Dachtest, du wüsstest alles über sie, was?« Selbstzufrieden lehnt er sich zurück. Warum scheint eigentlich jeder so viel Spaß daran zu haben, mich darauf hinzuweisen, wie wenig ich wirklich über Sasha weiß? »Wir haben uns vor elf Jahren ineinander verliebt, während wir schon im Haus an der Ecke wohnten. Es wusste niemand darüber Bescheid – du warst also nicht die Einzige«, fügt er hinzu, als würde das irgendwas besser machen.
Mir schwirrt der Kopf, und ich versuche zu begreifen, was er da sagt, versuche, die Einzelteile neu zusammenzusetzen. Versuche, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass Sasha mich auch diesbezüglich belogen hat. So schlimm war es noch nie. Ich fühle mich wie Washington Irvins dummer Bauer Rip Van Winkle aus der gleichnamigen Kurzgeschichte, der nach zwanzig Jahren aufwacht und feststellt, dass sich alles verändert hat.
»Aber … Karina … Was …«
»Ich hab Karina nicht vergewaltigt. Alles, was ich bei Gericht gesagt habe, war die Wahrheit.« Er lehnt sich vor und durchbohrt mich mit seinem Blick. »Sasha und ich … Wir sind damals nicht im Guten auseinandergegangen. Wir hatten so was … Wir hatten einen Streit an Silvester. Da war etwas passiert, was unserer Beziehung ein Ende gesetzt hat. Ein für alle Mal. Ich war scheiße drauf, war stinksauer auf sie und überhaupt alles und jeden – und betrunken. Dann war da Karina, sie wollte mich, und ich hab mir nicht allzu viel Mühe gegeben, sie zurückzuweisen. Aber sie wollte es. Ich war immer noch nüchtern genug, um das genau zu sehen. Und sie auch.«
»Aber die Schnitte an ihren Beinen, das Blut …«
»Ich habe keine Ahnung, was da passiert ist oder wie sie sich diese Schnitte zugezogen hat, aber sie waren noch nicht da, als ich das Zimmer verlassen habe. Dieser ganze Mist, von wegen Karina und ich wären schon drei Monate lang zusammen gewesen – davon stimmt einfach nichts.«
Ich versuche, die leise Stimme in meinem Kopf zu ignorieren, die mir zuflüstert, dass er die Wahrheit sagt. Das hier sind ein und dieselben Lügen, die er auch bei Gericht erzählt hat – ich hatte ihn und Karina in seinem Zimmer gehört! Ich muss mich darauf konzentrieren, wie ich ihn wieder loswerden kann. Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich über solche Situationen gelesen habe. Man muss sie am Reden halten – ich bin mir ziemlich sicher, dass das einer der Ratschläge war.
»Aber Sasha … An diesem Tag vor Weihnachten, da hat sie dich und Karina zusammen gesehen.«
»Sie hat gelogen.« Seine Züge verhärten sich. »Wie gesagt, es war zwischen uns etwas schiefgegangen. Sie war wütend auf mich. Und um ehrlich zu sein, glaube ich wirklich, dass sie Karina damals geglaubt hat. Sie dachte wohl, sie würde das Richtige tun.«
»Ihr damals geglaubt hat ? Und was ist jetzt?«
»Ich weiß es nicht, Ellen. Wo ist sie? Vielleicht weiß sie inzwischen, dass Karina gelogen hat.« Daniel steht auf und tritt ans Fenster, starrt nach draußen, dann dreht er sich wieder zu mir um. »Genau wie du gelogen hast. Und wie sie gelogen hat.«
»Ich hab nicht gelogen.« Die Angst, die ich bei seinem Anblick verspürt hatte, war abgeflaut, aber lodert jetzt erneut auf, und mir juckt die Haut am ganzen Körper.
»An dem Tag, als du allein bei uns warst – du hast behauptet, du hättest mich und Karina beim Sex in meinem Zimmer gehört. Das ist aber nie passiert.«
Ich sage nichts. Ich habe viel zu viel Angst. Aber ich erinnere mich noch an das Klopfen, an das Grunzen. An Karina, die sagt: Du tust mir weh .
»Wenn du wirklich jemanden mit Karina gehört haben solltest«, fährt er fort, »dann war es jemand anderes. Ich war es nicht.«
»Sie waren in deinem Zimmer«, flüstere ich. »Du warst das – du musst das gewesen sein.« Aber was, wenn nicht – was in aller Welt habe ich dann angerichtet?
»Ich war es nicht, Ellen.« Er setzt sich neben mich aufs Sofa. »Du musst mir das glauben.« Er nimmt meine Hand, aber ich kann mich nicht rühren, sie ist taub und reglos, während seine sich klamm anfühlt. »Wenn du mir nicht glaubst, wirst du Sasha nie finden, weil du selbst alle auf die falsche Fährte gesetzt hast.«
»Aber … wenn Karina nicht mit dir in deinem Zimmer war, mit wem dann?«
»Keine Ahnung.« Er klingt verunsichert, und erstmals kann ich den Jungen in ihm erkennen, der er zehn Jahre zuvor war und der unter der harten Schale des Mannes, zu dem er geworden ist, immer noch da ist.
»Genau deshalb sollte die Polizei mit Karina reden, nicht mit mir.«
»Aber wenn du recht hast und sie bei Gericht gelogen hat, dann wird sie der Polizei doch jetzt auch nicht die Wahrheit erzählen, oder?«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber sie redet vielleicht mit dir. Auch wenn du sie nicht überzeugen kannst, zur Polizei zu gehen, könnte sie dir irgendetwas erzählen, was dir hilft, Sasha zu finden. Wenn es da auch nur die geringste Chance gibt, Ellen, dann musst du es versuchen!« Irgendetwas an der Art, wie er auf mich einredet, lässt darauf schließen, dass er erstaunlicherweise immer noch etwas für Sasha empfindet. Etwas, das er über die Haftjahre hinübergerettet hat – über Jahre, die einem entsetzlichen, unverzeihlichen Verrat gleichkommen, wenn denn tatsächlich wahr ist, was er sagt. Darauf kann ich jetzt jedoch keine Energie verschwenden. Stattdessen gibt es da etwas, was ich wissen muss.
»Was hast du in der Mittwochnacht hier gesucht?«
»Was meinst du?«
»Als du hier mitten in der Nacht eingebrochen bist. Was hast du da gesucht?«
»Ich war zuvor nie hier, das schwöre ich.« Er sieht mir unverwandt ins Gesicht. »Was ist passiert?«
»Jemand war hier in der Wohnung, mitten in der Nacht … Ich hab ihn gehört, wie er Sashas Sachen durchwühlt hat.« Das Entsetzen aus jener Nacht ist immer noch unterschwellig da, wie der Geruch von Zwiebeln nach dem Kochen.
»Das war ich nicht, Ellen«, sagt er nur, und wie alles andere, was er heute Abend gesagt hat, klingt es beunruhigend wahr. »Hör mal, ich muss jetzt gehen, aber ich lass dir meine Nummer da – ruf mich an, wenn du etwas rausfindest, ganz egal, was.«
Stumpf tippe ich seine Nummer in mein Handy. Keine Ahnung, ob er wirklich damit rechnet, dass ich etwas herausfinden kann. Als er endlich weg ist, dreht sich in meinem Kopf alles, und ich versuche zu begreifen, was Daniel mir erzählt hat – vergebens. Daniel und Sasha waren ein Paar. Ich muss an das Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel denken, als Daniel Sasha vor aller Augen einen züchtigen Kuss auf die Lippen gedrückt hat. Ich gehe sämtliche Unterhaltungen im Kopf durch, die ich je mit Sasha geführt habe, und versuche, sie im Licht dieser neuen Erkenntnis neu zu deuten. Ich kann mich an jeden Blickwechsel zwischen den beiden erinnern, an all die Momente, in denen sie zusammenstanden und gelacht haben, und allmählich frage ich mich, wie ich in all der Zeit nur so dumm sein konnte.
Sie hat mich mit ihren Lügen eingewickelt und erstickt wie jemanden, der unter Schnee begraben liegt und für den der Tod nicht schnell und schmerzhaft kommt, sondern langsam und friedlich, sodass man nicht einmal merkt, dass man stirbt.