Ellen
Januar 2018
Die Wohnung ist winzig, Küche und Wohnzimmer in einem, und ich brauche rund eine halbe Stunde länger zur Arbeit, aber sie ist hell und luftig – und sie gehört nur uns. Für Miete und Rechnungen kann ich gerade so allein aufkommen, sage aber nicht Nein, wenn Karina auch etwas beiträgt, wann immer sie kann.
Vielleicht wird sie noch einmal vor Gericht müssen, aber wenn, dann wird sie diesmal die Wahrheit sagen, und das gibt einem Freiheit. Ihr Schicksal liegt dann in den Händen der Staatsanwaltschaft, die derzeit darüber berät, ob sie wegen Meineids und Justizbehinderung angeklagt werden soll. Aus inoffizieller Quelle wissen wir, dass sie gute Karten hat und nicht angeklagt wird – aufgrund des Missbrauchs, dem Nicholas sie damals unterworfen hat, und ihrer daraus resultierenden mentalen Verfassung –, aber das ist natürlich nicht in Stein gemeißelt.
Immer wieder kommt mir in den Sinn, auf welch vielfältige Weise wir mal Freundinnen gewesen waren, ehe Sasha und die Monktons auf den Plan getreten sind. Wie wir gelacht haben, bis uns die Bäuche wehtaten. Auch heute kann ich sie manchmal wieder zum Lachen bringen, und auch wenn sie nie mehr die Alte sein wird, sieht sie jetzt schon jünger aus als an jenem Tag vor einigen Monaten, als sie mir die Tür aufmachte und wie ein in die Enge getriebenes Tier auf mich wirkte. Sie sagt, sie sei darauf vorbereitet, so gut es eben gehe, dass sie verurteilt werden könne. Im schlimmsten Fall bin ich da, wenn sie wieder rauskommt, und warte in unserer kleinen Wohnung auf sie. In unserem Zuhause.
Sasha wohnt inzwischen allein, und ich frage mich, wie sie sich dabei wohl fühlt – ohne jemanden, den sie überstrahlen kann, ohne jemanden, der ihr Selbstbewusstsein stärkt, ohne jemanden, mit dem sie ihre Spielchen spielen kann. Was Karina getan hat, war abscheulich, daran ist nicht zu rütteln. Aber zumindest kann sie mildernde Umstände geltend machen – sie war tatsächlich missbraucht worden, nur eben nicht durch Daniel. Aber Sasha – was ist ihre Entschuldigung? Hat sie Daniel dafür bestraft, dass er mit Karina geschlafen hat? Ich werde es womöglich niemals erfahren.
Was Daniel angeht, wird er diese verlorenen Jahre niemals zurückbekommen, aber ich hoffe für ihn, dass er seinen Frieden findet, sich ein neues Leben aufbauen kann und die zwischenmenschlichen Beziehungen, die damals vor all diesen Jahren in die Brüche gegangen sind, wieder kitten kann. Und Tony hat zumindest noch die Wahrheit erfahren, bevor er gestorben ist.
Wir sind vorgewarnt worden, dass Daniel das Recht hat, Karina zu verklagen, aber er sagt, dass er kein Interesse daran hat, sie zu bestrafen. Wichtig ist ihm nur, dass sein Schuldspruch revidiert wird. Dass er endlich als unschuldig gilt.
In diesem Moment kann ich Karina durch die papierdünnen Wände hören, wie sie die Treppe hochkommt und dann durch die Tür stürmt.
»Mum sagt, sie gibt mir das Geld!«, ruft sie und legt regelrecht ein Tänzchen hin.
»Die Umschulung?« Karina will sich zur Beraterin für Missbrauchsopfer ausbilden lassen, hat aber bislang Schwierigkeiten gehabt, das Geld für den Kurs zusammenzukriegen.
»Ja. Sie hat es mir zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber ich nehme mal an, das ist ihre Art, endlich anzuerkennen, was er getan hat … mein Vater, meine ich.«
Ich weiß, dass Karina sich insgeheim mehr von Dilys gewünscht hätte: dass sie endlich zugäbe, dass sie ihrer Tochter schrecklich unrecht getan hat, indem sie ihr nicht geglaubt hat, aber vielleicht würde es Dilys’ Leben schlichtweg unerträglich machen, die Wahrheit anzuerkennen.
»Das ist ja großartig! Ich freu mich für dich!«
»Danke. Ich weiß, es dauert Jahre, bis ich wirklich als Beraterin arbeiten kann – wenn ich es überhaupt schaffe –, aber zumindest weiß ich jetzt, worauf ich hinarbeite – auf etwas, was wirklich etwas bewirken könnte. Diese ganzen Jahre habe ich bloß auf der Stelle getreten und dachte, das wäre es jetzt für mich gewesen; so würde es für immer bleiben. Zumindest weiß ich jetzt, dass die Chance auf Besserung besteht.«
Die Wahrheit zu sagen war für Karina ein Befreiungsschlag, und das sollte ich mir zum Vorbild nehmen. Ich mag bei Daniels Prozess nicht gelogen haben, aber ich habe mich jahrelang selbst belogen, was meine Beziehung zu Sasha anging. So zu tun, als wäre die Art, miteinander umzugehen, völlig normal, als wäre es völlig in Ordnung, so übermäßig eng miteinander verbunden zu sein. Mir einzureden, sie würde sich genauso sehr um mich sorgen wie ich mich um sie. Tja, damit ist es jetzt vorbei. Sie hat mich nur deshalb in ihrer Nähe gehalten, weil ich ihre Lüge gerechtfertigt habe. Denn solange ich der Ansicht war, Karina mit Daniel zusammen gehört zu haben, hatte sie das Richtige getan. Im selben Moment, da sie die Wahrheit erfuhr, hat sie Reißaus genommen. Hat nur noch darüber nachgedacht, wie sie ihre eigene Haut retten konnte. Ich war ihr immer egal gewesen, und mir das Gegenteil einzureden war die größte Lüge von allen.
Sich selbst zu belügen ist so unendlich leicht, weil man dabei nicht ertappt wird. Niemand wird sagen: Moment mal, das ist doch nicht richtig. Vielleicht ist da ein Stimmchen im Hinterkopf, das einem in dunklen Nächten zuflüstert, sobald alle anderen Geräusche verstimmt sind, aber dieses Stimmchen kann man einfach ignorieren, besonders wenn die Sonne wieder aufgeht und die Welt aufs Neue in die Gänge kommt. Man stopft den Tag einfach mit Arbeit, Familie, Freunden, Hobbys, Treffen zu, und im Handumdrehen ist die Stimme nicht mehr zu hören. Ich kann Sasha noch so viele Vorwürfe machen, aber ich muss mir auch eingestehen, dass auch ich meinen Anteil an unserer verqueren Beziehung hatte.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Karina, die immer noch aufgeregt von dem Kurs erzählt. Am liebsten würde ich diesen Moment für sie einfrieren wollen, weil es zum ersten Mal seit einer Ewigkeit den Anschein hat, als wäre sie glücklich, als freute sie sich auf das, was ihr bevorsteht. Gleichzeitig habe ich ein bisschen Bammel, was kommt, wenn die Staatsanwaltschaft beschließt, sie doch anzuklagen. Aber ich tue es ihr gleich, lächele und plaudere, als würde mein Leben davon abhängen, und vielleicht stimmt das ja sogar.
Vielleicht ist das alles, was wir je tun müssen, was wir tun können: mit Gelassenheit und Würde den Wahrheiten in unserem Leben ins Auge zu sehen. Karina, Olivia, Sasha – sie alle müssen mit den Konsequenzen ihrer Lügen leben. Und ich muss jetzt einen Weg finden, um mit der Wahrheit zu leben.