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Wieder im Käfig

 

Als sie wieder in der Stadt waren, ging Roman schnurstracks in Lance' Büro und schloss die Tür hinter sich. Er berichtete Lance von ihren Funden, von den gerissenen Angelschnüren, dem Fahrzeug und den zwei Fremden, die er auf den Wegen gerochen hatte.

Mit grimmiger Miene schnappte sich Lance seine Jacke und ging mit Roman zusammen hinüber ins Diner. Als sie eintraten, musterte Lance jeden im Raum misstrauisch. Aber es waren alles Leute, die sie kannten, Rudelmitglieder oder harmlose Menschen, die in der Gegend wohnten. Da war ein junges Paar mit einem Baby, das ihnen nicht bekannt war. Die Mom sah müde aus und roch nach Muttermilch. Lance blickte zu Roman, doch der schüttelte den Kopf. Das sind sie nicht.

Lance setzte sich auf einen Hocker am Tresen und bestellte Pastete für sie beide, Kaffee für sich selbst und Brühe für Roman.

»Sag Daisy, nach wem wir suchen«, wies er Roman an.

Roman beschrieb den Geruch der beiden Männer. Außerdem zeigte er Daisy ein paar lange rote Haare, die er in den Zweigen entlang des Weges gefunden hatte. Er hatte auch die Fußspuren gesehen. Einer der Männer trug teure Wanderstiefel und der andere ein billiges Paar Tennisschuhe, deren Sohlen schon durchgelaufen waren.

Daisy hörte ihm aufmerksam zu und sah sich die einzelnen Haare an. Sie nickte. »Die beiden habe ich gesehen. Sie sind am Freitag ins Diner gekommen. Hatten Hamburger und Pommes und einer hatte eine Cola und der andere einen Vanillemilchshake.«

»Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«, wollte Lance mit einem frustrierten Schnauben wissen.

Daisys Nase zuckte. »Nun, Sheriff, du weißt, dass ich dich nicht jedes Mal belästigen kann, wenn ein neues Gesicht durch die Tür kommt! Und sie schienen ganz nett zu sein. Der rothaarige Mann war sehr freundlich.« Sie lächelte bei der Erinnerung.

Lance packte seine Gabel fester und Roman wusste, was er dachte. Daisy würde im Angesicht eines Bankräubers fröhlich mit dem Schwanz wedeln und einem bewaffneten Psychopathen übers Gesicht lecken.

»Wie hat der andere ausgesehen, der keine roten Haare hat?«, fragte Roman. »Er hat irgendwie krank gerochen.«

»Das ist ein kleiner Typ mit dunkelbraunem Haar. Er hatte tatsächlich irgendeinen chemischen Geruch an sich.« Daisy rümpfte die Nase. »Er war sehr nervös und schreckhaft.«

»Haben sie irgendetwas darüber gesagt, was sie hier machen? Wie lange sie bleiben?«, wollte Lance wissen.

»Nein, Sheriff.« Daisy schaute sie mit großen Augen an.

»Okay. Wenn du sie noch mal siehst, schreibst du mir sofort eine Nachricht. Verstanden?«

Daisy nickte besorgt. »Was haben sie angestellt, Lance? Sind sie gefährlich?« Sie runzelte die Stirn und warf einen Blick zu den restlichen Gästen.

»Ich bin mir noch nicht sicher. Aber wir müssen sie im Auge behalten.«

Das schien Daisy zu beruhigen. Sie ging davon, um sich ihren anderen Kunden zu widmen.

Roman aß ein Stück von seiner Pastete. Es war ein langer Tag gewesen und er war wirklich hungrig! Er verputzte sie mit drei großen Bissen und gerade als er fertig war, stellte Daisy einen Teller mit einem extragroßen Cheeseburger daneben, ohne darum gebeten worden zu sein. Sie lächelte ihm vergnügt zu und schenkte ihm ein kleines Zwinkern.

Zum ersten Mal brachte ihr Lächeln und Zwinkern Roman ins Grübeln. Warum war Daisy so nett zu ihm? Flirtete sie mit ihm? Mochte sie ihn auf diese Weise, so wie Matt ihn mochte? Oder war sie einfach nur freundlich?

Wie kamen Menschen ohne Gerüche dahinter… Pheromone der Brunst… die deutlich machten, wer ihnen gegenüber aufgeschlossen war und wann? Was, wenn man sich irrte? Wie fand man das heraus? Fragte man einfach Hey, möchtest du begattet werden? oder wurde das als Beleidigung betrachtet?

Es wirkte so überfordernd. Roman fühlte sich verloren.

Er hatte Matts Gegenwart heute nicht genossen. Matt hatte eine Mauer zwischen ihnen errichtet, auch wenn Roman sie nicht sehen konnte. Und obwohl er sie gerne durchbrechen würde, wusste er nicht, wie oder ob er es versuchen sollte. Und er dachte auch die ganze Zeit an Lance' Worte.

Matt war sein Job. Nicht sein Freund. Und auch nicht… sonst irgendwas.

Dankbar machte sich Roman über seinen Burger her, während Lance mit jemandem telefonierte. Er verdrehte genüsslich die Augen. Cheeseburger waren unglaublich! Sie bestanden aus leckerem Rindfleisch und Käse und Brot gab es auch! Alles gleichzeitig! Menschen hatten echt die besten Ideen.

»Also…« Lance beendete den Anruf, indem er sein Handy genervt mit dem Daumen malträtierte. »Im Motel wurde niemand gesehen, auf den die Beschreibung passt. Bert meinte, es war nicht viel los. Lass uns bei Minnie vorbeischauen.«

»Alles klar.« Roman schlang den Rest seines Burgers hinunter. Ausnahmsweise ermahnte ihn Lance nicht mit Kauen, Roman. Menschen lassen sich Zeit und kauen. Das verriet Roman, dass Lance mit den Gedanken wirklich woanders war.

Sie verabschiedeten sich von Daisy und verließen den Diner. Das Glöckchen über der Tür klingelte und normalerweise liebte Roman das Geräusch, aber heute klang es blechern.

Sie gingen ein Stück die Main Street hinunter zum Immobilienbüro von Mad Creek, das von Minnie geleitet wurde. Die Fotos im Fenster zeigten traurig wirkende, heruntergekommene Häuser und verdorrte Grundstücke. Minnie hatte wild gelocktes, braunes Haar und war riesig für eine Frau. Sie stammte in zweiter Generation von Neufundländern ab. Ihre Bewegungen waren behäbig, aber sie hatte einen messerscharfen Verstand. Als sie eintraten, unterhielt sie sich gerade mit einem gut gekleideten, grauhaarigen Paar.

»… nun, da haben Sie recht, es gibt einige reizende Objekte in der Gegend von Squirrel Flats, aber natürlich mussten die meisten davon nach dem letzten großen Hochwasser instand gesetzt werden. Die Versicherungen dort sind recht kostspielig, fürchte ich. Wegen der Probleme mit den Gasleitungen.«

Der Mann und die Frau tauschten einen besorgten Blick aus. »Wie wäre es nordöstlich der Stadt, an diesem hübschen Berg? Wie hieß der Berg noch mal, Liebling?«, fragte die Frau an ihren Mann gewandt.

»Ich glaube, das war Mount Francis.«

»Genau. Wir sind beide im Ruhestand und sind so gerne draußen unterwegs, deshalb wäre es ideal, ein Haus in der Nähe von Wanderwegen zu finden. Dieser Berg sieht wie ein beliebtes Ziel für Wanderer aus.«

»Oh ja! Da gibt es einen sehr beliebten Wanderweg den Mount Francis hinauf«, stimmte Minnie mit großen Augen zu. »Ich habe gehört, von oben soll man einen wundervollen Ausblick haben. Was das Wohnen in der Nähe des Berges betrifft: Ich habe tatsächlich zwei Objekte in dieser Gegend, aber ich kann sie Ihnen heute nicht zeigen.« Minnie schaute sich verschwörerisch um, lehnte sich näher und sagte in bühnenreifem Flüsterton: »Da sind gerade Kammerjäger drin beschäftigt.«

»Kammerjäger?« Der Frau entgleisten die Gesichtszüge.

Minnie nickte. »Ratten. Die Schneeschmelze vom Mount Francis im Frühling bietet ihnen die perfekten Bedingungen. Aber die Leute, die dort leben, sagen, dass sie das Ungeziefer kaum wahrnehmen, abgesehen von den winzig kleinen Häufchen, die sie in den Schränken hinterlassen.«

Mit entsetzter Miene machte die Frau einen Schritt zurück und der Mann räusperte sich. »Ich denke, wir, ähm, nehmen einfach eins der Magazine mit und melden uns wieder bei Ihnen.« Er griff nach einer Immobilienzeitschrift, bevor er und seine Frau durch die Tür hinauseilten.

Minnie wandte sich mit einem breiten Lächeln an Lance und Roman. »Lance! Und Roman! Was für eine Freude.« Sie begrüßte sie, indem sie Lance über die Brust und Roman über den Arm rieb, nachdem sie mit glücklich federnden Schritten auf sie zugekommen war. Roman mochte ihren Geruch. Minnie roch nach Erde und Blumen und es war kein künstlicher Duft. Er hatte sie sehr gern. Sie hatte die kleine Hütte für Roman ausgesucht, als würde sie genau wissen, was er brauchte. Er würde ihr auf ewig dankbar sein.

»Wie ich sehe, leistest du wie immer hervorragende Arbeit, Minnie«, lobte Lance.

Minnie wedelte mit der Hand, als wäre das keine große Sache. »Ich fühle mich schon selbst wie eine Ratte, wenn ich Menschen so abwiegle, aber in letzter Zeit ist es schon schwer genug, Unterkünfte für die Gewandelten zu finden. Habt ihr gehört, dass Dr. Jason Kunik wieder in die Stadt zieht?«

»Nein!«

Minnie nickte wissend. »Jepp. Er hat mich angerufen und gebeten, ihm eine Mietwohnung in der Nähe der Stadt zu suchen. Eine Unterkunft, in der er ein Büro und ein Labor unterbringen kann. Klingt, als hätte er vor, seine Forschungen hier weiterzuführen! Wäre das nicht fantastisch, wenn er herausfinden würde, wie diese ganze Sache mit den Gewandelten tatsächlich funktioniert? Warum in Hunden der Funke geweckt wird und, ihr wisst schon, wie die Verwandlung wirklich vonstattengeht? Ich bin mir sicher, die Ergebnisse werden faszinierend sein!«

»Das wäre interessant«, sagte Lance, doch Roman hatte den Eindruck, ihm würde die Vorstellung nicht so richtig gefallen. »Übrigens sind Roman und ich auf der Suche nach zwei Kerlen, die sich wahrscheinlich in der Gegend aufhalten.« Lance beschrieb Minnie die Verdächtigen.

Minnie schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, so jemand hat bei mir nicht nach Häusern zum Kauf oder zur Miete gesucht. Aber wie Sie wissen, Sheriff, sind nicht alle Mietobjekte im Umkreis der Stadt in meiner Hand, nur etwa die Hälfte. Wenn jemand seine Wohnung untervermieten möchte, bekomme ich davon vermutlich nichts mit. Und dann gibt es noch die Ferienwohnungen, die von anderen Unternehmen angeboten werden. Und die Campingplätze. Mit denen habe ich auch nichts zu tun.«

»Schon in Ordnung, Minnie. Ich wollte nur mal hören, ob sie zu dir gekommen sind. Ich werde weitersuchen.«

»Ich sage Bescheid, wenn ich sie sehe!«, versicherte Minnie Lance.

»Danke.«

Roman wollte Lance gerade zur Tür hinaus folgen.

»Du wartest mal kurz!«, bellte Minnie.

Roman hielt inne.

Strahlend kam Minnie auf ihn zu und ihr ganzer Körper vibrierte vor Energie. Sanft stieß sie mit dem Kopf gegen seine Schläfe. Sie war eine der wenigen Frauen, die groß genug waren, um das zu tun. »Wie geht es dir, Roman? Ich wette, Lance lässt dich furchtbar schuften! Ich hab dich in letzter Zeit nicht bei unseren Treffen gesehen, um den Mond anzuheulen.«

Roman konnte nicht anders, als ihr Lächeln und die zärtliche Kopfnuss zu erwidern. »Nee. Lance und Tim gehen so gerne hin, deshalb bin ich an diesen Abenden immer im Dienst.«

»Das ist aber nicht fair! Nicht jedes Mal! Sie müssen Roman auch mal erlauben, mit uns zu laufen, Sheriff.«

Lance stand unangenehm berührt an der Tür. »Ich biete es ihm jeden Monat an, aber er will lieber…«

»Oh, nicht doch! Versprich mir, dass du nächsten Monat dabei bist, Roman. Es gibt da eine Gewandelte, die ich dir gerne vorstellen möchte. Sie heißt Penny und ist wirklich ein ganz bezauberndes Mädchen! Sie hat den Funken vor sechs Monaten bekommen und ich dachte, ihr beide würdet euch bestimmt gut verstehen.«

Roman schaute hinunter auf seine Füße und fühlte sich, als würde er direkt im Scheinwerferlicht stehen. Es war kein schönes Gefühl. »Okay«, murmelte er.

»Gut. Tschüss, ihr zwei! Bis bald!«

Sie verließen das Büro und überquerten die Straße, um zur Polizeiwache zurückzukehren. Lance hatte den Kopf weggedreht, doch seine Schultern bebten.

»Was ist los?«, wollte Roman wissen.

Lance lachte schallend. »Penny! Oh mein Gott, Roman. Sie ist süß. Sie geht dir ungefähr bis hier.« Er verpasste Roman einen karatewürdigen Schlag ins Zwerchfell.

Roman bedachte ihn mit einem finsteren Blick, hielt sich aber davon ab, seinem Boss zu sagen, er solle die Klappe halten.

»Sie ist ein Pudel. Nicht besonders helle, aber wow, so enthusiastisch. Ich kann es mir lebhaft vorstellen!« Lance schien das für urkomisch zu halten.

»Ich bin nicht an einem Pudel interessiert.« Roman runzelte noch stärker die Stirn.

»Ich weiß nicht, Kumpel. Minnie ist eine sehr zielstrebige Kupplerin.«

Lance zog ihn nur auf, das wusste Roman. Aber er fand es nicht lustig. Wie üblich verstand er den Humor einfach nicht. Was war so witzig daran, Roman unpassenderweise mit einem kleinen Pudel zu verkuppeln?

Der Gedanke erinnerte ihn daran, dass er Matts Humor sehr wohl verstand. Und selbst wenn der Witz an ihm vorbeiging, brachte das Lachen auf Matts Gesicht und in seiner Stimme Roman jedes Mal trotzdem zum Lächeln. Leider hatte Matt in seiner Gegenwart heute nicht gelacht.

»Okay, wir machen Folgendes«, sagte Lance, als sie sich dem Revier näherten. Er drehte sich zu Roman um und war wieder ernst. »Ich werde in der Stadt nach den Typen Ausschau halten. Aber währenddessen… Roman, hörst du mir zu?«

Roman hatte gerade bemerkt, dass Matts Cherokee nicht mehr auf dem Parkplatz stand, er musste wohl nach Hause gefahren sein. Er sah Lance in die Augen. »Ja.«

»Okay, ich werde in der Stadt die Augen nach diesen Kerlen offen halten und wir werden Matt draußen in den Wäldern Jagd auf sie machen lassen. Du wirst ihn natürlich begleiten, aber ich will, dass er den Eindruck bekommt, das wäre seine Operation. Wenn er sich an die Fersen eines wahren Verdächtigen hängen kann, vergisst er Mad Creek vielleicht für eine Weile. Schließlich sollte das immer noch sein Job sein, also überlassen wir ihm das.«

»Verstanden.«

Lance nickte. »Gut. Lass ihn morgen ihre Spur verfolgen. Ich werde mich noch an ein paar anderen Stellen umhören, aber es wird langsam spät. Mach gerne Feierabend, wenn du willst.«

Lance ging ins Gebäude. Roman blickte zum Himmel hinauf. Mittlerweile war es ganz dunkel, aber der Mond hing noch tief über dem Horizont. Die Main Street leerte sich allmählich. Die wenigen Geschäfte der Stadt schlossen ihre Türen und nur der Diner und das Kino leuchteten noch wie sture Knotenpunkte. An den Abenden unter der Woche neigten die Rudelmitglieder dazu, nach Hause zu gehen und sich mit Freunden und ihren Lieben zusammenzukuscheln. Zumindest die, die welche hatten.

Für eine Weile saß Roman in seinem Auto und grübelte über die gerissenen Schnüre und die Gerüche nach, die ihm heute untergekommen waren. Matt dachte, es könnte sich vielleicht um Wilderer handeln – Menschen, die illegal jagten. Roman war sich da nicht so sicher. Selbst wenn, gefiel es ihm nicht. Natürlich hatte er selbst auch unerlaubt gejagt, als er Fleisch zum Essen brauchte. Doch er hatte seine Beute so schnell wie möglich erlegt und hatte von der Jagd abgelassen, wenn er Jungtiere gewittert oder einen starken Lebenswillen in dem Tier wahrgenommen hatte. Und wenn er eins gerissen hatte, hatte er es schnell getötet und komplett aufgegessen.

Ihm gefiel die Vorstellung von Männern mit Gewehren in seinen Wäldern nicht besonders. Einmal hatte er aus dem Gebüsch Männer dabei beobachtet, wie sie sich selbst mit einem toten Bock fotografiert, ihm den Kopf abgetrennt und den schweren Kadaver für die Aasfresser zurückgelassen hatten. Die Tiere hatten gegen eine Kugel nie eine Chance und die Jäger gingen nie nah genug an ihre Beute heran, um zu sehen, ob die Tiere sich für den Abschuss eigneten oder nicht.

Roman knurrte leise und umklammerte fest das Lenkrad.

Aber… wenn Roman raten müsste, würde er nicht davon ausgehen, dass diese Männer Jäger waren. Sie hatten nicht nach steifem Segeltuch und Ködern und Gewehren gerochen. An ihnen hatte der Geruch nach der Stadt und Rauch und… Chemikalien geklebt. Lance hatte gesagt, wenn sie echte Drogenfarmer wären, könnten sie Matts Aufmerksamkeit von der Stadt ablenken. Doch Roman mochte die Idee nicht. Was, wenn die Fremden Matt verletzten? Oder was, wenn sie an ihm vorbeikamen und die Stadtbewohner gefährdeten?

Er warf den Motor an und fuhr auf die Main Street. Auf halbem Weg durch die Stadt ging eine Seitenstraße ab, auf die er normalerweise abgebogen wäre, um den Berg hinauf zu seiner Hütte zu kommen. Er hatte die Abzweigung gerade erreicht, als ihm etwas in den Sinn kam: Wenn man weiter die Main Street entlangfuhr, gab es noch eine weitere Seitenstraße, die nach Süden führte. Und wenn man dieser Straße folgte, gelangte man an einen kleinen See, an dessen Ufer sich einige Miethütten befanden. Das war einer der Orte, bei dem Roman im vergangenen Frühling regelmäßig vorbeigeschaut hatte, aber jetzt war er schon lange nicht mehr dort gewesen.

Es war nicht weit von der Stadt entfernt. Was, wenn die beiden Männer dort ihre Zelte aufgeschlagen hatten? Oder in einer der Hütten wohnten? Er wäre in der Lage, ihr Fahrzeug am Geruch zu erkennen.

Zu Hause erwartete ihn niemand und Abendessen hatte er auch schon gehabt. Er konnte auch gleich nachsehen.

 

***

 

Als Roman an dem kleinen See ankam, konnte er keine Camper an den Ufern entdecken. Aber zwei der Miethütten waren belegt. Gelbe Lichter leuchteten ihm in der Dunkelheit entgegen und spiegelten sich auf dem schwarzen Wasser. Vor der kleineren der beiden – nicht viel größer als Romans Häuschen – stand ein alter gelber VW Beetle in der Einfahrt. Roman parkte an der Straße und schlich sich ans Haus heran. Er schnupperte an dem Wagen und an der Vorderseite der Hütte entlang.

Das Auto gehörte einem jungen Pärchen – einem Mann und einer Frau. Sie waren Wanderer. Er konnte Erde aus dem Wald riechen, die sie an ihren Stiefeln mitgeschleppt hatten, und den scharfen Geruch ihres Schweißes von dem langen Tag auf den Pfaden. Aus der Hütte drangen die gedämpften Geräusche eines Films, den sie auf ihrem Laptop schauten. Sie rochen überhaupt nicht wie die beiden Männer, nach denen er suchte.

Er umrundete den See, um sich der zweiten Hütte zu nähern. Es war die größte am See und ziemlich schick. Sie hatte eine hohe Holzterrasse und im Erdgeschoss verglaste Doppeltüren, die zum See hinausführten. Neben den Türen befand sich eine Außendusche, wenn man schwimmen gehen wollte. Dazu gehörten ein Steg und ein Ruderboot, das schon eine ganze Weile nicht mehr benutzt worden war.

In der Auffahrt standen zwei Fahrzeuge – ein riesiger, weißer, teuer aussehender Geländewagen, der den Schriftzug Cadillac am Heck trug, und ein grauer Pick-up mit Anhänger. Er wirkte wie ein kleiner Umzugswagen, aber es stand kein Logo darauf.

Roman schaute zu den Fenstern hinauf. Die meisten Lampen im oberen Stockwerk waren eingeschaltet und ein blaues Flimmern war zu erkennen, das wahrscheinlich von einem Fernseher stammte. Er sah keinerlei Bewegungen.

Geduckt näherte er sich dem Cadillac. Er schnupperte am Rand der Beifahrertür und riskierte es – weil er nicht genug wahrnehmen konnte –, die Hand an den Türgriff zu legen. Die Alarmanlage wurde nicht ausgelöst. Probeweise zog er an der Tür und stellte fest, dass sie nicht verschlossen war. Er öffnete sie einen Spaltbreit, wodurch das Licht im Inneren ansprang.

Der widerliche Gestank nach Chemikalien schlug ihm entgegen, kombiniert mit einer stärkeren Fährte des zweiten Mannes – dem Rothaarigen. Sein Geruch war herb, erinnerte an Wut oder Bosheit, und darüber lag einer dieser Flaschendüfte, der unangenehm in Romans Nase kitzelte.

Er schloss die Tür so leise wie möglich wieder. Das Licht erlosch.

Dann hockte er dort im Dunkeln neben dem Auto und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Er sollte Lance anrufen. Vielleicht würde er beschließen, sich die Männer heute noch zu schnappen. Oder vielleicht würde er abwarten, was Matt tat. Doch Roman wollte zuerst einen Blick durch die Fenster der Hütte werfen. Er wollte die beiden Männer, die Daisy beschrieben hatte, mit eigenen Augen sehen, damit er sie wiedererkannte. Vielleicht konnte er auch nachschauen, was sich in diesem Umzugswagen befand.

Ein leises Geräusch zu seiner Linken drang an sein Ohr. Roman wirbelte herum, doch es war zu spät. Eine große Gestalt ragte in der Finsternis über ihm auf und eine Pistole wurde ihm an die Schläfe gedrückt.

»Wenn du zuckst oder auch nur atmest, bist du ein toter Mann.« Die Stimme des Mannes war tief und kalt und Roman spürte, dass er kein Problem damit hätte, den Abzug zu ziehen. Es würde ihn nicht jucken, nicht diesen Mann. Er war auch echt groß. Sogar größer und breiter als Roman.

Roman rührte sich nicht.

»So ist's gut«, sagte der Mann. »Jetzt – langsam – die Hände nach vorne ausstrecken, Handflächen aneinander. Los. «

Der Befehlston zusammen mit dem Druck der Mündung an seinem Kopf war zu viel. Es beschwor den Lärm von knatterndem Artilleriefeuer aus seiner Erinnerung wieder herauf. Langsam hob er die Arme von seinen Knien und streckte sie mit aneinandergelegten Handflächen vor sich aus. Der Mann fesselte sie mit Kabelbinder.

»Jetzt deine Füße. Nach vorne ausstrecken, die Knöchel aneinander.«

Auch sie wurden mit einem Kabelbinder gefesselt.

Dann steckte der Mann die Pistole weg und tastete Roman ab. Er war so nah, dass Roman seine schlaffen Wangen, das vernarbte Gesicht und das schütter werdende graue Haar erkennen und Bier in seinem Atem riechen konnte. Auf Roman wirkte es, als wäre der Mann innerlich tot. Er hatte eine Leere an sich, die Roman schaudern ließ.

Der Mann fand Romans Waffenholster und nahm ihn ihm ohne ein Wort ab. Dann hievte er Roman ächzend hoch und warf ihn sich über die Schulter. »Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort, Mann«, sagte er ausdruckslos. Doch er klang nicht, als täte es ihm leid.

In der Hütte lief der Mann mit Roman über der Schulter eine mit Teppich ausgelegte Treppe hinunter. Er zog eine Tür auf und schleuderte Roman brutal in ein kleines Badezimmer ohne Fenster. Weil er sich nicht mit Beinen oder Armen abfangen konnte, fiel Roman mit dem Gesicht voran zu Boden und seine Stirn schlug seitlich gegen die Badewanne. Der Mann schloss die Tür und klemmte etwas unter die Klinke, damit man sie nicht mehr öffnen konnte.

Roman drehte die Hüften, bis er sich richtig hinlegen konnte. Blut rann ihm in die Augen. Er bezweifelte, dass er schlimm verletzt war. Kopfwunden bluteten immer sehr stark. Aber er steckte durchaus in Schwierigkeiten.

Er hätte Lance eine Nachricht schreiben oder über Funk kontaktieren sollen, bevor er zum See gefahren war, damit Lance gewusst hätte, wo er hinwollte. Oder, wenn schon nicht davor, dann doch in dem Moment, als er sich sicher war, dass der Geländewagen den beiden Männern gehörte. Doch das hatte er nicht. Er hatte einen Fehler gemacht. Und jetzt wusste niemand, wo er war.

Mein Wagen steht noch draußen.

Wenn die Männer nicht dumm waren, würden sie das Auto allerdings wegfahren und irgendwo außer Sichtweite verstecken. Roman glaubte nicht, dass sie dumm waren. Nein, er war hier der Dumme. Er hatte wieder Mist gebaut. Und jetzt war er hilflos, genauso hilflos wie in diesem Zwinger damals.

Gefangen.