3. Kapitel

Ein paar Stunden nach Sonnenuntergang umgab eine allumfassende Dunkelheit das fremde Haus. Nicht einmal der Mond war zu sehen. Alva Dohrmann fühlte Beklemmung in sich aufsteigen. Sie lag in dem Bett ihres Ferienhauses und lauschte. Ein Auto näherte sich auf der Landstraße. Das Scheinwerferlicht malte wandernde Lichter an die Decke der Kate und verschwand wieder. Alva Dohrmann hörte, wie sich der Wagen in Richtung der Ortsmitte von Stüvensee entfernte. Nach einer Weile vernahm sie das Motorengeräusch eines zweiten Autos. Doch dieses verlangsamte anscheinend seine Fahrt. Sie lauschte angestrengt, aber sie hörte nichts mehr.

Sie konnte nicht einschlafen, obwohl sie eben, als sie im Wohnzimmer gesessen hatte, todmüde gewesen war. Und sie fühlte ein nagendes Verlangen, das nur ein kleiner Drink beseitigen konnte. Irgendwo in dem fremden Haus gab es bestimmt eine Flasche Wein oder Sekt. Vielleicht auch etwas Stärkeres? Nicht, dass sie normalerweise Schnaps und dergleichen trank. Aber zur Not … Sie musste nur kurz aufstehen und danach suchen.

Doch Alva Dohrmann blieb im Bett liegen. Die frische Bettwäsche raschelte bei jeder ihrer Bewegungen. Sie roch dezent nach Lavendel und Seife. Alva Dohrmann drehte sich auf die andere Seite, schloss wieder die Augen. Doch ihre Gedanken kreisten unverwandt um diesen »Schlummertrunk«, wie sie es für sich nannte. Hatte sie sich nicht etwas zur Beruhigung verdient? Der Wunsch wurde drängender, zerrte an ihren Nerven.

Eigentlich war Alva Dohrmann mit dem festen Vorsatz in den Urlaub gefahren, an der Ostsee keinen Tropfen Alkohol anzurühren. Doch nachdem sie bei ihrer Ankunft vorhin einen Brief ihrer Vermieterin auf dem Küchentisch gefunden hatte, sah die Sache schon etwas anders aus. Linn Aubach hatte sie darin überraschend und auch übergriffig gebeten, regelmäßig die Koi-Karpfen im Teich hinter dem Haus zu füttern. Davon war in dem Gespräch per Videochat, das Linn Aubach und sie wegen der Vermietung des Ferienhauses geführt hatten, nie die Rede gewesen. Sie wusste zwar, dass dies ein Privathaus war, doch mit »Haustieren« hatte sie nicht gerechnet.

Alva Dohrmanns erster Impuls beim Lesen des Briefes war gewesen, sich rundheraus zu weigern und so zu tun, als hätte sie den Brief gar nicht gefunden. Was unglaubwürdig wäre, denn er hatte bei ihrer Ankunft mitten auf dem Küchentisch gelegen, beschwert von einer Blumenvase mit einem bunten Tulpenstrauß darin. Erschwerend kam hinzu, dass solche Fische, Kois, angeblich sehr teuer waren. Und ihre Vermieterin war anscheinend Juristin. Da musste sie vorsichtig sein. Vielleicht war der Urlaub in einem privaten Ferienhaus doch nicht ihre beste Idee gewesen? Doch die Ostseeküste war schon so gut wie ausgebucht gewesen, bis auf diese Kate.

Jetzt brauchte Alva Dohrmann jedenfalls etwas zu trinken, sonst würde sie nie einschlafen können! Sie setzte sich im Bett auf und schaltete das Licht ein. Es war kurz nach elf. Das Schlafzimmer in dem alten Haus sah fremd und ein bisschen zu kahl aus. Grau gestrichene Wände, ein Doppelbett aus gelaugtem Holz, ein Stuhl, eine Kommode, ein Flickenteppich auf den Dielen, nicht einmal Vorhänge vor den zwei Sprossenfenstern.

Sie schwang die Beine aus dem warmen Bett und zog eine lange Strickjacke über ihr Schlafshirt. Die Sohlen ihrer Flipflops klatschten auf den harten Boden, als sie in die Wohnküche ging. Ihre Zehen krümmten sich vor Kälte, und sie schlang die Arme um ihren Körper. Nun war sie froh, dass sie hier vorhin das Licht der extravaganten Stehlampe mit den drei nackten Leuchtmitteln hatte brennen lassen. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie damit von außen wie ein Frosch in einem beleuchteten Terrarium zu sehen war. Was Unsinn ist, schalt sie sich. Die Kate war von drei Seiten von Garten umgeben, dessen Grenzen dicht mit Büschen und Bäumen bewachsen waren, und die zwei Fenster, die über der Küchenzeile zur Straße hinausgingen, lagen tief unter dem Reetdach und unterhalb des Straßenniveaus, sodass sie keine Zuschauer zu fürchten hatte. Am Rande dieses Dorfes, Stüvensee, also am Ende der Welt, schon gar nicht.

Alva Dohrmann öffnete systematisch die Küchenschränke. Das innerliche Ziehen, das Verlangen nach etwas Alkoholischem, wurde stärker. Nichts. Sie schaute auch hinter Stapel von Geschirr und Vorratspackungen, wohl wissend, dass manche Leute ihren Alkohol versteckten.

Ein leises, kratzendes Geräusch ließ sie aufmerken. Alva Dohrmann verharrte in der Bewegung, die Schranktür noch in der Hand.

Kam es von drinnen oder draußen? Das Haus war exzellent renoviert. Trotzdem war es nicht ausgeschlossen, dass eine Maus hereingehuscht war, als sie vorhin länger die Terrassentür hatte offen stehen lassen. Das war dumm von ihr gewesen. Oder lebten etwa Tiere auf dem Dachboden oder im Reet? Wieder hörte sie dieses Geräusch. Doch es kam nicht von oben, sondern eher aus Richtung der Terrassentür. Eine Gänsehaut überzog Alva Dohrmanns Arme, als sie sich langsam umdrehte.

Die Ecken des Eingangsbereichs mit der Wohnküche und dem Esstisch lagen im Schatten. Die Treppe, die ein halbes Stockwerk tiefer ins Wohnzimmer führte, mündete in absolute Dunkelheit.

Wahrscheinlich hatte der Wind nur einen Zweig gegen eines der Fenster scharren lassen. Aber es war windstill … Eine Seltenheit, so nah an der Küste. Alva Dohrmann stand reglos da, bewegte nur die Augen, suchte den Raum nach der Herkunft des Geräusches ab. Sie wusste nicht, wieso, aber sie war auf einmal der Überzeugung, nicht mehr allein zu sein.

Als sie eine Bewegung, einen Schatten, hinter einer der Scheiben sah, machte ihr Herz einen Satz und begann, heftig zu schlagen. Es war die verglaste Tür hinter dem Esstisch, die auf die Terrasse hinausführte. Das eben konnte alles Mögliche gewesen sein. Ein Vogel, eine Fledermaus, ein langer Zweig womöglich. Doch dazu war der Schatten zu groß gewesen. Tief in ihrem Inneren war sie bereits davon überzeugt, dass sich ein menschliches Wesen vor dem Fenster bewegt hatte.

Ein Mensch, der auf das Grundstück gekommen war – um was zu tun? Um hier einzubrechen? Sie schauderte erneut. Wahrscheinlich hatte sich Linn Aubachs Abreise herumgesprochen. Womöglich dachte nun jemand, die Kate sei unbewohnt. Doch hier gab es ihres Wissens nichts Wertvolles außer einem Kaffeevollautomaten und einem Flachbildfernseher. Tja, das reichte womöglich schon. Und vielleicht waren die hässlichen grau-schwarzen Bilder an den Wänden wertvoll? Ein Haus ohne Gardinen, Rollos oder Vorhänge, das musste ja Spinner anlocken!

Gegen Alva Dohrmanns Theorie von dem Einbrecher, der die Fischerkate im Augenblick für unbewohnt hielt, sprach, dass ihr Auto seit heute Nachmittag im Carport parkte. Ein nächtlicher Besucher konnte davon ausgehen, dass das Haus bewohnt war. Doch ihre Anwesenheit schien denjenigen nicht daran zu hindern hineinzuschauen. Da sie im Licht stand und der- oder diejenige in der Dunkelheit, war sie von draußen gut sichtbar.

Alva Dohrmann gelang es, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Sich so weit zu bewegen, dass sie die Küchenschublade mit den Kochwerkzeugen aufziehen konnte. Beinahe lautlos glitt die Lade auf, enthüllte eine Reihe von Kochmessern in einer Buchenholzablage. Mit zitternder Hand griff Alva Dohrmann nach dem schwarzen Griff des größten Messers. Es lag schwer, aber gut ausbalanciert in ihrer Hand.

Einen Moment stand sie unschlüssig da. Das Messer in der kalten Hand gab ihr so viel Sicherheit, dass sie glaubte, nicht gleich den Verstand zu verlieren. Sollte sie ans Fenster gehen und hinausschauen, ob tatsächlich jemand dort draußen war? Dazu müsste sie erst mal das Licht löschen. Oder sollte sie zu ihrem Auto laufen und wegfahren? Viele Unglücke geschahen, weil die Menschen sich zu lange einredeten, sie seien nicht in Gefahr. Man sollte doch seinem Bauchgefühl vertrauen.

Aber nein, sie würde das Ferienhaus nicht verlassen. Zwischen der Haustür und dem Carport lagen dreißig Meter nächtliche Dunkelheit. Das Haus war massiv gebaut, Fenster und Türen neu und von guter Qualität. Zur Not, falls es zum Äußersten kam, könnte sie sich im Schlafzimmer einschließen und Hilfe herbeirufen. Doch wo war ihr Telefon?

Es lag noch auf dem Nachttisch. Sie hatte sich ja nur schnell ein Glas Wein oder Ähnliches ans Bett holen wollen.

Mit steifen Beinen tappte Alva Dohrmann zurück ins Schlafzimmer. Sie schloss sorgfältig die Zimmertür ab. Gern hätte sie noch das Fenster zugehängt, doch da war nichts. Nicht einmal eine Stange oder zwei Haken, über die sie ein Badelaken hätte hängen können.

Die Klinge von ihr wegzeigend, legte sie das Messer neben ihr Handy auf den Nachttisch, setzte sich ins Bett und zog die Decke hoch. Ihr Herz klopfte immer noch heftig. Alva Dohrmann zitterte, teils vor Kälte und teils vor Anspannung. Jeder Muskel ihres Körpers schien verkrampft zu sein. Sie würde in dieser Nacht kein Auge zutun.

Unruhig blickte sie in dem kleinen Raum umher. Sich der Schwärze hinter der Scheibe und ihrer eigenen Sichtbarkeit wohl bewusst, griff Alva Dohrmann zum Lichtschalter und löschte das Licht. Der einzige Lichtschein, der noch zu erkennen war, war der, der aus dem Wohnbereich unter der Tür hindurchfiel, sowie ein schwacher Schein des Nachthimmels, zwischen Zweigen und Blättern hindurch.

Was genau hatte sie da draußen gesehen? Hätte sie getrunken, würde sie davon ausgehen, dass sie sich die Bedrohung nur eingebildet hatte. Ein kratzendes Geräusch, ein wandernder Schatten, der sogleich wieder verschwunden war, das konnte alles Mögliche bedeuten. Doch sie war absolut nüchtern.

Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Auch das Zittern ließ nach, als die Luft zwischen Bettdecke und Matratze wieder mit ihrer Körperwärme erfüllt war. Ihre Lider wurden allmählich schwer.

Da hörte sie ein leises, verstohlenes Geräusch, direkt vor dem Haus. Wie Kies, der unter Füßen knirscht. Sie fuhr hoch, krabbelte aus dem Bett in Richtung Fenster und sah gerade noch etwas Weißes, das weiter hinten zwischen den Büschen verschwand.